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  • Supper Clubs, Minnesota-Liebe und starke Vorbilder – J. Ryan Stradal im Interview

    Vor der Kulisse des Mittleren Westens begleitet J. Ryan Stradal in seinem neuen Roman vier außergewöhnliche Frauen durch die Höhen und Tiefen des Lebens. Ihr Familienrestaurant, der Lakeside Supper Club, ist dabei ihr Dreh- und Angelpunkt – wo die eine Sicherheit findet, erleben die anderen Verlust, Druck und Leidenschaft.

    Samstagabend im Lakeside Supper Club ist ein vielschichtiges Generationenportrait, das eindrucksvoll zeigt, wie sehr uns die Orte und Menschen um uns herum prägen. Warum auch sein drittes Buch wieder in Minnesota spielt und woher die Inspiration für die Hauptfiguren kam, verrät J. Ryan Stradal hier im Interview.

    Foto: © Franco P. Tettamanti

    »Wenn das Schreiben eines Romans etwas Utopisches ist, dann gehört die großartige Vielfalt von Liebe in der Welt unverzichtbar dazu.«

    J. Ryan Stradal im Interview

    In Samstagabend im Lakeside Supper Club sind mehrere Zeitebenen und Perspektiven miteinander verwoben. Was hat Sie daran gereizt, eine so vielschichtige Familiengeschichte zu schreiben?

    Ich mag die Kontraste und Widersprüche, die ein Roman mit mehreren Sichtweisen bieten kann. Unser Leben wird von den Geschichten bestimmt, die wir uns über uns selbst und über andere erzählen, und viele davon scheinen uns wahr – ob sie den Tatsachen entsprechen oder nicht. Ich selbst mag es auch, beim Lesen nicht genau zu wissen, was die Fakten in den verschiedenen Erzählungen sind.

    Und bei diesem Buch passt die Vielschichtigkeit einfach auch gut zum Setting. Während der Recherche habe ich etwa ein Dutzend Menschen befragt, die einen Supper Club führen oder mal geführt haben, und ihre Erfahrungen waren sehr unterschiedlich. Ein Supper Club ist eine besondere Art von Restaurant, das in der Regel über Generationen weitergegeben wird. Ein Supper Club mag für eine Stadt, einen Ort noch so wichtig sein, der Enthusiasmus, mit dem seine (zukünftigen) Besitzer:innen diesen Wert erhalten, variiert. Wie jedes Restaurant ist ein Supper Club prädestiniert für Konflikte, was ihn wiederum als Ort für Erzählungen prädestiniert. Mehrere Perspektiven können das wunderbar verstärken.

    Haben Sie eine persönliche Verbindung zu Supper Clubs wie dem Lakeside?

    Als Teenager hatte ich das große Glück, in einem Supper Club namens The Steamboat Inn zu arbeiten. Ich habe das aus vielen Gründen geliebt, nicht zuletzt, weil es das beste Restaurant in der Gegend war. Die Menschen sind dort hingegangen, wenn sie Geburtstage, Abschlüsse, Pensionierungen und Jubiläen gefeiert haben. Sie haben die wichtigsten Tage ihres Lebens dort verbracht, und sie zu bedienen war eine Freude, aber es hatte auch was von Verantwortung. Ein wunderbarer Rahmen für eine Geschichte.

    Ist die amerikanische Diner-Kette Jorby's im Roman als Gegensatz zum traditionellen Lakeside angelegt?

    Das Jorby's ist dem Lakeside in vielerlei Hinsicht gegensätzlich – das eine landesweit, das andere lokal, ein Konzern gegenüber einem unabhängigen Restaurant, Menüs, die von Fokusgruppen getestet werden, und gehobene Küche und so weiter. Ich habe versucht, Jorby's nicht nur negativ darzustellen, das wäre nicht nur oberflächlich, sondern auch nicht richtig. Nicht jeder kann es sich leisten, an einem Ort wie dem Lakeside zu essen, auch nicht zu besonderen Anlässen, während Jorby's eine erschwingliche, beständige Karte anbietet. Im Grunde ist das Jorby‘s das, wozu sich  Restaurants wie das Lakeside entwickeln, wenn sie in ihrem Umfeld nicht erfolgreich genug sind.

    Gab es eine Inspiration für Ihre Hauptfiguren? Wie kommt es, dass Sie sich (abgesehen von Ned) vor allem auf die Frauen in der Familie konzentriert haben?

