Nachwort
›Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann‹ von János Székely

›Eine Reise, die vor 70 Jahren begann‹ von Sacha Batthyany

An einem sonnigen Januarmorgen im Jahr 2020 beschloss der Amerikaner Tony Kahn, seine Kartonschachteln auszumisten. Er hatte es sich schon so oft vorgenommen, aber immer irgendwelche Gründe vorgeschoben, bis er an jenem Tag etwas widerwillig auf den Dachboden seines Ferienhauses in Truro, Cape Cod, stieg und vor seinen 137 Kisten stand, Türme aus Karton, die er im Scherz mit der Skyline New Yorks verglich.
Tony Kahn war lange Zeit Übersetzer russischer Dichter, später verfasste er etliche Stücke für Radio und Fernsehen sowie fürs Theater. Sein ganzes Arbeitsleben steckte in diesen Schachteln, und jedes Mal, wenn er eine neue öffnete und sich durch die Skripts wühlte, Tonnen von Papier, flatterten Erinnerungen hoch, Schmetterlinge aus der Vergangenheit, längst vergessene Orte, vergilbte Fotos verstorbener Menschen, die ihm einst nahestanden. Bis er ein Manuskript in den Händen hielt, das ihm bekannt vorkam: 710 Seiten, auf dünnem Durchschlagpapier.
John, schoss es ihm durch den Kopf. Meine Güte, John! Es gibt unwirtlichere Orte, in Vergessenheit zu geraten, als Cape Cod, Massachusetts, diese schmale Sichel im Atlantik, ewiger Wind, der den Sand in die Häuser trägt, die in Truro weniger protzig sind als im nahen Hyannis Port, wo die Kennedys leben und sich die Kinder der Bostoner Anwälte im Segeln messen.
In Truro hingegen sieht man viele Schriftsteller und Künstler, Edward Hopper verbrachte seine Sommer hier und malte Menschen, die aus Fenstern blicken und auf etwas warten, das nicht mehr kommt, Bilder, die die Geschichte dieses Landes auf einen Wimpernschlag verdichten. »Johns« Manuskript, János Székelys vergessener letzter Roman über ein ungarisches Dorf, war hier gut aufgehoben.
Kahn nahm den Karton, setzte sich ins Wohnzimmer und wählte eine Schweizer Nummer, worauf es kurze Zeit später in der Küche eines unscheinbaren Einfamilienhauses am Ende einer schmalen Straße klingelte. In Walenstadt, St. Gallen.
»Ich habe einen Roman deines Vaters gefunden«, sagte Tony, »soll ich ihn dir schicken?«
Ein paar Tage später lag das Paket aus Amerika bereits im Schweizer Briefkasten von Katherine Frohriep, Székelys einziger Tochter. Und so endete die verschlungene Reise dieses Manuskripts, die vor siebzig Jahren höchstwahrscheinlich in Mexiko begann. János Székely, von allen John genannt, war damals mit seiner Frau und seiner Tochter nach Cuernavaca emigriert. Hier freundete er sich mit Gordon Kahn an, Tonys Vater.
»Die Jahre in Cuernavaca waren wie im Paradies«, sagt Tony Kahn heute. Aus der Sicht der Kinder war der Ort ein einziger Abenteuerspielplatz voller exotischer Pflanzen, herumirrender Hühner und mexikanischer Wrestler hinter furchteinflößenden Masken, deren Gebärden die Buben auf staubigen Straßen imitierten.

Die Eltern hingegen, die Székelys und Kahns und all die anderen Drehbuchschreiber, Regisseure und Schauspieler aus Hollywood, die hier Zuflucht fanden, lebten unter ständiger Angst, von den amerikanischen Behörden verfolgt zu werden: Es waren die Fünfzigerjahre, es war die Zeit der Hexenjagd unter Senator Joseph McCarthy in den USA. Ein Mann wie János Székely, eben noch gefeierter Oscar-Gewinner für sein Drehbuch zu Arise, My Love, galt plötzlich als Volksfeind.
