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  • Amélie Nothombs ›Psychopompos‹ – Ein Roman, so eigenwillig und unnachahmlich wie seine Autorin

    Psychopompos ist ein autobiografisches Buch, in dem sich Amélie Nothombs Leidenschaft für Vögel offenbart. Durch die diplomatische Arbeit ihres Vaters lernte sie, ihr Nest dort zu bauen, wo die elterlichen Wanderungen sie absetzten, und entwickelte allmählich eine immer größere Leidenschaft für die Vögel, die sie von Japan über China und die USA bis nach Bangladesch beobachtete. Tauche mit der Leseprobe ein in Amélie Nothombs Welt.

    Foto von Mohamed Fsili auf Unsplash

    Leseprobe

    Auszug, S. 5-15

    Eines Tages sieht ein Stoffhändler weiße Kraniche vorüberziehen. Hingerissen von ihrer Schönheit, träumt er davon, einen Stoff zu finden, der so prächtig ist wie ihr Gefieder.
       Da kommt eine junge Frau von außergewöhnlicher Schönheit in sein Geschäft. Ihr langes, glattes Haar ist von glänzendem Schwarz, ihre Haut strahlend weiß, und den Rand ihrer Lippen zeichnet eine rote Linie, die eine noble Abkunft verrät. Das bestätigt auch ihr Gewand: ein Kimono vom seltenen Weiß hochgestellter Familien, dessen Ärmel bis auf den Boden hängen.
       Die geheimnisvolle Kundin kann sich nicht zu einem Kauf entschließen. Der Händler trägt ihr seine Hilfe an. Darauf sagt sie mit merkwürdig sanfter Stimme:
       »Heiraten Sie mich.«
       Verblüfft versucht er, mehr über sie zu erfahren. Wer sie sei? Warum sie ihn heiraten wolle? Doch sie schweigt hartnäckig.
       Am Ende denkt er, es wäre Unsinn, ein so schmeichelhaftes Angebot auszuschlagen, und hei­ratet das Fräulein, auch wenn es ihm ein Rätsel bleibt.
       Die Hochzeit verläuft ohne Zwischenfälle. Die Eheleute beginnen ihr gemeinsames Leben in heiterer Gelassenheit. Alles läuft bestens.
       Ein paar Tage später sagt die junge Frau:
       »Ich habe keine Hochzeitsgeschenke und keine Mitgift in die Ehe eingebracht. Wenn Sie mir eine Werkstatt zur Verfügung stellen, will ich einen wundervollen Stoff für Sie weben, unter der Bedingung, dass ich dort allein bin und niemand, nicht einmal Sie, mich besuchen kommen.«
       Der Mann ist einverstanden, und die Frau zieht sich jeden Tag für ein paar Stunden in ihre Werkstatt zurück. Nach einer Woche überreicht sie ihm, geschwächt von ihrer Arbeit, ein Gewebe aus einem undefinierbaren Material, wie er es noch nie zuvor gesehen hat, so schön und kostbar, dass es ihm den Atem raubt.
       »Was ist das? Wie haben Sie das gemacht?«, platzt es aus ihm heraus.
       Sie schlägt die Augen nieder und schweigt.
       »Gestatten Sie mir, ihn zu verkaufen?«
       »Er gehört Ihnen, Sie müssen mich nicht um Erlaubnis fragen.«
