Ein hinterlassenes Manuskript machte Christoph Poschenrieder neugierig. Es endet mitten im Satz, mitten in der Geschichte, und gibt Einblicke ins Leben seiner beiden Großtanten Hedwig und Marie. Lange suchte der Autor für seinen neuen Roman in alten Dokumenten und Fotos – und stieß schließlich auf das Geheimnis rund um Hedwigs Verschwinden. Hier berichtet er, wie es ist, Weltgeschichte in der eigenen Familie zu erleben, und welche Fragen auch nach der gründlichen Recherche zum Buch Fräulein Hedwig noch offenbleiben.
Der Autor im Interview
Im Zentrum Ihres neuen Romans Fräulein Hedwig stehen zwei Ihrer Großtanten, die Schwestern Hedwig und Marie. War es Ihnen wichtig, die Frauen in den Fokus der Geschichte zu rücken?
Die beiden Schwestern und ihre Mutter Margarete, das sind die Figuren mit den interessanten und eben bisher unerzählten Geschichten. Ich hatte das Gefühl, an Hedwig und Marie ist etwas gutzumachen. Ihnen haben das Leben, die Zeit, die besonderen Umstände besonders übel mitgespielt. Meinetwegen das Patriarchat – allerdings war das Leben unter dem Matriarchat der Margarete sicherlich auch nicht ohne.
Im Buch fragen Sie über Ihre Familienmitglieder: »Wer waren diese Leute, woher kamen sie, wohin wollten sie? Und was habe ich mit ihnen zu tun?« Haben Sie mit dem Schreiben des Romans Antworten darauf gefunden?
Antworten nicht immer, aber den einen oder anderen Hinweis. Auf Fotos meine ich, manche Familienähnlichkeiten feststellen zu können, aber da kann ich mich auch täuschen. Durchgängige Charaktereigenschaften – sozusagen »typisch Poschenrieder« – auch nicht; dazu kenne ich »diese Leute« denn doch nicht gut genug. Außerdem gibt’s ja noch die gesamte mütterliche Linie.
Die Kirche und das nationalsozialistische Regime haben Hedwigs Lebensweg und auch ihr Ende geprägt und bestimmt. Wie war es für Sie, im familiengeschichtlichen Rahmen mit diesen Themen in Berührung zu kommen?
Oft sehr seltsam – besonders die katholische Kirche in Person des Geistlichen Alphons Scheglmann, der wohl eine Schlüsselrolle im religiösen Leben Hedwigs und ihrer Krankenbiografie gespielt hat. Oder die bizarre Geschichte der wundertätigen Therese Neumann von Konnersreuth, von der Hedwig sich – ja, was eigentlich erhofft hat? Von heute aus betrachtet ist das alles fringe und cringe, damals eher mainstream. Nach Familienüberlieferung war der Onkel Hermann (Hedwigs Bruder) der Einzige mit nachweisbarer NS-Verstrickung (als agitierender Lehrer), und das stimmt nach Aktenlage auch. Ob sie das Regime mit Blick auf ihre psychisch kranke Schwester richtig eingeschätzt haben? Wohl nicht.
Am Ende steht klar und deutlich: Hedwig wurde ermordet. Haben Sie je daran gezweifelt?
Sobald ich die Krankenakte Hedwigs aus der Nervenheilanstalt auf dem Tisch hatte, eigentlich nicht mehr, vor allem mit dem Zusatzwissen aus dem Buch über die Münchner Opfer des NS-Euthanasie. Ob’s im streng juristischen Sinne Mord war, kann man, glaube ich, getrost dahingestellt lassen. Die deutsche Nachkriegsjustiz hat es ohnehin nicht so genau wissen wollen. Mord verjährt zwar nicht, aber Täter sterben, und manche Opfer haben keine Lobby. Es war und bleibt empörend, unmenschlich und grausam, was Hedwig angetan wurde. Das braucht ein starkes Wort.
Für das Buch haben Sie unzählige historische Dokumente und Familienerinnerungen gesichtet. Wie war es für Sie, auf diese Unterlagen zu stoßen, insbesondere auf die Geschichte von Hedwig? Und wie haben Sie diese Fundstücke dann verwendet?