Das sogenannte Komitee für unamerikanische Umtriebe (HUAC), gegründet während des Zweiten Weltkriegs, um die USA vor einer Unterwanderung durch den Nationalsozialismus zu schützen, sah nach 1945 im Kommunismus den wahren Feind. Die Angstmacherei in Amerika hat eine lange Tradition, die bis heute währt – wer Feinde definiert, schafft Identität.
»Der Kommunismus ist wie eine Krankheit, die zur unkontrollierbaren Epidemie wird«, sagte der damalige Chef des FBI, J. Edgar Hoover, der so mächtig war, dass er gleich acht Präsidenten politisch überlebte, und der in der Nachkriegszeit die aufstrebende Unterhaltungsindustrie Hollywoods ins Visier nahm. Die Drehbuchschreiber wurden bezichtigt, rotes Gedankengut über die Leinwand zu verbreiten und den American Way of Life zu gefährden.
Hoover schürte die Verschwörungstheorie vom roten Feind, der sich im Inneren des Landes wie ein Virus ausbreite, und schuf sich im Windschatten der aufgeblähten Panik über die kommunistische Infiltration seinen eigenen Überwachungsstaat, legte ein Aktenmeer an, nicht nur von Hollywood-Autoren und Schauspielern, auch von Politikern und politischen Gegnern.
Jeder Freund galt plötzlich als möglicher Spion. Wo Angst gesät wird, gedeiht Hass, Nachbarn wurden denunziert und Mitarbeiter entlassen – ein Verdacht genügte, und man hatte am nächsten Tag ein Auto des FBI vor der Haustür, in dem Beamte in kurzen Hemden Filterkaffee tranken und den Müll durchsuchten. Wer es wagte, Hoover oder McCarthy als Kommunistenjäger zu kritisieren – wie Arthur Miller oder Thomas Mann, der damals im amerikanischen Radio von Inquisition sprach – , fiel in Ungnade.
»Sie waren nicht so schlecht wie die Nazis«, meinte Bertolt Brecht über das Komitee für unamerikanische Umtriebe, das ihn 1947 zu einer Anhörung vorlud. »Die Nazis hätten mich niemals rauchen lassen.«
Bertolt Brecht verließ die usa und kam nicht auf die berüchtigte Schwarze Liste Hollywoods. In einem medialen Schauprozess wurden zehn Drehbuchschreiber und Produzenten zu Gefängnisstrafen verurteilt, die Hollywood Ten, darunter Männer wie Dalton Trumbo oder Albert Maltz, denen nachgesagt wurde, mit der Kommunistischen Partei zu sympathisieren; Hunderte Filmschaffende verloren ihre Lebensgrundlage, weil sich die Hollywood-Studios dem Druck der Politik beugten und sie nicht weiterbeschäftigten. Auch Székely verließ die usa. Ob er überwacht wurde, ist unklar. In den Verhören der Hollywood Ten, die zu Teil öffentlich zugänglich sind, erscheint sein Name nicht. Er stand weder auf der Schwarzen Liste, noch war er in der Partei, aber er war Idealist, ein wenig naiv vielleicht – und manchen Ideen des Sozialismus nicht abgeneigt, für die man in Amerika unter McCarthy bereits als Verräter galt. Dabei hatte ihn das Land so gut aufgenommen.
Seit 1938 lebte Székely in New York mit seiner Frau Erzsi Bársony, einer ungarischen Schauspielerin, um deren Hand er telegrafisch angehalten hatte und die ihm in die USA nachgereist war. Im Dezember 1941 kam ihre Tochter Kati zur Welt. Die junge Familie wohnte zuletzt am Riverside Drive in Manhattan, nahe beim Hudson.