       Der Händler findet schnell einen Interessenten für den Stoff und erzielt einen exorbitanten Preis dafür.
       Die Wochen vergehen. Viele Kunden kommen zu ihm ins Geschäft und fragen nach dem sagenhaften Stoff, von dem sie gehört haben.
       Der Mann bittet seine Frau, noch einmal dieses Wunder zu vollbringen. Sie zieht sich wieder für eine Woche in ihr Atelier zurück und liefert dann, blass und abgemagert, einen Stoff, so prachtvoll wie das letzte Mal.
       Der Händler verkauft ihn zum doppelten Preis und ärgert sich, dass er nicht das Zehnfache verlangt hat. Dann fragt er seine Frau, ob sie nicht noch einmal ihre Spezialität herstellen kann.
       Sie lehnt nie ab, obwohl ihre Gesundheit sichtlich darunter leidet. Der Mann bemerkt es, aber seine Geldgier ist stärker. Die Leute rennen ihm die Türe ein, jeder will diesen einzigartigen Stoff haben.
       Bald verlässt die junge Frau kaum noch ihr Atelier. Tag und Nacht müht sie sich, das von ihrem Mann geforderte höllische Arbeitstempo einzu­halten. Dem entgeht nicht, dass sie immer dünner wird. Dass ihre jugendliche Schönheit verblasst, ihr Blick erloschen, ihre Haut grünlich und ihre Haare matt geworden sind. Er macht sich Sorgen, kann sich aber nicht dazu entschließen, etwas zu ändern. Um sich von der Schuld zu entlasten, redet er seine Ansprüche klein.
       Nach ein paar Monaten erkrankt die Frau, arbeitet aber nicht weniger. Der Mann hört sie husten. Sein Gewissen quält ihn.
       »Wenn ich ihr Atelier betreten dürf‌te, könnte ich ihr vielleicht helfen«, denkt er. Hätte er sich selbst durchschaut, wäre ihm klar geworden, dass er ei­gentlich das Geheimnis der Herstellung he­raus­finden will, bevor sie stirbt.
       Irgendwann hält er es nicht mehr aus und dringt in ihre Werkstatt ein. Was er sieht, lässt ihn auf der Stelle erstarren: Ein prächtiger weißer Kranich reißt sich mit dem Schnabel Federn und Daunen aus, die auf diese qualvolle Weise immer weniger werden, und steckt sie in den Webstuhl. Er leidet so sehr, dass er stöhnt, was er durch menschliches Husten zu verbergen sucht.
       Als die Kranichfrau den Voyeur entdeckt, stößt sie einen Entsetzensschrei aus und fliegt durch die geöffnete Tür davon. Ihrem verzweifelten Mann bleibt als letzter Trost, dass er sie trotz ihrer angegriffenen Gesundheit die Berge erreichen sieht.
       Er nimmt das unvollendete Stück Stoff vom Webstuhl und stellt befriedigt fest, dass es unverkäuf‌lich ist. Warum musste es bis zum Äußersten kommen, bevor ihm bewusst wurde, dass manche Dinge unbezahlbar sind?
       Er bringt das kostbare Gewebe in sein Tokonoma und verflucht sich für seine Niedrigkeit.