    Mariel basiert größtenteils auf meiner Mutter, die als Kellnerin in einem Restaurant wie dem Jorby's arbeitete, als ich ein Kind war. Florence hat folglich viele Ähnlichkeiten mit meiner Großmutter. Im Grunde schreibe ich über die beiden Frauen in meiner Familie, denen ich am nächsten stand. Sie waren die größten Leserinnen, die ich kannte, und beide vermisse ich sehr. Ohne sie wäre ich kein Schriftsteller, und ich lasse sie in alle meine Romane einfließen, daher überwiegen auch die weiblichen Hauptfiguren. Ned ist leider weitgehend von mir selbst inspiriert. Julia ist wahrscheinlich so, wie ich im Jugend- und Collegealter gerne gewesen wäre.

    Auch Ihr dritter Roman spielt im Mittleren Westen Amerikas. Warum haben Sie sich dazu entschieden, ein weiteres Buch über Minnesota zu schreiben?

    Als junger Leser waren für mich einfach nicht genug Bücher greifbar, die in meiner Heimat spielen, und die wenigen, die ich gefunden habe, waren wunderbar. Ich habe mir selbst damals versprochen, solche Bücher zu schreiben, wenn ich jemals die Gelegenheit dazu hätte, und das tue ich jetzt. Obwohl die Schauplätze und Charaktere des Mittleren Westens natürlich einzigartige Details mit sich bringen, habe ich mein Bestes getan, um ihre Geschichten für Leser:innen überall nachvollziehbar zu machen.

    Ihre Geschichte zeigt ein breites Spektrum an Beziehungen, von Freundschaft über romantische (queere) Liebe bis hin zu unterschiedlichen Familienkonstellationen. Warum war es Ihnen wichtig, diese Vielfalt zu zeigen?

    Das ist ganz einfach die Welt, die ich erlebt habe, und ich liebe sie. Wenn das Schreiben eines Romans etwas Utopisches ist, dann gehört die großartige Vielfalt von Liebe in der Welt unverzichtbar dazu.

    All Ihre Figuren erleben Einschneidendes, Verlust und Trauer sind zentrale Themen des Buches. Ist der Roman ein Plädoyer dafür, die guten gemeinsamen Zeiten wertzuschätzen, solange sie andauern?

    Wie fast jede Person, die ich kenne, habe auch ich große Verluste erlebt, und dieses Buch habe ich in einer emotional herausfordernden Zeit geschrieben. Obwohl alle meine Romane von Verlust handeln, habe ich vor allem diesen als eine Art Flaschenpost geschrieben, um mich weniger allein zu fühlen und um hoffentlich anderen zu helfen, sich in ihrer Trauer weniger allein zu fühlen. Und ja, genießen Sie unbedingt die flüchtigen Momente, die Sie mit Freund:innen und Ihrer Familie haben, so oft wie möglich.

    Und schließlich, wenn Sie das Glück haben, etwas wie den Lakeside Supper Club in Ihrem Umfeld zu haben – warten Sie nicht erst auf einen besonderen Anlass. Diese Orte werden ohne unsere Unterstützung verschwinden. Gehen Sie hin, so oft Sie können.

     

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    Samstagabend im Lakeside Supper Club

    Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Bielfeldt

    Für Betty war er die Rettung aus existenzieller Not. Für Florence eine Bürde und der Ort ihrer schlimmsten Niederlage. Für Mariel ist er ein Traum, in dem sie sich selbst verwirklicht. Für Julia ist er eine bloße Legende, die nichts mehr mit ihr zu tun hat: Im ›Lakeside Supper Club‹ am Bear Jaw Lake in Minnesota trotzen vier Frauen dem Leben auf ganz unterschiedliche Weise ihr Quäntchen Glück ab.


    Hardcover Leinen
    384 Seiten
    erschienen am 25. Juni 2025

    978-3-257-07332-4
    € (D) 25.00 / sFr 34.00* / € (A) 25.70
    * unverb. Preisempfehlung
    Auch erhältlich als

     

    J. Ryan Stradal, geboren 1975, wuchs in Hastings, Minnesota, auf. Er studierte Film, Fernsehen und Radio an der Northwestern University. Er ist Lektor, Redakteur und Produzent von Fernsehserien. Seine Romane Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens und Die Bierkönigin von Minnesota waren New York Times-Bestseller. J. Ryan Stradal lebt in Los Angeles, Kalifornien.