In seinen Jahren in den USA hatte es der junge Autor zu beachtlichem Erfolg gebracht, er war an mehreren Drehbüchern beteiligt, hatte einen Oscar gewonnen. Viel wichtiger aber waren ihm seine literarischen Werke, »nur auf die war er stolz«, sagt seine Tochter Kati rückblickend. 1943 erschien You Can’t Do That to Svoboda, das er unter seinem Pseudonym John Pen veröffentlichte und das in der Presse als Meisterwerk galt. »… seit Anatole France gab es keine vergleichbare Geschichte mehr …«, schrieb etwa die Herald Tribune am 21. März 1943.
Drei Jahre später wurde Verlockung als einer der großen Gesellschaftsromane der Zeit gefeiert. Das Buch erschien zuerst auf Englisch, erst später in Székelys Heimat, wo es wegen seines »amerikanischen Autors« John Pen schnell wieder aus den Läden verschwand. In den USA aber waren sich die Kritiker einig: »Eines steht außer Frage … die Kraft, Dynamik und die Leidenschaftlichkeit dieses umfangreichen Romans … ich war gefesselt«, hieß es in der New York Herald Tribune. Es war der Höhepunkt seines bisherigen Künstlerlebens, Székely wurde bereits mit Maxim Gorki und Émile Zola verglichen, doch wieder einmal zwangen ihn äußere Umstände, seine Koffer zu packen und neu zu beginnen – die Flucht ist der rote Faden in seiner Biografie.
Székely war achtzehn, als er Ungarn verließ. Nachdem die Räterepublik unter dem Kommunisten Béla Kun zusammengebrochen war, fürchtete er sich wahrscheinlich vor der Verfolgung durch den autokratischen Reichsverweser Miklós Horthy, dessen nationalistische und judenfeindliche Politik er vorhersah und die er später in seinem Roman Verlockung darstellte, und zog nach Berlin, wo er zunächst für eine Speditionsfirma arbeitete. Später verfasste er Drehbücher für Stummfilme mit Marlene Dietrich – so begann seine Karriere, die ihn in die Neue Welt brachte und wieder zurück.
Denn Hitlers Aufstieg trieb Székely, der seine jüdischen Wurzeln immer verschwieg, zu seiner zweiten Flucht. Dieses Mal reiste er in die usa, wo er sich bald John S. Toldy nannte, bald John Pen, und sich mit Drehbuchautoren aus Hollywood umgab, bis ihn die antikommunistische Hetze aus Amerika vertrieb und nach Mexiko führte, in eine hügelige Landschaft achtzig Kilometer von der Hauptstadt entfernt, von wo man an klaren Tagen den schneebedeckten Popocatépetl sieht.
In Cuernavaca traf er auf viele andere Filmschaffende, die sich wie er gezwungen sahen, die usa zu verlassen, Spielbälle des Kalten Kriegs, darunter Albert Maltz, einer der Autoren des Films Casablanca, und ein gewisser Gordon Kahn, Ungar wie Székely, dessen Söhne Jim und Tony mit Székelys Tochter Kati zur Schule gingen und die von den Einheimischen nur los Gringos genannt wurden. Hier mietete die Familie ein Haus mit großer Terrasse, auf dessen Terrakottaboden Székely rauchend hin und her lief, bis er jeweils nach einigen Wochen seine Frau zu sich bat, um ihr ein Kapitel zu diktieren.
John schrieb und feilte an seinen Sätzen im Kopf, und Erzsi brachte sie auf einer schwarzen Remington mit runden Tasten in ungarischer Sprache zu Papier.
Auf seiner mexikanischen Terrasse in Cuernavaca entstand wohl Székelys vergessener Roman über das fiktive ungarische Dorf Kákásd. Er hatte zwar keine Aussicht, in den USA veröffentlicht zu werden, dennoch schrieb er wie ein Besessener. »Pssst, Papa arbeitet«, waren die allerersten Worte seiner Tochter Kati gewesen, die nun auch nicht in den Pool durfte, wenn ihr Vater auf der Terrasse seine Wege ging. Abends besuchten ihn seine Autorenfreunde aus Hollywood, und man führte lange Gespräche. Die Exilanten waren hier zwar in einer paradiesischen Umgebung, hielten sich aber bedeckt. Hinter jedem Fremden wähnten sie einen Spitzel des FBI. Die Angst, die Mexikaner könnten sie nach Amerika abschieben, schwirrte mit in der heißen Subtropenluft. Zudem hatten sie Geldsorgen und Identitätskrisen: Was sind Autoren schon wert, wenn man sie nicht liest?