    Nishio-san erzählte mir dieses traditionelle japanische Märchen, als ich vier war. Seine Grausamkeit rief einen wollüstigen Schrecken in mir hervor. Der Gegensatz zwischen dem Wankelmut des Stoffhändlers und der edlen Opferbereitschaft seiner Frau entzückte mich.
       Die Frage nach der Moral der Geschichte stellte ich mir nicht, verstand aber unbewusst, dass der Vogel dem Mann seine Willensschwäche vor Augen führte.
       Liebend gern hätte ich auch einmal Kraniche ­gesehen. Leider waren das selbst in Japan seltene Vögel. Die Spatzen im Garten dagegen interessierten mich nicht, da ich sie für gewöhnlich hielt. Zu Unrecht.

    Mit fünf wurde ich aus Japan herausgerissen. Man hatte meinen Vater nach Peking versetzt, was 1972 kein Anlass zur Freude war.
       Ich erinnere mich an mein erstes Erwachen in der Volksrepublik China. Es war Sommer, und etwas fehlte. Sosehr ich mich auch bemühte, ich kam lange nicht darauf, was es war. Es war der Gesang der Vögel.
       Das Ghetto von Sanlitun lag mitten in der Stadt und war fast baumlos. Die Vögel haben sich auch an solche Umstände angepasst – Vögel haben sich schon an alles angepasst.
       Doch Mao hatte in einer seiner großen Kam­pagnen die Vögel für Hungersnöte und allerlei anderes Unheil verantwortlich gemacht und die Chinesen aufgefordert, jeden Vogel zu töten, dessen sie habhaft werden konnten, und alle anderen auch. Die Aktion war ein Riesenerfolg, vor allem, weil der, der vor dem Volkskommissar die meisten Vogelleichen schwenken konnte, Belobigungen und Vergünstigungen erhielt.
       China war bald eine Vogelwüste. Es dauerte ziemlich lange, bis der Große Steuermann die katastrophalen Folgen dieses Verlusts für die Ökologie und Ökonomie des Landes bemerkte. Und wie hätte er verkünden sollen, dass er sich geirrt hatte?
       Der einzige Vogel, den es in Peking noch gab, war der Rabe. Seine außergewöhnliche Intelligenz hatte es ihm erlaubt, die Listen der Bevölkerung ins Leere laufen zu lassen. Er trat nicht oft auf, herrsch­­te aber über die Stadt. Nur der Mangel an Spatzen, die er zum Teil für seinen Lebensunterhalt brauchte, machte ihm zu schaffen.
       Der Rabe ist ein wunderschönes Tier. Leider ­reimen sich seine Lieder nicht auf sein Gefieder. Wenn das Ohr Musik erwartet, aber nur ein Krächzen vernimmt, ist das eine Enttäuschung.
       Trotzdem segnete ich seine Anwesenheit, die es erlaubte, den Blick zu erheben. Er blieb der Künder der Vornehmheit. Dass er so selten war, erklärt wahrscheinlich das geringe Echo seiner Lehre.
       Denn damals wurde in China Raf‌f‌inement aller Art streng bestraft. Schlichte Höf‌lichkeit galt als konterrevolutionär. Wer am meisten spuckte und furzte, hatte gewonnen.
       Nishio-san fehlte mir schrecklich. Ich versuchte, mir die Geschichte vom weißen Kranich in ihrer Sprache zu erzählen. Doch ich spürte, dass ich das Japanische aus dem Gedächtnis verlor, und litt darunter. Warum konnte ich die Sprache jener, die ich liebte, nicht behalten?
       Mit der japanischen Sprache verschwand auch die Vornehmheit. Die Sprache der chinesischen Gouvernante war so hart und hässlich wie das Krächzen der Raben. Und in meiner Erinnerung gesellte sich der feine, sanfte Klang von Nishio-sans Worten zum Lied der Spatzen.
       Ich versuchte mir den weißen Kranich in Peking vorzustellen. Er hätte sich, verstört von den mörderischen Begierden der jagdlüsternen Bevölkerung, mit großen Flügelschlägen davongemacht. Davon wurde mein Heimweh nach Japan noch schlimmer.