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  • Amélie Nothombs ›Psychopompos‹ – Ein Roman, so eigenwillig und unnachahmlich wie seine Autorin

    Psychopompos ist ein autobiografisches Buch, in dem sich Amélie Nothombs Leidenschaft für Vögel offenbart. Durch die diplomatische Arbeit ihres Vaters lernte sie, ihr Nest dort zu bauen, wo die elterlichen Wanderungen sie absetzten, und entwickelte allmählich eine immer größere Leidenschaft für die Vögel, die sie von Japan über China und die USA bis nach Bangladesch beobachtete. Tauche mit der Leseprobe ein in Amélie Nothombs Welt.

    Foto von Mohamed Fsili auf Unsplash

    Leseprobe

    Auszug, S. 5-15

    Eines Tages sieht ein Stoffhändler weiße Kraniche vorüberziehen. Hingerissen von ihrer Schönheit, träumt er davon, einen Stoff zu finden, der so prächtig ist wie ihr Gefieder.
       Da kommt eine junge Frau von außergewöhnlicher Schönheit in sein Geschäft. Ihr langes, glattes Haar ist von glänzendem Schwarz, ihre Haut strahlend weiß, und den Rand ihrer Lippen zeichnet eine rote Linie, die eine noble Abkunft verrät. Das bestätigt auch ihr Gewand: ein Kimono vom seltenen Weiß hochgestellter Familien, dessen Ärmel bis auf den Boden hängen.
       Die geheimnisvolle Kundin kann sich nicht zu einem Kauf entschließen. Der Händler trägt ihr seine Hilfe an. Darauf sagt sie mit merkwürdig sanfter Stimme:
       »Heiraten Sie mich.«
       Verblüfft versucht er, mehr über sie zu erfahren. Wer sie sei? Warum sie ihn heiraten wolle? Doch sie schweigt hartnäckig.
       Am Ende denkt er, es wäre Unsinn, ein so schmeichelhaftes Angebot auszuschlagen, und hei­ratet das Fräulein, auch wenn es ihm ein Rätsel bleibt.
       Die Hochzeit verläuft ohne Zwischenfälle. Die Eheleute beginnen ihr gemeinsames Leben in heiterer Gelassenheit. Alles läuft bestens.
       Ein paar Tage später sagt die junge Frau:
       »Ich habe keine Hochzeitsgeschenke und keine Mitgift in die Ehe eingebracht. Wenn Sie mir eine Werkstatt zur Verfügung stellen, will ich einen wundervollen Stoff für Sie weben, unter der Bedingung, dass ich dort allein bin und niemand, nicht einmal Sie, mich besuchen kommen.«
       Der Mann ist einverstanden, und die Frau zieht sich jeden Tag für ein paar Stunden in ihre Werkstatt zurück. Nach einer Woche überreicht sie ihm, geschwächt von ihrer Arbeit, ein Gewebe aus einem undefinierbaren Material, wie er es noch nie zuvor gesehen hat, so schön und kostbar, dass es ihm den Atem raubt.
       »Was ist das? Wie haben Sie das gemacht?«, platzt es aus ihm heraus.
       Sie schlägt die Augen nieder und schweigt.
       »Gestatten Sie mir, ihn zu verkaufen?«
       »Er gehört Ihnen, Sie müssen mich nicht um Erlaubnis fragen.«
       Der Händler findet schnell einen Interessenten für den Stoff und erzielt einen exorbitanten Preis dafür.
       Die Wochen vergehen. Viele Kunden kommen zu ihm ins Geschäft und fragen nach dem sagenhaften Stoff, von dem sie gehört haben.
       Der Mann bittet seine Frau, noch einmal dieses Wunder zu vollbringen. Sie zieht sich wieder für eine Woche in ihr Atelier zurück und liefert dann, blass und abgemagert, einen Stoff, so prachtvoll wie das letzte Mal.
       Der Händler verkauft ihn zum doppelten Preis und ärgert sich, dass er nicht das Zehnfache verlangt hat. Dann fragt er seine Frau, ob sie nicht noch einmal ihre Spezialität herstellen kann.
       Sie lehnt nie ab, obwohl ihre Gesundheit sichtlich darunter leidet. Der Mann bemerkt es, aber seine Geldgier ist stärker. Die Leute rennen ihm die Türe ein, jeder will diesen einzigartigen Stoff haben.
       Bald verlässt die junge Frau kaum noch ihr Atelier. Tag und Nacht müht sie sich, das von ihrem Mann geforderte höllische Arbeitstempo einzu­halten. Dem entgeht nicht, dass sie immer dünner wird. Dass ihre jugendliche Schönheit verblasst, ihr Blick erloschen, ihre Haut grünlich und ihre Haare matt geworden sind. Er macht sich Sorgen, kann sich aber nicht dazu entschließen, etwas zu ändern. Um sich von der Schuld zu entlasten, redet er seine Ansprüche klein.
       Nach ein paar Monaten erkrankt die Frau, arbeitet aber nicht weniger. Der Mann hört sie husten. Sein Gewissen quält ihn.
       »Wenn ich ihr Atelier betreten dürf‌te, könnte ich ihr vielleicht helfen«, denkt er. Hätte er sich selbst durchschaut, wäre ihm klar geworden, dass er ei­gentlich das Geheimnis der Herstellung he­raus­finden will, bevor sie stirbt.
       Irgendwann hält er es nicht mehr aus und dringt in ihre Werkstatt ein. Was er sieht, lässt ihn auf der Stelle erstarren: Ein prächtiger weißer Kranich reißt sich mit dem Schnabel Federn und Daunen aus, die auf diese qualvolle Weise immer weniger werden, und steckt sie in den Webstuhl. Er leidet so sehr, dass er stöhnt, was er durch menschliches Husten zu verbergen sucht.
       Als die Kranichfrau den Voyeur entdeckt, stößt sie einen Entsetzensschrei aus und fliegt durch die geöffnete Tür davon. Ihrem verzweifelten Mann bleibt als letzter Trost, dass er sie trotz ihrer angegriffenen Gesundheit die Berge erreichen sieht.
       Er nimmt das unvollendete Stück Stoff vom Webstuhl und stellt befriedigt fest, dass es unverkäuf‌lich ist. Warum musste es bis zum Äußersten kommen, bevor ihm bewusst wurde, dass manche Dinge unbezahlbar sind?
       Er bringt das kostbare Gewebe in sein Tokonoma und verflucht sich für seine Niedrigkeit.

