Bernhard Schlink: Olga

Eine Frau, die kämpft und sich findet, ein Mann, der träumt und sich verliert

Olga
Im Warenkorb
Download Bilddatei
Kaufen

Kaufen bei

  • amazon
  • bider und tanner
  • buchhaus.ch
  • ebook.de
  • genialokal.de
  • HEYN.at
  • hugendubel.de
  • kunfermann.ch
  • lchoice (nur DE/AT)
  • orellfuessli.ch
  • osiander.de
  • Schreiber Kirchgasse
  • thalia.at
  • thalia.de
  • tyrolia.at

Die Geschichte der Liebe zwischen einer Frau, die gegen die Vorurteile ihrer Zeit kämpft, und einem Mann, der sich mit afrikanischen und arktischen Eskapaden an die Träume seiner Zeit von Größe und Macht verliert. Erst im Scheitern wird er mit der Realität konfrontiert – wie viele seines Volks und seiner Zeit. Die Frau bleibt ihm ihr Leben lang verbunden, in Gedanken, Briefen und einem großen Aufbegehren.

Mehr zum Inhalt

Ein Dorf in Pommern am Ende des 19. Jahrhunderts. Olga ist Waise, Herbert der Sohn des Gutsherrn. Sie verlieben sich und bleiben gegen den Widerstand seiner Eltern ein Paar, das immer wieder zueinander findet, auch als Olga Lehrerin wird und er zu Abenteuern nach Afrika, Amerika und Russland reist. Vom Kampf gegen die Herero zurückgekehrt, voller Träume von kolonialer Macht und Größe, will er für Deutschland die Arktis erobern. Seine Expedition scheitert, und die Bemühungen zu seiner Rettung enden, als der Erste Weltkrieg ausbricht. Olga sieht ihn nicht wieder und bleibt ihm doch auf ihre eigene Weise verbunden.

Erzählt wird die Geschichte einer starken, klugen Frau, die miterleben muss, wie nicht nur ihr Geliebter, sondern ein ganzes Volk den Bezug zur Realität verliert. Es wird die Frage ihres Lebens: Warum denken die Deutschen zu groß? Wieder und wieder?


Hardcover Leinen
320 Seiten
erschienen am 12. Januar 2018

978-3-257-07015-6
€ (D) 24.00 / sFr 32.00* / € (A) 24.70
* unverb. Preisempfehlung
Auch erhältlich als

Leseprobe

Erster Teil

»Sie macht keine Mühe, am liebsten steht sie und schaut.«

Die Nachbarin, bei der die Mutter die Tochter abgab, mochte es erst nicht glauben. Aber so war es. Das Mädchen, ein Jahr alt, stand in der Küche und sah eines nach dem anderen an, den Tisch mit vier Stühlen, die Anrichte, den Herd mit Pfannen und Kellen, das Spülbecken, mit einem Spiegel darüber zugleich das Waschbecken, das Fenster, die Vorhänge, zuletzt die Lampe, die von der Decke hing. Dann machte es ein paar Schritte und stand in der offenen Tür zum Schlafzimmer und sah auch hier alles an, das Bett, den Nachttisch, den Schrank, die Kommode, das Fenster und die Vorhänge, zuletzt wieder die Lampe. Es schaute interessiert, obwohl die Wohnung der Nachbarin nicht anders geschnitten und kaum anders möbliert war als die der Eltern. Als die Nachbarin dachte, nun habe das kleine, stumme Mädchen alles gesehen, was es in der Zweizimmerwohnung – das Klo war im Treppenhaus – zu sehen gab, half sie ihm auf einen Stuhl am Fenster.
Das Viertel war arm, und hinter jedem der hohen Häuser kamen ein enger Hof und noch ein Haus. Die schmale Straße war voll mit den vielen Menschen aus den vielen Häusern, der Straßenbahn, Karren, aus denen Kartoffeln und Gemüse und Früchte verkauft wurden, Männern und Frauen, die aus Bauchläden Tand und Zigaretten und Zündhölzer verkauften, Jungen, die Zeitungen verkauften, Frauen, die sich verkauften. An den Ecken standen Männer und warteten auf eine Gelegenheit, irgendeine Gelegenheit. Alle zehn Minuten zogen zwei Pferde einen Wagen über die Schienen, und das kleine Mädchen klatschte in die Hände. 

Auch als es älter wurde, wollte das Mädchen stehen und schauen. Nicht dass es sich mit dem Gehen schwergetan hätte, es ging gewandt und sicher. Es wollte beobachten und verstehen, was um es herum geschah. Seine Eltern redeten kaum miteinander und kaum mit ihm. Dass das Mädchen Worte und Begriffe hatte, verdankte es der Nachbarin. Sie sprach gerne und viel, konnte nach einem Sturz nicht mehr arbeiten und sprang oft für die Mutter ein. Wenn sie mit dem Mädchen das Haus verließ, konnte sie nur langsam gehen und musste immer wieder stehen bleiben. Aber sie redete über alles, was es zu sehen gab, erklärte und beurteilte und belehrte, und das Mädchen konnte nicht genug hören, und das langsame Gehen und viele Stehenbleiben war ihm recht.

Die Nachbarin fand, das Mädchen solle mehr mit anderen Kindern spielen. Aber in den dunklen Höfen und Hausfluren ging es rauh zu, wer sich behaupten wollte, musste kämpfen, und wer nicht kämpfte, wurde drangsaliert. Die Spiele der Kinder waren eher eine Vorbereitung auf den Daseinskampf als ein Vergnügen. Das Mädchen war nicht ängstlich oder schwächlich. Es mochte die Spiele nicht.
Es lernte lesen und schreiben, noch ehe es in die Schule kam. Die Nachbarin wollte es ihm zunächst nicht beibringen, damit es sich in der Schule nicht langweile. Aber dann tat sie es doch, und das Mädchen las, was es bei ihr fand, Grimms Märchen, Hoffmanns 150 moralische Erzählungen, die Schicksale der Puppe Wunderhold und Struwwelpeter. Lange las es im Stehen, an die Anrichte oder an die Fensterbank gelehnt.

Jetzt online weiterlesen