    Drei Jahre später wurde mein Vater zur uno versetzt. Wir verließen Peking und zogen nach New York. Man kann sich keinen größeren Kontrast vorstellen.
       New York war voller Vögel. Tauben, Spatzen, Möwen. Im Central Park gab es Sperlinge aller Art. Raben auch, aber nicht nur. Für mich war dieses Wiedersehen wie eine Auferstehung.
       Jedes Wochenende fuhren wir nach Upstate New York zu einer Hütte im tiefen Wald. In dieser kaum vorstellbaren Wildnis wimmelte es nur so von Vögeln. Eichelhäher, Spottdrosseln (die berühmten Mockingbirds), Kardinäle, Baumammern, alles drehte sich um den Himmel.
       Ich berauschte mich daran, im Morgengrauen aufzuwachen und liegen zu bleiben, um die Vögel singen zu hören. Welch namenloses Glück, sie nach und nach zu erkennen wie die Instrumente eines Orchesters! Welche Freude, diesem Jubilieren zu lauschen und sich davon mitreißen zu lassen! Wer kann dieser Musik widerstehen, auch wenn er nicht bewusst hinhört? Ich hatte keine Immunabwehr gegen eine solche Schönheit.
       Da meine Mutter mir verboten hatte, vor sieben Uhr das Bett zu verlassen, wurde diese Hörübung zu meinem Morgenritual, aber nie zur Routine. ­Jeder Morgen war einzigartig. In diesem wechselhaften Prozess war die Jahreszeit nur ein Parameter unter vielen.
       Bald erkannte ich wundersamerweise, dass Vögel Individuen sind. Es ist genauso dumm zu behaupten, Rotkehlchen könnten gut singen, wie Menschen könnten gut singen. Wenn ich die Ohren spitzte, konnte ich heraushören, welches Rotkehlchen Talent hatte. Allerdings variierte die Qualität. Wie die größten Opernsänger aus tausenderlei Gründen manchmal indisponiert sind, war auch das begabteste Rotkehlchen an einem Tag oder zu einer gewissen Uhrzeit nicht auf der Höhe seiner Kunst.
       Im Winter musste ich länger auf den Beginn des Konzerts warten, das sich dann auf rare Soli beschränkte. Die aber waren umwerfend. Diese morgendlichen Gesänge waren keine Einladung zum Liebesspiel, da ging es ums Überleben. Unter dem Kälteschock fand die Amsel zu einer höheren Schönheit, um ihre Sinne vom Leiden abzulenken. Singen, um den Frost zu bezähmen, das nenne ich Heldentum!
       Viel später fragte ich mich beim Hören von Purcells berühmtem Cold Song, ob er nicht womöglich von dieser winterlichen Praxis der Vögel inspiriert war. Wenn ich aus dem Zittern gar nicht mehr herauskomme, versuche ich dagegen anzusingen. Überflüssig zu erwähnen, dass das Ergebnis zu wünschen übrig lässt.
       Der eisigen Elegie im Bett zu lauschen verführte dazu, noch tiefer unter die warmen Decken zu kriechen. Aber die Stimme eines Kardinals zu erkennen und nicht ans Fenster laufen zu dürfen, um ihn zu bewundern, grenzte an Folter. Das knallrote Gefieder musste ich mir dazudenken. Boris Vian hat den Pianocktail erfunden, ich erschuf das Piano­chrome: Ein bestimmter Ton löste eine bestimmte Farbe aus. Vor Sonnenaufgang konnte die Farbübersetzung sehr subtil sein. Das waren Nuan­cen, die man nur in der Dunkelheit wahrnahm.
       Ich teilte mir ein Zimmer mit meiner Schwester, die einen sehr leichten Schlaf hatte. Deshalb konn­te ich nicht heimlich den Vorhang öffnen. Die Eltern schliefen nebenan, hinter einer dünnen Wand, sodass kein Geräusch unbemerkt blieb. Dass ich die Stille nicht durchbrechen durf‌te, hatte den Vorteil, dass ich eine große Hörschärfe entwickelte. An manchem Morgen meinte ich sogar erkennen zu können, ob eine Meise heiser war.
       Im Bett belauerte ich wie besessen den Wecker. Um Punkt sieben sprang ich auf und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer. Dann trippelte ich zum Wohnzimmerfenster, hob den Vorhang hoch und schaute in das Geäst vor dem Fenster. Im Winter war es so dunkel, dass nichts zu erkennen war. Die Nase an der Scheibe, wartete ich, bis es heller wur­de. Die leuchtende Weiße draußen erlaubte mir, früher klar zu sehen. Ich kenne kaum einen tieferen Eindruck als die Erscheinung eines Kardinals vor dem Hintergrund des verschneiten Astwerks – dagegen konnte sich selbst die japanische Flagge verstecken. Ich war total erpicht darauf, die Musiker der Reihe nach im ersten Tageslicht auf‌treten zu sehen.
       Dann musste ich Kaffee kochen, eine mir kürzlich zugefallene Aufgabe, die ich sehr ernst nahm. Wir hatten weder Cafetière noch Kaffeemaschine. Ich griff also auf die gute alte Filtermethode zurück. Meine Mutter hatte mich gelehrt, dass der Kaffee desto stärker würde, je langsamer ich ihn aufgoss. Also ließ ich das Wasser mit unendlicher Langsamkeit über den Kaffee träufeln. Das traf sich gut, ich hatte ja alle Zeit der Welt. Es war für mich ein Sport, die Schöpfkelle zu nehmen und Tropfen für Tropfen auf das Pulver zu leeren. Ich wollte alle Rekorde der Langsamkeit brechen.