    Nishio-san erzählte mir dieses traditionelle japanische Märchen, als ich vier war. Seine Grausamkeit rief einen wollüstigen Schrecken in mir hervor. Der Gegensatz zwischen dem Wankelmut des Stoffhändlers und der edlen Opferbereitschaft seiner Frau entzückte mich.
       Die Frage nach der Moral der Geschichte stellte ich mir nicht, verstand aber unbewusst, dass der Vogel dem Mann seine Willensschwäche vor Augen führte.
       Liebend gern hätte ich auch einmal Kraniche ­gesehen. Leider waren das selbst in Japan seltene Vögel. Die Spatzen im Garten dagegen interessierten mich nicht, da ich sie für gewöhnlich hielt. Zu Unrecht.

    Mit fünf wurde ich aus Japan herausgerissen. Man hatte meinen Vater nach Peking versetzt, was 1972 kein Anlass zur Freude war.
       Ich erinnere mich an mein erstes Erwachen in der Volksrepublik China. Es war Sommer, und etwas fehlte. Sosehr ich mich auch bemühte, ich kam lange nicht darauf, was es war. Es war der Gesang der Vögel.
       Das Ghetto von Sanlitun lag mitten in der Stadt und war fast baumlos. Die Vögel haben sich auch an solche Umstände angepasst – Vögel haben sich schon an alles angepasst.
       Doch Mao hatte in einer seiner großen Kam­pagnen die Vögel für Hungersnöte und allerlei anderes Unheil verantwortlich gemacht und die Chinesen aufgefordert, jeden Vogel zu töten, dessen sie habhaft werden konnten, und alle anderen auch. Die Aktion war ein Riesenerfolg, vor allem, weil der, der vor dem Volkskommissar die meisten Vogelleichen schwenken konnte, Belobigungen und Vergünstigungen erhielt.
       China war bald eine Vogelwüste. Es dauerte ziemlich lange, bis der Große Steuermann die katastrophalen Folgen dieses Verlusts für die Ökologie und Ökonomie des Landes bemerkte. Und wie hätte er verkünden sollen, dass er sich geirrt hatte?
       Der einzige Vogel, den es in Peking noch gab, war der Rabe. Seine außergewöhnliche Intelligenz hatte es ihm erlaubt, die Listen der Bevölkerung ins Leere laufen zu lassen. Er trat nicht oft auf, herrsch­­te aber über die Stadt. Nur der Mangel an Spatzen, die er zum Teil für seinen Lebensunterhalt brauchte, machte ihm zu schaffen.
       Der Rabe ist ein wunderschönes Tier. Leider ­reimen sich seine Lieder nicht auf sein Gefieder. Wenn das Ohr Musik erwartet, aber nur ein Krächzen vernimmt, ist das eine Enttäuschung.
       Trotzdem segnete ich seine Anwesenheit, die es erlaubte, den Blick zu erheben. Er blieb der Künder der Vornehmheit. Dass er so selten war, erklärt wahrscheinlich das geringe Echo seiner Lehre.
       Denn damals wurde in China Raf‌f‌inement aller Art streng bestraft. Schlichte Höf‌lichkeit galt als konterrevolutionär. Wer am meisten spuckte und furzte, hatte gewonnen.
       Nishio-san fehlte mir schrecklich. Ich versuchte, mir die Geschichte vom weißen Kranich in ihrer Sprache zu erzählen. Doch ich spürte, dass ich das Japanische aus dem Gedächtnis verlor, und litt darunter. Warum konnte ich die Sprache jener, die ich liebte, nicht behalten?
       Mit der japanischen Sprache verschwand auch die Vornehmheit. Die Sprache der chinesischen Gouvernante war so hart und hässlich wie das Krächzen der Raben. Und in meiner Erinnerung gesellte sich der feine, sanfte Klang von Nishio-sans Worten zum Lied der Spatzen.
       Ich versuchte mir den weißen Kranich in Peking vorzustellen. Er hätte sich, verstört von den mörderischen Begierden der jagdlüsternen Bevölkerung, mit großen Flügelschlägen davongemacht. Davon wurde mein Heimweh nach Japan noch schlimmer.

