Editorische Notiz
›Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann‹ von János Székely

von Silvia Zanovello

Dem Nachwort von Sacha Batthyany sowie der Erinnerung von Katherine Frohriep ist nur wenig hinzuzufügen. Da sie die Geschichte des Fundes dokumentiert und erzählt haben, soll hier vor allem auf die Beschäftigung mit dem Text des vorliegenden Romans eingegangen werden.
Zum ersten Mal davon gehört haben wir bei Diogenes Anfang 2020, als Katherine Frohriep, die Tochter von János Székely, im Verlag anrief und erzählte, dass ein alter Freund von ihr – Tony Kahn – beim Aufräumen in seinem Haus in Cape Cod ein Manuskript ihres Vaters gefunden und ihr geschickt habe. Ob sie es uns zeigen könne.
Der Diogenes Verlag vertritt die Weltrechte von János Székely. Einem internationalen Publikum ist er heute vor allem als der Autor des Weltbestsellers Verlockung bekannt. Natürlich waren wir gespannt zu sehen, was da entdeckt worden war. War es vollständig? War es zu Recht vergessen, oder war es vielleicht gar Weltliteratur – wie Verlockung?
Wir reisten also zu Katherine Frohriep, um das aufgefundene Typoskript in Empfang zu nehmen: eine mit Kohlepapier angefertigte Durchschrift auf dünnem Durchschlagpapier von insgesamt 710 Seiten. Auf dem Deckblatt steht als Autorenname das Pseudonym John Pen, darunter handschriftlich und in Klammern János Székely. Titel: A NIGHT /That Began 700 Years Ago. Darunter: Translated from the Hungarian / By Frank Gaynor. Ab Seite zwei folgt der Romantext auf Englisch. Auf der letzten Seite steht unter dem letzten Satz: The End.
Also kein ungarisches Original. Aber ein vollständiger Roman – in englischer Übersetzung.
Dem Verlag fiel nun die Aufgabe zu, den Text zu prüfen, das heißt, den Roman zu lesen und ihn ins Werk einzuordnen. Er erzählt – wie schon der Roman Verlockung, zum Teil mit ähnlichem Wortlaut – von Armut und Verfolgung sowie vom unbedingten Überlebenswillen der Figuren. Er erzählt – wie Székelys 1943 erschienene Novelle You Can’t Do That to Svoboda – von einem Mikrokosmos an Lebenskünstlern und Rebellen, Mitläufern und Profiteuren in einem typisch mitteleuropäischen Dorf zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Und er erzählt mit großer Empathie von Diskriminierung und Hunger. Der Roman ist ein groß angelegtes, facettenreiches Gesellschaftspanorama. Nach der Lektüre war also klar: Dieses Werk ist es wert, veröffentlicht zu werden.
Und so begann die Suche nach dem ungarischen Original. Kati Frohriep ließ ihre Familienangehörigen sowie die nächsten Freundinnen ihrer 2009 verstorbenen Mutter die Dachböden und Keller durchsuchen, während im Petöfi-Literaturmuseum in Budapest Nachforschungen liefen, ob sich dort, wo der literarische Nachlass des Autors aufbewahrt wird, eine Spur finden würde – aber überall hieß es: Nein. Nichts.
Die englische Übersetzung war also das Original, von dem wir auszugehen hatten, deshalb versuchten wir nun den Übersetzer Frank Gaynor bzw. dessen Rechtsnachfolger ausfindig zu machen. Aus einem kurzen Nachruf, der am 20. Februar 1961 in der New York Times erschienen ist, erfährt man: Geboren ist Frank Gaynor 1902, gestorben am 19. Februar 1961 in Peekskill (New York). Frank Gaynor war Autor, Übersetzer und Lektor ungarischer Herkunft und Muttersprache. Er verfasste enzyklopädische Texte und übersetzte Sachbücher aus dem Deutschen ins Englische. Wir erkundigten uns an Frank Gaynors letztem Wohnsitz in Peekskill, wo es, wie überall in den usa, zwar kein Einwohnermeldeamt gibt, dafür aber die Feuerwehr seinen Namen unter ihren Ehrenmitgliedern auf listet, sowie bei den Verlagen, für die Frank Gaynor als freier Übersetzer gearbeitet hat. Trotz all unserer Anstrengungen konnten Frank Gaynors Rechtsnachfolger nicht ermittelt werden.
Aus dem Ungarischen sind, abgesehen von dem vorliegenden Fund, keine Übersetzungen von ihm bekannt. Es ist denkbar, dass János Székely die Übersetzung gesehen und gegengelesen hat, denn beides, verschollenes Original und Übersetzung, stammen aus derselben Zeit, die grob mit den Fünfzigerjahren umrissen werden kann.
Mit dieser Entstehungszeit hat auch die Verwendung des Begriffs »Zigeuner« zu tun. Die einen oder anderen Leserinnen und Leser werden sich wundern, dass wir 2023 in einer neuen deutschen Übersetzung dieses Wort verwenden, das heute aus gutem Grund nicht mehr im Sprachgebrauch zu finden ist. Die Bezeichnung entspricht dem Wort gypsyin der englischen Übersetzung – und dem ungarischen cigány, das Székely mit großer Wahrscheinlichkeit im ungarischen Original verwendet hat (wie es schon im Roman Verlockung der Fall war). Es ist leider nicht möglich, in diesem Buch auf eine andere Bezeichnung auszuweichen, da nirgends im Text ersichtlich wird, welcher Volksgruppe die entsprechenden Figuren angehören. Waren es Roma? Lovara? Wir können es nicht wissen. Deshalb und im Vertrauen darauf, dass die Leserinnen und Leser den historischen Kontext der erzählten Zeit (1944) sowie der Entstehungszeit des Romans (die Fünfzigerjahre) mitdenken, hat der Verlag die Bezeichnung »Zigeuner« beibehalten. Bei der Lektüre des Romans ist zudem unschwer zu erkennen, für wen das Herz des Autors schlägt: für die Mittellosen und Vertriebenen.
Sowohl die englische wie auch die vorliegende deutsche Übersetzung wurden von der Herausgeberin in Zusammenarbeit mit Katherine Frohriep überarbeitet. Zudem hat die Schriftstellerin und Übersetzerin Christina Viragh den Verlag in Fragen ungarischer Idiomatik beraten.
Nach all den Irrungen und Wirrungen, die dieses Werk mitgemacht hat, nach all den Fragen, die sich zu seiner Entstehung stellen und die bis heute unbeantwortet sind, nach all den Recherchen in Archiven und Nachlässen schauen wir nun in die Zukunft und freuen uns, dass die Nacht dieses Romans nicht 700, sondern nur 70 Jahre gedauert hat und er nun endlich das Licht der Welt erblicken darf.

Silvia Zanovello
Zürich, im Frühling 2023