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  • ›Heute kein Abschied‹ – Daan Heerma van Voss' Gedanken zum Buch

    Wer war er wirklich, der Mann, den Tessel, Cat und Moor ihren Vater nannten? Nach seinem plötzlichen Tod beschäftigen Erinnerungen und ausbleibende Chancen auf Versöhnung die drei Geschwister – aber auch Geheimnisse, die auf einmal ans Licht kommen. 

    Was uns blüht, wenn wichtige Gespräche allzu lange vermieden werden, hat Daan Heerma van Voss in seinem neuen Familien- und Gesellschaftsroman Heute kein Abschied verbildlicht. Wir haben im folgenden Interview nachgefragt, woher sein Interesse an generationsübergreifenden Themen kommt und was ihm das Schreiben bedeutet.

    © Eva Roefs

    »Literatur kann Worte für die schwerwiegenden, stummen Ereignisse in unserem Leben finden. Und indem wir Worte dafür finden, holen wir uns selbst in die Welt zurück.«

    Daan Heerma van Voss im Interview

    Am Anfang des Buches steht der Tod von Oskar. Das wird zum Dreh- und Angelpunkt der Handlung von Heute kein Abschied. Wie war es, so eine besondere Eingangsszene zu schreiben?

    Das Einzige, was ich wusste, als ich mit dem Schreiben des Buches begann, war, dass es mit dem Ende beginnen musste: einem Todesfall in der Familie. Ich wollte diese langen letzten Momente einfangen. Niemand weiß wirklich, was für Gedanken da in einem vorgehen, wie sich das anfühlt. Alles, was wir haben, sind Klischees – wie etwa, dass sich das eigene Leben im Schnelldurchlauf vor dem inneren Auge abspielt. Ich wollte über diesen Punkt hinausgehen, die Leser:innen mitnehmen, sodass sie den verstorbenen Familienvater besser kennenlernen als jede:r andere. Die Leser:innen waren bei ihm während dieser intimen, verlorenen, letzten Augenblicke, die sonst mit niemandem geteilt werden können.

    Seine Tochter, die Schriftstellerin ist, dachte, durch das Lesen vieler Romane über Trauer und Tod auf diesen Verlust vorbereitet zu sein, und erlebt ihre Trauer dennoch mit voller Wucht. Kann uns Literatur Ihrer Meinung nach doch auch ein Stück weit darauf vorbereiten, gar auf das Leben überhaupt?

    Literatur kann uns nicht vorbereiten, nein. Sie kann uns aber im Nachhinein verstehen lassen. Literatur kann Worte für die schwerwiegenden, stummen Ereignisse in unserem Leben finden. Und indem wir Worte für diese Erlebnisse finden, holen wir uns selbst in die Welt zurück.

    Neben Oskars Geschichte und der seiner Frau erzählen Sie die Geschichte seiner drei Kinder Tessel, Moor und Cas. Auf den ersten Blick haben sie vermeintlich die gleiche Kindheit, die gleichen äußeren Umstände, das gleiche Elternhaus. Doch unterscheiden sich die Kindheitserlebnisse, das Verhältnis zu den Eltern und ihre Rollen innerhalb der Familie stark voneinander. Was hat Sie an dieser Thematik besonders interessiert?

    Diese Faszination kommt aus meinem eigenen Leben. Für meinen jüngeren Bruder war mein Vater ein ganz anderer als für mich. Wenn ein Mensch stirbt, denken wir, dass nur die eine Person stirbt. Doch dem ist nicht so – eigentlich sterben damit Hunderte Personen auf einmal.