    Drei Jahre später wurde mein Vater zur uno versetzt. Wir verließen Peking und zogen nach New York. Man kann sich keinen größeren Kontrast vorstellen.
       New York war voller Vögel. Tauben, Spatzen, Möwen. Im Central Park gab es Sperlinge aller Art. Raben auch, aber nicht nur. Für mich war dieses Wiedersehen wie eine Auferstehung.
       Jedes Wochenende fuhren wir nach Upstate New York zu einer Hütte im tiefen Wald. In dieser kaum vorstellbaren Wildnis wimmelte es nur so von Vögeln. Eichelhäher, Spottdrosseln (die berühmten Mockingbirds), Kardinäle, Baumammern, alles drehte sich um den Himmel.
       Ich berauschte mich daran, im Morgengrauen aufzuwachen und liegen zu bleiben, um die Vögel singen zu hören. Welch namenloses Glück, sie nach und nach zu erkennen wie die Instrumente eines Orchesters! Welche Freude, diesem Jubilieren zu lauschen und sich davon mitreißen zu lassen! Wer kann dieser Musik widerstehen, auch wenn er nicht bewusst hinhört? Ich hatte keine Immunabwehr gegen eine solche Schönheit.
       Da meine Mutter mir verboten hatte, vor sieben Uhr das Bett zu verlassen, wurde diese Hörübung zu meinem Morgenritual, aber nie zur Routine. ­Jeder Morgen war einzigartig. In diesem wechselhaften Prozess war die Jahreszeit nur ein Parameter unter vielen.
       Bald erkannte ich wundersamerweise, dass Vögel Individuen sind. Es ist genauso dumm zu behaupten, Rotkehlchen könnten gut singen, wie Menschen könnten gut singen. Wenn ich die Ohren spitzte, konnte ich heraushören, welches Rotkehlchen Talent hatte. Allerdings variierte die Qualität. Wie die größten Opernsänger aus tausenderlei Gründen manchmal indisponiert sind, war auch das begabteste Rotkehlchen an einem Tag oder zu einer gewissen Uhrzeit nicht auf der Höhe seiner Kunst.
       Im Winter musste ich länger auf den Beginn des Konzerts warten, das sich dann auf rare Soli beschränkte. Die aber waren umwerfend. Diese morgendlichen Gesänge waren keine Einladung zum Liebesspiel, da ging es ums Überleben. Unter dem Kälteschock fand die Amsel zu einer höheren Schönheit, um ihre Sinne vom Leiden abzulenken. Singen, um den Frost zu bezähmen, das nenne ich Heldentum!
       Viel später fragte ich mich beim Hören von Purcells berühmtem Cold Song, ob er nicht womöglich von dieser winterlichen Praxis der Vögel inspiriert war. Wenn ich aus dem Zittern gar nicht mehr herauskomme, versuche ich dagegen anzusingen. Überflüssig zu erwähnen, dass das Ergebnis zu wünschen übrig lässt.
       Der eisigen Elegie im Bett zu lauschen verführte dazu, noch tiefer unter die warmen Decken zu kriechen. Aber die Stimme eines Kardinals zu erkennen und nicht ans Fenster laufen zu dürfen, um ihn zu bewundern, grenzte an Folter. Das knallrote Gefieder musste ich mir dazudenken. Boris Vian hat den Pianocktail erfunden, ich erschuf das Piano­chrome: Ein bestimmter Ton löste eine bestimmte Farbe aus. Vor Sonnenaufgang konnte die Farbübersetzung sehr subtil sein. Das waren Nuan­cen, die man nur in der Dunkelheit wahrnahm.