Zum Teil habe ich die Funde 1:1 in den Text übernommen, damit sie für sich selbst sprechen können, zum Beispiel das Zeugnis von Hedwigs Anstellungsprüfung oder Stellen aus ihrem unheimlich abgeklärten Schulaufsatz zu Allerheiligen. Manchmal habe ich Briefe verwendet, um fiktive Dialoge Hedwigs mit ihren Korrespondentinnen zu entwickeln. Oder ich habe Fotos interpretiert. Und ja, es war viel, sehr viel Stoff, und trotzdem nicht annähernd genügend. Wenn Hedwigs Leben eine 1000-Teile-Puzzle ist, wie viele Puzzleteilchen hatte ich dann? 50? 110?
Warum haben Sie einen Roman geschrieben und kein erzählendes Sachbuch?
Für erzählendes Sachbuch habe ich keine Expertise; außerdem finde ich, dass Sachbuch Sachbuch bleiben sollte. Ausnahme: Creative Nonfiction, wie es im amerikanischen Magazin-Journalismus gepflegt wird. Da ist es eher eine Frage des Stils, nicht des Inhalts, der stets verlässlich bleibt. Ich hatte Lücken zwischen Fakten aufzufüllen, und das ging nur mit den Mitteln des romanhaften Erzählens. Diese Methode habe ich in mehreren meiner Bücher angewendet, immer auf der feinen Linie zwischen Fakt und Fiktion balancierend. Außerdem habe ich in Fräulein Hedwig über weite Strecken eine Co-Autorin: die Tante Marie mit ihren »Memoiren«. Eine gute, unersetzliche Quelle. Aber zuverlässig? Hmmm …
Durch die Vielzahl an Zeitzeugnissen war die Recherche zum Buch vermutlich sehr umfangreich. Wie sah diese konkret aus?
Ich finde es vor allem erstaunlich, wie viel man auch über zeitgeschichtlich unbedeutende Figuren wie Hedwig herausfinden kann, wenn man nur hartnäckig und tief genug gräbt. Das betrifft vor allem Archive und Bibliotheken. Damit musste ich irgendwann einfach aufhören, sonst würde mich das wohl noch heute beschäftigen. Das andere sind die Hinterlassenschaften der Tante Marie, die Briefe, Postkarten, Fotos etc. Die musste ich erst einmal entziffern, die Namen, Orte und Zeiten einordnen. Und sehen, was ich damit erzählen kann.
Mit dem Roman verarbeiten Sie literarisch eine Leerstelle in Ihrer Familiengeschichte. Sind noch Fragen offengeblieben?
Es bleiben immer Fragen offen, und das ist auch gut so. Offen ist der Umgang der Familie mit Hedwig und ihren Phasen, ihrem »manisch-depressiven Irresein«, wie es damals hieß. So war sie eben. Konnten die damit umgehen? Hatten die sie abgeschrieben als »verrückt«, nicht mehr zu retten? Der Briefwechsel meiner Großeltern in den letzten drei Lebenswochen Hedwigs hat mich erschüttert. Aber man hüte sich davor zu urteilen, besonders, wenn man nicht das ganze Bild hat.
Fräulein Hedwig
Hedwig ist eine unverheiratete Frau, die auf dem Land als Grundschullehrerin arbeitet. Doch schon in jungen Jahren meldet sie sich immer häufiger krank. Der Pfarrer sieht in ihr eine verirrte Seele, der Arzt eine Nervenkranke – und die Familie versteht sie nicht. Hedwig führt ein stilles, einsames Leben an der Zeitenwende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Umso mehr verstören ihre Ausbrüche die Menschen um sie herum. Unter der NS-Diktatur schließlich ist sie als psychisch kranke Frau ihres Lebens nicht mehr sicher.
Christoph Poschenrieder, geboren 1964 bei Boston, studierte Philosophie in München und Journalismus in New York und arbeitet als freier Journalist und Autor von Dokumentarfilmen. Heute konzentriert er sich auf das literarische Schreiben. Sein Debüt Die Welt ist im Kopf wurde vom Feuilleton gefeiert und war auch international erfolgreich. Mit Das Sandkorn war er 2014 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Christoph Poschenrieder lebt in München.