    Mit Ihrem Lektor spricht Tessel darüber, dass der allwissende Erzähler zum Ausdruck bringt, dass jedes Leben etwas Episches und Großes in sich birgt, und darüber hinaus deutlich macht, wie wenig wir voneinander wissen. Heute kein Abschied ist aus Sicht eines allwissenden Erzählers geschrieben. Was wollten Sie damit zum Ausdruck bringen?

    Genau das! In diesem war Moment war Tessels Perspektive Ersatz für meine.

    Oskar findet erst spät in seinem Leben zum Schreiben und kann sich nur so seinen Kindern gegenüber öffnen. Das macht deutlich, wie schwer es sein kann, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sollten wir immer versuchen, diese Auseinandersetzung zu suchen, und was bedeutet Ihnen das Schreiben?

    Ich denke, dass es unsere Pflicht ist, uns selbst gegenüber vollkommen ehrlich zu sein, und zwar schonungslos. Für mich liegt in der Ehrlichkeit immer Schönheit. Schönheit ist eine Form der Ehrlichkeit, könnte man sagen. Das Schreiben kann ein Weg sein, das zu erreichen, etwas zu enthüllen. Es kann aber auch genau das Gegenteil bewirken, nämlich etwas vernebeln. Für mich ist es das Erstere. Auf der geschriebenen Seite bin ich vollkommen ehrlich, transparent, wahrhaftig. Es gibt keine Höflichkeit, wenn ich schreibe, keine Gefälligkeit.

    Generationsübergreifende Themen fallen bei der Lektüre besonders auf – Traumata, Beziehungsmuster und Erwartungen. Warum war es Ihnen so wichtig, diese Themen literarisch zu verarbeiten?

    Ich glaube, dass die Literatur das beste, vielleicht sogar das einzige Medium ist, in dem wir das Leben mehrerer Menschen gleichzeitig erleben, wirklich in ihre Haut schlüpfen können. Jedes Leben ist ein Mosaik. Fügt man diese Mosaike zusammen, ergeben sie ein noch größeres Mosaik. Das ist das Schöne daran. Literatur kann uns einen Einblick in diese Kohärenz geben, in eine Verbindung zwischen Menschen, die wir normalerweise nicht spüren oder sehen oder an die wir nicht zu glauben wagen.

    Der Roman lässt sich unter anderem als Plädoyer für ernst gemeinte Fragen, Interesse an unseren Mitmenschen sowie Mut zu wahrhaftigen Antworten lesen. Sind Ihnen diese Aspekte im Austausch mit anderen besonders wichtig?

    Mir sind sie sehr wichtig, ja. Ich kann nicht gut mit Menschen umgehen, die sich verstecken, die manipulieren, die Spielchen spielen. Feigheit kann ich nicht ausstehen. Ich finde Freunde, aber verliere sie auch.

    Tessel fragt sich, warum sie ihrem Vater nie die Frage »Warum?« gestellt hätten. Deshalb die Frage an Sie: Warum haben Sie diesen Roman geschrieben?

    Weil ich glauben möchte, dass es immer eine Verbindung zwischen uns gibt, auch wenn wir nicht miteinander reden, wenn uns die Worte fehlen, wenn wir uns unverstanden fühlen.

     

    Heute kein Abschied
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    Heute kein Abschied

    Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens

    Der plötzliche Tod von Oskar stellt das Leben seiner drei Kinder auf den Kopf. Eigentlich müssen sie sich von ihrem Vater verabschieden, doch allmählich stellen sie fest, dass sie ihm vielleicht zum ersten Mal begegnen. Ein großer Familienroman über das Abschiednehmen und das Willkommenheißen, über eine zersplitterte Familie, die vor weitreichenden Entscheidungen steht, die viel zu lange aufgeschoben wurden.


