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Nachwort von Klaus Cäsar Zehrer zu ›Das schreckliche Zebra‹

Mehr als tausend Worte: Fotos als Geschichtenerzähler
(mit Gewinnspiel)

»Es gibt alte Fotos, die beflügeln auf höchst reizvolle Weise die Phantasie des heutigen Betrachters. Mal kurios, mal anrührend, stellen sie uns jedes Mal aufs Neue vor die Frage: Was um Himmels willen war da los? Klaus Cäsar Zehrer hat sich von solchen Bildern zu kurzen Geschichten, Szenen und Gedichten anregen lassen – von fein-zart bis beinhart, von poetisch bis bedenkenlos albern. Lesen Sie hier Auszüge aus seinem Nachwort zum neuen Buch Das schreckliche Zebra.


 

Foto: Privatsammlung Klaus Cäsar Zehrer

In jedem einzelnen Foto liegt eine Vielzahl solcher Geschichten verborgen, sie ragen in allen zeitlichen und räumlichen Richtungen über die neun mal dreizehn Zentimeter Papier hinaus. Aber zusammen mit denen, die sie erzählen könnten, gehen auch die Geschichten verloren, und das Bild schaut uns nur noch leer und ausdruckslos an, stummer Zeuge einer Zeit, über die wir aus anderen Quellen beredtere Auskunft erhalten. Diese Fotos uninteressant zu nennen würde den Punkt nicht treffen. Sie haben nur ihren Daseinszweck, nämlich Menschen als Erinnerungsstütze zu dienen, verloren, und so wäre es stark übertrieben, von einem Akt ikonoklastischer Barbarei zu sprechen, wenn ein solcher Nachlass weggeworfen wird. Das meiste ist wirklich für die Tonne.

Aber dann gibt es Fotos, die sind von einem anderen Kaliber. Das sind die, die ich aus den Alben herausgelöst habe, um sie in meiner Schachtel zu, nennen wir’s mal großspurig: archivieren. Sie brauchen niemanden, der etwas über sie erzählen kann, weil sie selber Geschichtenerzähler sind. Auch bei ihnen liegen die Geschichten jenseits dessen, was auf ihnen zu sehen ist. Doch es ist unerheblich, wann und wo sie aufgenommen wurden und wen oder was sie »in Wirklichkeit« zeigen. Im Gegenteil, die Wirklichkeit kann uns getrost gestohlen bleiben, sie verdirbt bloß die Stimmung mit ihren schnöden Fakten. Und Stimmung ist in diesem Fall alles.

Das schreckliche Zebra
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Das schreckliche Zebra

Fotos und ihre Geschichten

Fotos dieser Art vergehen nicht mit ihren Besitzern, sie werden, je älter sie sind und je weiter sie sich von den Umständen ihrer Entstehung entfernt haben, immer vitaler. Am besten ist es, wenn die Verbindung zwischen Welt und Abbild vollends gerissen ist, weil keiner mehr weiß, wer die Abgelichteten realiter gewesen sind. Dann können die in die Namenlosigkeit entlassenen Figuren eine neue Identität annehmen, unter Beihilfe der Phantasie des heutigen Betrachters.

Ich kenne nichts, was einen anregenderen, produktiveren Zugang zur Vergangenheit eröffnet, als solche – bevorzugt nicht von Profis aufwendig arrangierten, sondern auf die Schnelle von Laien geknipsten – alten Fotos anzuschauen. Nicht Gemälde, bei denen uns der Maler immer seinen eigenen Blick auf die Objekte aufdrängt, anstatt uns selbst zu überlassen, wie wir sie sehen wollen, und auch nicht Filmaufnahmen, die für meinen Geschmack immer schon zu viel verraten: wie sich die festgehaltene Person bewegt, wie sie gesprochen, was sie im nächsten Augenblick gemacht hat. Will ich alles gar nicht wissen! Ich will nur diese eine Hundertstelsekunde aus ihrem Leben kennen, die eine Positur von ihr, die eine Geste, den einen Gesichts­ausdruck, mehr nicht. Den Rest denke ich mir dann schon selber dazu.

Foto: Privatsammlung Elinor Richter

Es braucht nicht viel, um den eingefrorenen Gestalten ihre Geschichten zu entlocken, nur Geduld. Manchmal dauert es Stunden, manchmal muss man sich ein und dasselbe Foto mit Abständen wieder und wieder vorlegen, aber irgendwann – ich schwöre, es funktioniert auch ohne vorherige Einnahme halluzinogener Substanzen – kommt der Moment, da tauen sie auf, werden beweglich, treten aus ihrem Bild heraus und fangen an zu plaudern. Das braucht man dann nur noch mit­zuschreiben, wie ein Sekretär, der ein Diktat aufnimmt, und schon ist das Buch fertig.