Es gab auch heitere Momente, gewiss, so erzählt es Tony Kahn, Gordons Sohn, der Székely als groß gewachsenen, charismatischen Mann beschreibt, der mit seiner tiefen Stimme ganze Tischrunden in den Bann zog. In den Häusern der Hollywood-Exilanten fanden Partys statt, schreibt auch Albert Maltz in A Citizen Writer in Retrospect, einem Buch über sein Leben als Autor und seine Zeit in der kommunistischen Partei.
Es hatte sich längst bis nach Kalifornien herumgesprochen, dass sich in den Hügeln Mexikos eine illustre Künstlerkolonie ansiedelte, Musiker und Poeten blieben ein paar Wochen und zogen weiter. Gut möglich, dass Székely in einer dieser Nächte auf die schwarze Feministin und Dichterin Audre Lorde traf, die ebenso in Cuernavaca lebte wie die Kriegsreporterin Martha Gellhorn, die sich hier von ihren Reisen und ein wenig auch von ihrem Ehemann erholte, von dem sie sich gerade getrennt hatte, einem gewissen Ernest Hemingway.
Fünf Jahre blieben die Székelys in Mexiko, ehe sie um 1955 zurück in die usa fuhren, so wie viele der anderen Autoren und Regisseure auch. Die Kolonie aus Hollywood löste sich auf und machte anderen Platz, Vagabunden und ersten Hippies, denen die usa zu eng wurden. Die antikommunistische Stimmung in den USA war nicht verschwunden, aber verebbt.
Als Senator McCarthy seine Ermittlungen auf hochrangige Militärs ausdehnte, geriet er in Ungnade, die Repression ließ nach, Amerika erinnerte sich plötzlich an seine Meinungsfreiheit, die unter der Hexenjagd gegen Andersdenkende vergessen gegangen war. Dalton Trumbo, vielleicht der bekannteste aller angeklagten Drehbuchautoren der Hollywood Ten, wurde rehabilitiert und feierte mit Exodus und Spartacus große Erfolge.Székely hingegen wollte zurück nach Ungarn. Mit einem Zwischenstopp in der DDR, wie er Kati bei einem Spaziergang in New York vor der Abreise mitteilte. Worauf ihm seine 14-jährige Tochter, die in New York geboren war, antwortete: »Ich hasse dich.«
Und dennoch befanden sie sich kurze Zeit später auf der Queen Mary nach Frankreich und reisten von dort mit dem Zug durch ein Deutschland, das die letzten Kriegstrümmer beiseitefegte und bereits vom Wirtschaftswunder sprach. Székelys ehemalige Sekretärin aus seiner Zeit bei der UFA in Deutschland hatte Verbindungen zur DEFA vermittelt, dem staatlichen Filmunternehmen der DDR in Potsdam-Babelsberg. Die Familie ließ sich deshalb in Ostberlin nieder, mit dem Plan, später weiter nach Ungarn zu ziehen.
Székely hoffte, in seiner ehemaligen Heimat mit offenen Armen empfangen zu werden. Zu einem Zeitpunkt, zu dem viele Menschen aus dem Osten in den Westen flüchteten, wollte er die umgekehrte Richtung einschlagen. Er blieb mit über fünfzig Jahren der Idealist, der er immer gewesen war. Die Unterdrückung und die Gewalt der kommunistischen Diktatur sah er nicht – oder wollte sie nicht sehen.

Unklar ist, was in dieser Zeit mit dem Manuskript passierte, das auf der mexikanischen Terrasse entstanden war. Hat er noch auf der Reise in die DDR dran gearbeitet? Gab er es jemandem zum Lesen?