    Hardcover Leinen
    496 Seiten
    erschienen am 21. Mai 2025

    978-3-257-07325-6
    € (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80
    * unverb. Preisempfehlung
    Auch erhältlich als

     

    Daan Heerma van Voss, geboren 1986 in Amsterdam, ist Autor, Journalist und Historiker. Er schreibt regelmäßig für De Volkskrant und hat eine wöchentliche Kolumne in NRC. Seine journalistischen Texte wurden mit dem renommierten De-Tegel-Preis ausgezeichnet und seine Romane in zahlreiche Sprachen übersetzt. Bei Diogenes erschien 2023 sein Sachbuch Die Sache mit der Angst.

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  • Abschalten und loslesen

    Im Sommer wünschen wir uns doch alle nichts mehr als ein paar freie Tage zum Entspannen. Urlaub am Meer mit einer salzigen Brise um die Nase und Wellenrauschen. Oder Ferien in den Bergen mit wunderbarem Ausblick. Für alle, die nicht verreisen: An einem Tag im Park oder am See mit einem leckeren Picknick und einem guten Buch kann auch Urlaubsstimmung aufkommen. Manchmal hilft schon ein Nachmittag auf dem Balkon mit einem Stück Wassermelone in der Hand.

    Damit die passende Sommerlektüre gesichert ist – egal, ob ihr sie am Strand lest oder euch nur im Geiste in die Ferne begebt –, haben wir euch eine Auswahl unserer liebsten Feriengeschichten zusammengestellt. Mit von der Partie sind natürlich die zwei neuen Anthologien: In Ferien am Meer könnt ihr unter anderem gemeinsam mit Elena Fischer und Doris Dörrie ans Wasser reisen, während euch die Erzählungen von Sebastian Stuertz, Benedict Wells und vielen mehr eure Staycation in Ferien zu Hause versüßen.

     

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  • Acht Ferienbücher für Kinder

    Bald sind sie da – die Sommerferien. Milchzähne fallen raus, Gliedmaßen wachsen, Herzen werden gebrochen, es gibt Eis zum Frühstück, helle Strähnen, Sand zwischen den Zehen und jede Menge Abenteuer hinter dem Haus, bei Oma und im Urlaub. Und danach ist nichts, wie es war. Hier kommen ein paar unserer liebsten Kinderbücher, für Freibad, Strand und Zeltplatz, zum Vorlesen und Selbstlesen.

    Foto: Blake Meyer / Unsplash

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  • ›Der Diamantenmann‹ – eine Leseprobe aus Donna Leons neuem Erzählband ›Backstage‹

    Wer wollte nicht auch schon immer mal hinter die Kulisse von Donna Leons Schreiben blicken?
    Mit ihrem neuen Buch Backstage lädt uns die Bestsellerautorin in ihre Gedankenwelt ein, führt uns zu den Menschen, die sie und ihre Figuren inspirierten, und zu jenen, die ihr bei der Recherche geholfen haben. Ein ganz persönliches Näherkommen mit der Bestsellerautorin.

    Foto: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag

    »Die Charaktere aus der Feder guter Autoren sind wie echte Menschen, nur echter«, sagt Donna Leon. Darum wohl ist ihr Leben auch so reich an Figuren, echten und erfundenen. In Backstage tritt eine bunte Truppe auf, darunter auch Venedigs bekanntester Diamantenhändler.
        Eine Leseprobe davon, wie Donna Leon ihre Begegnungen zu funkelnden Geschichten gestaltet.

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  • ›Das Teufelshorn‹ - Fünf Fragen an die Autorin Anna Nicholas

    Urlaubsstimmung, idyllische Dörfer, mediterranes Flair – dafür ist Mallorca bekannt. Anna Nicholas ruft in Das Teufelshorn genau diese Atmosphäre hervor, wirft aber gleichzeitig einen Schatten über die beliebte Sonneninsel. Das Ferienparadies wird zum Tatort. 

    Das Teufelshorn ist der Auftakt einer neuen Mallorca-Krimiserie, der erste Fall für die clevere, selbstbewusste Ermittlerin Isabel Flores. Im Interview erzählt die Autorin, welchen Bezug sie zur Insel hat und warum ein Frettchen die perfekte Begleitung für eine Ermittlerin ist.