       Ich teilte mir ein Zimmer mit meiner Schwester, die einen sehr leichten Schlaf hatte. Deshalb konn­te ich nicht heimlich den Vorhang öffnen. Die Eltern schliefen nebenan, hinter einer dünnen Wand, sodass kein Geräusch unbemerkt blieb. Dass ich die Stille nicht durchbrechen durf‌te, hatte den Vorteil, dass ich eine große Hörschärfe entwickelte. An manchem Morgen meinte ich sogar erkennen zu können, ob eine Meise heiser war.
       Im Bett belauerte ich wie besessen den Wecker. Um Punkt sieben sprang ich auf und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer. Dann trippelte ich zum Wohnzimmerfenster, hob den Vorhang hoch und schaute in das Geäst vor dem Fenster. Im Winter war es so dunkel, dass nichts zu erkennen war. Die Nase an der Scheibe, wartete ich, bis es heller wur­de. Die leuchtende Weiße draußen erlaubte mir, früher klar zu sehen. Ich kenne kaum einen tieferen Eindruck als die Erscheinung eines Kardinals vor dem Hintergrund des verschneiten Astwerks – dagegen konnte sich selbst die japanische Flagge verstecken. Ich war total erpicht darauf, die Musiker der Reihe nach im ersten Tageslicht auf‌treten zu sehen.
       Dann musste ich Kaffee kochen, eine mir kürzlich zugefallene Aufgabe, die ich sehr ernst nahm. Wir hatten weder Cafetière noch Kaffeemaschine. Ich griff also auf die gute alte Filtermethode zurück. Meine Mutter hatte mich gelehrt, dass der Kaffee desto stärker würde, je langsamer ich ihn aufgoss. Also ließ ich das Wasser mit unendlicher Langsamkeit über den Kaffee träufeln. Das traf sich gut, ich hatte ja alle Zeit der Welt. Es war für mich ein Sport, die Schöpfkelle zu nehmen und Tropfen für Tropfen auf das Pulver zu leeren. Ich wollte alle Rekorde der Langsamkeit brechen.

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  • ›Dein Herz, ein wildes Tier‹ – eine exklusive Leseprobe aus Jardine Libaires neuem Roman

    Zwei Frauen. Zwei Männer. Eine Raubkatze. Und das größte Abenteuer ihres Lebens. Nach ›Uns gehört die Nacht‹ hat Jardine Libaire eine neue, aufregende Liebesgeschichte geschrieben, eine faszinierende Road Novel in Oklahoma und Texas.

    Foto von Andrea Brambila auf Unsplash

    Vier Außenseiter auf der Flucht: Staci, Ray, Ernie und Coral hauen mit geklautem Drogengeld ab nach Texas, wo sie in einem abgelegenen Haus etwas finden, das sie nie zu träumen gewagt hätten: Zugehörigkeit, Vertrauen und Liebe. Und je länger sie in dieser vom Schicksal zusammengewürfelten Gemeinschaft leben, desto mehr wächst jede und jeder über sich hinaus. Doch die Tage ihres zerbrechlichen Glücks sind schon lange gezählt. Eine exklusive Leseprobe.

     

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    Tags Roman USA
  • ›Warren Buffett und Bill Gates‹ - Anthony McCarten im Interview

    Der eine Investor, der andere Tech-Unternehmer - beide superreich! In Warren Buffett und Bill Gates schreibt Anthony McCarten über zwei Männer, deren Vermögen ins Unvorstellbare reicht. Das Buch dreht sich um ihre Freundschaft, die vielleicht einflussreichste der Welt, und die Verantwortung, die damit einhergeht. Im Interview verrät der Autor, wie er über dieses Ausmaß an Reichtum denkt und welche Rollen die Ehefrauen von Warren Buffett und Bill Gates spielen. 