Bei der Version, die Tony Kahn Jahrzehnte später auf seinem Dachboden in Truro wiederfand, handelt es sich um eine Übersetzung, doch wo ist das ungarische Original geblieben?
In den Briefen Székelys an seine Freunde, die sich heute im Petöfi-Literaturmuseum in Budapest befinden, ist nie die Rede von diesem Roman, in dem der Autor viele auto biografische Elemente verwob, Flucht und Verfolgung, Existenzängste und Ausgrenzung.
Wie konnte Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann so unbemerkt verschwinden?
Sicher ist, dass die Székelys den Aufstand der Ungarn gegen die sowjetischen Besatzer 1956 und den darauf folgenden Einmarsch russischer Panzer in Budapest aus der Ferne erlebten. Aber wie viel Székely von der blutigen Unterdrückung des Freiheitskampfes in seiner Heimat erfuhr und ob er sie guthieß, ist unklar. Gemäß den Schilderungen seiner Tochter hat Székelys Frau Erzsi Bársony alles getan, um ihren Mann, den sie vergötterte, von den politischen Verwerfungen und realen Entbehrungen des real existierenden Sozialismus abzuschirmen.
In seiner Berliner Zeit arbeitete Székely an Geschwader Fledermaus, einem Film über die Aussichtslosigkeit des französischen Kolonialkrieges in Vietnam. Aber da war er schon geschwächt und krank, eine Lunge war ihm entfernt worden, und er stieg nur mehr mit Mühe die Treppen hinauf in den dritten Stock des Clubs der Kulturschaffenden, wo die Familie nun wohnte.
Die Uraufführung des Films war für den 26. Dezember 1958 angesetzt, Székely, der so gut darin war, neu zu beginnen, der nur in seinen Büchern und als Autor zurückblickte, aber als Mensch nach vorne, starb zehn Tage davor an Krebs.

Alles, was Kati von ihrem Vater blieb, sind seine Bücher, sein Oscar, der bei ihr in Walenstadt auf dem Kaminsims steht, und ein handschriftlicher Gedichtband, den er ihr zu ihrem Geburtstag übergab, vierzehn Tage bevor er starb:
Baby, egyetlen!
Hát itt vannak a versek,
úgy ahogy kérted öket,
kinek lehetne több joga hozzájuk,
mint neked?

»Baby, mein einziges!«, schrieb Székely auf der letzten Seite: »Hier sind die Gedichte, wie du sie dir gewünscht hast, wer hätte mehr Recht darauf als du?
«Kati blieb nach dem Tod des Vaters in Berlin und wurde Schauspielerin. Sie debütierte am Theater als Anne Frank und erfuhr nach der Premiere aus der Zeitung, dass sie Jüdin war, was ihr bisher vorenthalten worden war. Warum ihr Vater seine jüdische Herkunft verschwiegen hatte, versteht sie bis heute nicht. »So viele offene Fragen«, sagt sie leise vor sich hin, »so wenig Antworten.«
Ihre Mutter Erzsi zog einige Jahre später nach Budapest, arbeitete als Lektorin in einem ungarischen Verlag, verwaltete das Erbe ihres Mannes und heiratete in zweiter Ehe den späteren Leiter der Parlamentsbibliothek in Budapest. Auf einer ihrer alljährlichen Reisen nach Amerika, es muss in den Siebzigerjahren gewesen sein, steckte sie das mittlerweile ins Englisch übersetzte Manuskript aus Mexiko in ihren Koffer und übergab es Tony Kahn, den sie aus Cuernavaca kannte. Damals war er noch ein Kind gewesen, mittlerweile arbeitete Tony als Übersetzer russischer Dichter wie Jewgeni Jewtuschenko und hatte Kontakte zu großen New Yorker Verlagen.
Tony Kahn erinnert sich heute, wie er das Manuskript überflog und alles dafür tun wollte, um Interesse für die sen Roman zu wecken. Denn er hatte John als Kind verehrt und die Zeit in Mexiko als magisch in Erinnerung, als fröhlich und geheimnisvoll zugleich, weil sie als Kinder spürten, dass sie zwar vor der politischen Verfolgung in Sicherheit waren und trotzdem jederzeit etwas Schlimmespassieren könnte.