    © Nicoletta Gavar
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  • Doris Dörrie feiert ihren 70. Geburtstag – wir gratulieren ihr sehr herzlich

    »Sie kann schreiben, sie kann Filme machen, sie kann zeichnen, sie kann auftreten, und ist unterhaltsam und lustig. Wenn es Doris Dörrie nicht gäbe, ginge es in Deutschland vielleicht noch etwas ernster zu.« – Philipp Keel

    Foto: © Mathias Bothor / laif

    Am 26. Mai feiert Doris Dörrie ihren 70. Geburtstag – wir gratulieren ihr sehr herzlich. Geboren in Hannover, studierte sie Theater und Schauspiel in Stockton, Kalifornien, und in New York, wo sie nebenbei am Goethe-Institut als Filmvorführerin jobbte.
          Sie entschloss sich, nicht vor, sondern hinter der Kamera zu stehen. Der erste Walzer, ihre Abschlussarbeit an der Münchner Hochschule für Film, wurde an Festivals und im Fernsehen gezeigt, Männer, ihr dritter Kinofilm, in der ganzen Welt. Dabei wäre der Film, der sogar in den USA ein Hit war, beinahe nicht in die Kinos gekommen, weil er für die Verleiher ›zu klein‹ war.
          Parallel zu ihrer Filmarbeit hat sie zahlreiche Bestseller geschrieben, darunter Das blaue Kleid, Was machen wir jetzt?, Leben, schreiben, atmen oder Die Heldin reist. 2024 erschien der Dokumentarfilm Doris Dörrie – Die Flaneuse zu Leben und Werk von Doris Dörrie (Regie: Sabine Lidl). Anlässlich ihres Geburtstag wird der Dokumentarfilm in der Nacht von Freitag auf Samstag, 31.05.2025 von 00:00 Uhr bis 01:00 Uhr auf NDR ausgestrahlt.

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  • ›Dein Herz, ein wildes Tier‹ – eine exklusive Leseprobe aus Jardine Libaires neuem Roman

    Zwei Frauen. Zwei Männer. Eine Raubkatze. Und das größte Abenteuer ihres Lebens. Nach ›Uns gehört die Nacht‹ hat Jardine Libaire eine neue, aufregende Liebesgeschichte geschrieben, eine faszinierende Road Novel in Oklahoma und Texas.

    Foto von Andrea Brambila auf Unsplash

    Vier Außenseiter auf der Flucht: Staci, Ray, Ernie und Coral hauen mit geklautem Drogengeld ab nach Texas, wo sie in einem abgelegenen Haus etwas finden, das sie nie zu träumen gewagt hätten: Zugehörigkeit, Vertrauen und Liebe. Und je länger sie in dieser vom Schicksal zusammengewürfelten Gemeinschaft leben, desto mehr wächst jede und jeder über sich hinaus. Doch die Tage ihres zerbrechlichen Glücks sind schon lange gezählt. Eine exklusive Leseprobe.

     

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    Tags Roman USA
  • »Ich möchte hinter die Kulissen schauen, möchte erfahren, wie es den Helden nach ihren grossen Auftritten geht.« – Joachim B. Schmidt im Interview

    Mit seinem neusten Roman Ósmann lockt uns Joachim B. Schmidt erneut nach Island – dieses Mal an den Skagafjord. Er öffnet den Vorhang für Jón Magnússon Ósmann, der dort vor über 100 Jahren die Menschen über den Ós geleitete: »Seine Bühne war der Fabelstrand, der Skagafjord seine Kulisse. Die Reisenden sein zahlendes Publikum. Und er spielte die Hauptrolle. Jeden Tag.«

    Im Interview berichtet der Autor von seiner ersten Begegnung mit Ósmann, gibt Einblicke in seine Recherchen zum Roman, äußert aber auch seine Bedenken: »Ich frage mich, ob ich überhaupt befugt bin, so ein isländisches, wahres Schicksal zu erzählen.«

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