    Foto: © Privat
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  • Jacqueline O'Mahony im Interview: Über weiblichen Mut, Irland und die Große Hungersnot

    Jacqueline O'Mahonys Roman Sing, wilder Vogel, sing  spielt in Irland im Jahr 1849, zur Zeit der Großen Hungersnot. Aus der Perspektive der weiblichen Hauptfigur Honora schildert die Autorin eindrücklich die kargen und bedrängenden Lebensumstände der jungen Frau, die mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Amerika aufbricht.

    Im Interview spricht Jacqueline O'Mahony über die historischen Hintergründe ihres Romans und darüber, warum ihr besonders die Erzählung aus weiblicher Perspektive wichtig war.

    Foto: © Nick Gregan
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  • »In meinen Augen sind wir alle große Kinder, die gut oder weniger gut erwachsen spielen.« – Ein Interview mit Lea Catrina

    Die Schweizer Schriftstellerin und Lyrikerin Lea Catrina entführt uns mit My Boy in zwei Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Roman spielt abwechselnd in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten und erzählt die Geschichte einer allumfassenden Freundschaft. Im Interview beantwortet die Bündner Autorin, was sie zu dieser Geschichte inspiriert hat und welchen Bezug sie zu den beiden Ländern hat.

    Foto: © Oceana Galmarini

    My Boy erzählt die Geschichte einer alles einnehmenden, überrumpelnden Freundschaft. Was hat Sie zu dieser Geschichte inspiriert?
    Das Thema Freundschaft hatte mich schon eine Weile beschäftigt bevor ich angefangen habe, My Boy zu schreiben. So richtig dringlich wurde das aber, nachdem ich in die USA gezogen war. Auf Distanz sieht man manche Dinge klarer und ich habe meine Freunde sehr vermisst, habe gespürt wie sehr sie mein Leben geprägt haben.

    Wenn Rona und Charlie aufeinandertreffen, gerät alles aus dem Gleichgewicht. Ein Wanken zwischen Aufregung und Kontrollverlust. Wie war es für Sie, sich in eine solche Beziehung hineinzuversetzen?
    Es war sehr spannend für mich, die Dynamik zwischen den beiden zu verfolgen. Ich habe es aber nie als Kontrollverlust empfunden, sondern hatte dauernd das Gefühl, dass die beiden einander brauchen, genau so wie sie sind, selbst wenn Außenstehende das nicht verstehen.

    Welche Rolle spielen Eiskunstlauf und Modewelt in Ihrem Roman?
    Beide Welten sind zentrale Schauplätze des Romans. Der Eiskunstlauf war einerseits eine Zuflucht für die beiden, hat sie vieles gelehrt, aber er hat sie auch so manches gekostet. Die Modewelt ist Charlies Welt, in die Rona mit seiner Hilfe auch ein wenig eintaucht. Und dann gibt es ja noch die Tech-Welt, das Silicon Valley, Ronas Welt, wo wiederum eher Charlie Gast ist. Aber der Eiskunstlauft ist ihre gemeinsame Welt, in die sie gerne zurückkehren.

    Durch Rückblenden in die Kindheitserinnerungen der Hauptfigur Rona lernen wir die Figuren in Ihrem Roman erst richtig kennen. Von welcher Figur sind Sie beim Schreiben ausgegangen? Von der erwachsenen oder der kindlichen Rona?
    Das ist eine interessante Frage. Ich denke, ich gehe bei all meinen Figuren immer vom kindlichen Ich aus, denn in meinen Augen sind wir alle große Kinder, die gut oder weniger gut erwachsen spielen.

    Die Geschichte spielt abwechselnd in den Vereinigten Staaten und in der Schweiz. Warum gerade in diesen beiden Ländern? Haben Sie einen besonderen Bezug zu ihnen?
    Ich habe zwei Jahre in den USA gelebt und war auch davor immer wieder für längere Zeit dort. Speziell das Silicon Valley hat mich von Anfang an fasziniert. Es ist ein seltsamer Ort, voller Widersprüche. Das gleiche könnte man über die Schweiz sagen. Immer wieder wurde mir in Amerika die Frage gestellt: »Du bist aus der Schweiz? Was machst du dann hier?« Und ich habe gemerkt, wie weit weg und nahe beieinander die beiden Orte sind. Wie sich die beiden Kulturen gegenüberstehen und einander missverstehen. Das hat mich dazu inspiriert, das genauer zu betrachten. Es sind zwei Extreme, genau wie Rona und Charlie.