Die Suche nach einem Verlag aber verlief im Sand. Irgendwann steckte Tony das Manuskript in eine Schachtel,stellte sie zu den anderen und vergaß sie.
So vergingen Jahre.
Erzsi Bársony hat Tony zwar öfter besucht, von dem Roman aber war nie mehr die Rede, bis sie 51 Jahre nach ihrem ersten Mann starb. Katherine Frohriep, die Tochter, wurde sechsfache Mutter und Psychotherapeutin, auch sie reiste immer wieder in die usa, wo sie geboren wurde. Als sie eines Tages ihren Kindern zeigen wollte, wo sie aufgewachsen war, Riverside Drive, Manhattan, ließ sie sich überreden, an ihrer ehemaligen Wohnungstür zu klopfen. Sie habe hier früher gewohnt, sagte sie den neuen Mietern entschuldigend, worauf die ihr entgegneten: »Sie müssen Kati sein.«
Ihr Vater, János Székely, hatte ihren Namen auf das Linoleum im Kinderzimmer geschrieben. Die Mieter hatten sich all die Jahre gefragt, wer wohl diese Kati sei, und sich ein Spiel daraus gemacht, Geschichten zu spinnen, was aus ihr geworden sei. So schließen sich Kreise.
Und Tony? Je älter er wurde, desto häufiger überkam ihn der Wunsch, seine Kartons zu sortieren, die zu einer Skyline anwuchsen und die er von einem Wohnort zum nächsten schleppte, bis sie auf dem Dachboden in Truro landeten, diesem von den Gezeiten geprägten Ort im Atlantik.
Mit 75 Jahren sei es höchste Zeit, Ordnung zu machen, dachte er sich eines sonnigen Januarmorgens 2020, stieg etwas hüftsteif und widerwillig auf den Dachboden, öffnete die Schachteln, schmiss weg, was er nicht mehr brauchte, nahm alte Fotos in die Hand und hing Erinnerungen nach, Schmetterlingen der Vergangenheit, bis er auf das Manuskript stieß: A Night That Began 700 Years Ago.
John, schoss es ihm durch den Kopf. Meine Güte, John!

Hier endet die Reise dieses verschollenen Romans, der vielleicht doch nicht verschollen war, denn als Kati Tonys Paket aufmachte und die ersten Seiten überflog, erinnerte sie sich plötzlich daran, die Geschichte dieses Romans zu kennen. Ihre Mutter hatte ihr einige Jahre nach dem Tod ihres Vaters einen Karton überreicht. Vaters letzter Roman, sagte Erzsi.
Damals, Anfang der Siebzigerjahre, las sie nur oberflächlich, im Februar 2020 hingegen ließ sie sich von der Geschichte in den Bann ziehen. Auf einmal war sie sich sicher, dass dieses Manuskript in ihrem Haus sein musste. Sie wusste nicht, wo, sie wusste nur – es ist da. Also fing sie an zu suchen, in den Schränken und Schubladen, und stellte alles auf den Kopf.
Als sie schon aufgegeben hatte, stieß sie Ende 2022 beim Aufräumen ihrer Bücher auf einen Widerstand hinten im Regal. Da lag diese Schachtel. Der Roman ihres Vaters. Es war eine Kopie der Version, die ihr Tony geschickt hatte. Székelys Roman war nie verschollen, er lag immer da, im Wohnzimmer zwischen all den anderen Büchern. Doch Kati hatte erst jetzt die Augen dafür.

Sacha Batthyany ist Autor und Journalist mit ungarischen Wurzeln. Er war USA-Korrespondent und lebte in Washington DC. Sein Buch ›Und was hat das mit mir zu tun?‹ , eine Aufarbeitung seiner Familiengeschichte, wurde in 17 Sprachen übersetzt.