Falls Sie, lieber Leser, liebe Leserin, der Ansicht sein sollten, dass einige der Geschichten reichlich sonderbar sind: Stimmt, das ist mir auch aufgefallen. Daran, dass ihr Autor eventuell etwas zu lange allein war mit sich und seinen Fotos, kann es nicht liegen. Er hat ja, wie gesagt, lediglich auf die Stimmen in seinem Kopf gehört, und die Möglichkeit, dass mit diesem Kopf vielleicht etwas nicht ganz stimmen könnte, lässt sich ausschließen; ich wüsste davon.

Nein, ich glaube, es liegt daran: Die Figuren auf den Fotos sind uns vertraut und fremd zugleich, weil sie im Hier, nicht aber im Jetzt leben. Sie zeigen uns eine Welt, die ganz die ihrige ist und nur noch halb die unsrige. Es ist nicht die Welt, in der wir sind, wohl aber die, aus der wir kommen. Sie stehen ungefähr so im Leben wie wir auch, aber eben nur so ungefähr, nicht genau gleich, und kommen uns daher leicht verschoben, oder mit einem anderen Wort: leicht verrückt vor. Zu diesen Verschiebungen gehört übrigens auch, dass das Wir damals noch ein anderes, engeres war als unser heutiges. Von den Menschen, die in diesem Band zu sehen sind, hat keiner einen offensichtlichen Migrationshintergrund; wahrscheinlich hatte keiner das Wort »Migrationshintergrund« überhaupt schon einmal gehört. Auch das ist eine dieser vielen kleinen Irritationen, die uns zusammengenommen den Eindruck vermitteln, in ein fremd-vertrautes Gesternland zu blicken. Dass sich all diese Unschärfen, diese, wenn man so will, Doppelbelichtungen von den Bildern auf die Texte übertragen haben, ist, so gesehen, dann doch eher folgerichtig als erstaunlich.

Foto: Privatsammlung Elinor Richter

Von den Reizen alter Fotos der besagten Sorte ist ausführlich die Rede gewesen; ein Nachteil von ihnen, ihr gravierendster, soll nicht unerwähnt bleiben: Sie sind leider sehr selten. Ganze Berge tauben Gesteins, unzählige Schichten von Silberhochzeitsgesellschaften, verwackelten Haustieren und vor touristischen Attraktionen strammstehenden Menschen müssen ab­getragen werden, um ein einziges Nugget zu finden, das eine besondere Bild, das die sprichwörtlichen mehr-als-tausend Worte sagt. Mit dem Material aus meiner Schachtel allein wäre ich nicht weit gekommen.

Gut, wenn man Gleichgesinnte kennt; besser noch, wenn sie einem die Arbeit erleichtern; ein Glücksfall, mit Elinor Richter befreundet zu sein. Was ich immer nur nebenbei und ohne zielgerichteten Ehrgeiz getan habe, betreibt sie mit ungleich größerem Aufwand und Ertrag: Sie sammelt alte Schwarzweißfotos. Anders als ich macht sie sich die Mühe, auf Flohmärkten und bei Trödelhändlern gezielt danach Ausschau zu halten, und weil sie die Gabe besitzt, den Unterschied zwischen Spreu und Weizen mit bloßem Auge zu erkennen, hat sie über die Jahre eine wahre Wun­der­kammer zusammengetragen, die ich jederzeit gegen eine komplette Gemäldegalerie eintauschen würde, wenn ich eine besäße. Ich durf‌te ihre Schätze nicht nur sichten, was ein Vergnügen höchster Kategorie war, sondern mich auch frei daraus bedienen. Ohne Elinor wäre die Idee immer nur Idee geblieben. Ich möchte ihr deshalb meinen ausdrücklichen Dank – ach, was soll der Geiz: Ich widme ihr dieses Buch.

So, ist alles gesagt? Fast. Ganz zum Schluss ein Geständnis: Ein Foto gibt es, an dem habe ich mir die Zähne ausgebissen. [Das hier oben, die Dame mit dem Löwenbaby, Anm. d. Red.] Zu gerne hätte ich seine Geschichte erzählt, denn ich bin mir sicher, es gibt eine. Aber ich bin ihr, sooft ich es auch versucht habe, einfach nicht auf die Spur gekommen. Also wende ich mich in meiner Ratlosigkeit an die Crowd: Was ist denn hier los? Welche Situation sehen wir, und wie geht’s weiter?«

Antworten, gerne in erzählerischer oder poetischer Form, bitte an gewinnspiel@diogenes.ch, Stichwort: Fotogeschichte – bis 6. Januar 2022 – unter allen Einsendungen verlosen wir 10 Exemplare Das schreckliche Zebra.

Auszüge aus dem Nachwort von Klaus Cäsar Zehrer, Das schreckliche Zebra, 40 Fotos und ihre Geschichten, Hardcover Leinen, 256 Seiten, Diogenes Verlag 2021.

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