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    My Boy

    In ihrer Kindheit in einem Schweizer Bergdorf vereinte sie, nirgends dazuzugehören, nun aber scheinen sie Anschluss gefunden zu haben: Charlie in der Modewelt, Rona im Silicon Valley. Als die beiden wieder zusammenfinden, erstehen neben schönen Erinnerungen an ihre Zeit in der Eiskunstlaufhalle auch die Gespenster der Vergangenheit wieder auf. Während intensiver Nächte, zerstörerischer Gespräche und alberner Abenteuer versucht Rona, ihre Freundschaft zu Charlie, aber auch sich selbst vor seinem manchmal allzu hellen Strahlen zu retten.

    Taschenbuch
    256 Seiten
    erschienen am 25. September 2024

    978-3-257-24750-3
    € (D) 14.00 / sFr 19.00* / € (A) 14.40
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    Auch erhältlich als

    Lea Catrina ist eine Schweizer Schriftstellerin und Lyrikerin. 2021 erschien ihr Romandebüt Die Schnelligkeit der Dämmerung sowie Öpadia – a Novella us Graubünda im Arisverlag. 2023 folgte dann der Roman My Boy und 2024 erscheint Waldbad, für den sie mit einem literarischen Werkbeitrag des Kantons Graubünden ausgezeichnet wurde. Lea Catrina lebt mit ihrer Familie in Flims, Graubünden, wo sie geboren und aufgewachsen ist.

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  • ›Ripley‹ in neuem Design – Patria Highsmiths Romanreihe zum Wiederentdecken

    Patricia Highsmiths Ripley-Reihe ist weltberühmt. Und das ganz zu Recht, denn hat man den ersten Roman gelesen, greift man begeistert nach dem nächsten. Fieberhaft folgt man den Schritten des Verbrechers und Betrügers Tom Ripley. Jeder moralische Einwand ist vergessen. 

    Seit April 2024 ist Ripley auch auf Netflix zu sehen. Die auf auf dem ersten Ripley-Roman Der talentierte Mr. Ripley basierende Miniserie mit Andrew Scott, Dakota Fanning und Johnny Flynn in den Hauptrollen wurde mit vier Emmys ausgezeichnet. Diogenes Verleger Philipp Keel begleitete die Serie mit seiner Tochterfirma Diogenes Entertainment als Executive Producer.

    Alle Ripley-Romane sind jetzt in einzigartiger Neuausstattung erschienen. Grund genug, noch einmal in Tom Ripleys Welt einzutauchen!

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  • Doris Dörrie stellt vor: Naturlyrik von Mary Oliver

    Natur aufmerksam zu beobachten, zu beschreiben und in ergreifende Gedichte zu fassen – das war zugleich Talent und Leidenschaft der US-amerikanischen Dichterin Mary Oliver. Eine persönliche Auswahl aus ihrem Werk ist nun erstmals auch auf Deutsch in Buchform erschienen. Im Vorwort des Lyrikbandes Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben schreibt Autorin und Filmregisseurin Doris Dörrie über ihre erste Begegnung mit der Dichtkunst von Mary Oliver und verrät uns ihre drei Lieblingsgedichte.

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  • Musik der 80er – ein Soundtrack zu ›California Girl‹ von Tamar Halpern

    Timey ist vierzehn und seit der Trennung ihrer Eltern dazu gezwungen, mit dem Flieger zwischen Berkley und L. A. hin- und herzupendeln. Im Kalifornien der 80er-Jahre probiert sie sich aus und versucht mit allen Mitteln, an beiden Heimatorten Anschluss zu finden. Mal ist es ein neuer Kleidungsstil, mal eine neue Frisur, mal sind es die ersten künstlichen Nägel. Was bleibt, ist Timeys Leidenschaft für Musik. Bandnamen, Alben und Songs ziehen sich wie ein roter Faden durch Tamar Halperns Debütroman California Girl und lassen uns im Sound der 80er schwelgen. Musikalische Ausflüge in die 60er und 70er sind auch dabei.

    Tamar Halpern hat in alten Fotoalben gestöbert und zeigt: Wie Timey ist auch sie ein echtes ›California Girl‹ der 80er-Jahre.

    Foto: © Tamar Halpern
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