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»Zusammen bilden diese beiden Männer das Ganze der Kunst.« – Ein Interview mit Stefan Hertmans

Was bedeutet uns Freundschaft, was vermag ein Gemälde in uns zu bewegen, wie wollen wir der voranschreitenden Zerstörung der Natur begegnen? Stefan Hertmans wirft mit seinem neuen Roman Dius viele Fragen auf, erzählt von der Intensität menschlicher Begegnungen und entlässt uns nach der Lektüre mit offenerem Blick und neugierigem Herzen.
   Im Interview spricht der Dichter, Dramatiker und Autor über Freundschaft, Liebe, Kunst und Philosophie.

Foto: © Saskia Vanderstichele

Wann war Ihnen klar, dass Sie über die besondere Freundschaft zwischen Dius und Anton – einem Kunststudenten und seinem Dozenten – schreiben wollen?

Die Idee zu diesem Roman ist nach und nach entstanden. In den letzten Jahren habe ich zwei Freunde verloren, und das Motiv der Trauer um einen Freund hat sich in dieser Zeit entwickelt. Als dann auch noch Wim Henderickx, der flämische Komponist der Oper, die auf meinem Roman Die Fremde basiert, ganz unerwartet starb, nahm der Plan konkrete Formen an. Das Motiv der Freundschaft zwischen einem Studenten und seinem Lehrer entstand aus meiner eigenen Unterrichtspraxis. Ich war vier Jahrzehnte lang Dozent an einer Kunsthochschule.

Neben der tiefen Verbindung zwischen Dius und Anton spielen auch die Frauen in den Leben der beiden Männer immer wieder eine wichtige Rolle. Kann selbst der intelligenteste und geistreichste Mensch nicht ohne Partnerschaft und Liebe leben? Ist niemand gefeit vor Trennungen und Streit?

Es scheint mir selbstverständlich, dass unerwartete Erfahrungen im Bereich der Liebe ein integraler Bestandteil des Lebens sind, insbesondere im Leben von Menschen, die sich mit Kunst beschäftigen. Dius sollte auch ein Buch darüber werden, wie eine so intensive Freundschaft zwischen zwei Männern auch ihre Beziehung zu Frauen bestimmte. In diesem Sinne ist Dius die Geschichte zweier Formen der Zuneigung: Liebe versus Freundschaft. Aber beide sind Formen der Leidenschaft und Intensität und daher auch eine Schulung in Selbsterkenntnis, in dem, was man zu tun vermag und was man falsch gemacht hat. Deshalb ist Dius auch ein Buch über die Bedeutung von Narben, emotionale Verarbeitung und letztendlich Katharsis.

Der Roman ist voller gewaltiger Bilder und Metaphern – wie haben Sie die Sprache hierfür gefunden?

Für mich ist der Ton ein wesentlicher Bestandteil der Intensität eines Romans. Er muss von der ersten Seite an stimmen, fast musikalisch sein. Der Erzählton in Dius ist leidenschaftlich, aber auch philosophisch, denn der Erzähler Anton ist ein Mann, der nach einem Weg sucht, mit Verletzlichkeit und seinem Verlangen nach Erhabenheit umzugehen. Gleichzeitig schwingt in seinem Ton viel Ironie mit – die Merkmale der Melancholie. Anton hat die ganze Zeit das Wort, aber im Laufe seiner Geschichte verstehen wir auch, wie er von Dius und seiner verlorenen großen Liebe Lys gesehen und erlebt wird. Gleichzeitig bin ich davon überzeugt, dass gute Beschreibungen in den Details die Anziehungskraft einer Geschichte für die Leserschaft erheblich steigern. Dius strotzt nur so vor Details, die die Atmosphäre intensivieren und die Leser hoffentlich emotional einbinden.

Ihre Beschreibungen der Polderlandschaft, der weiten Himmel und Wolken, der Flora und Fauna: Man spürt beim Lesen Ihre Liebe zur Natur. Und ist mit Ihnen empört über die Bagger und die Verdrängung der Natur etwa durch die sich ausbreitende Hafenindustrie. Wie wichtig ist Ihnen das Thema Umwelt?

Da sich die Geschichte über mehrere Jahrzehnte erstreckt, hatte ich auch die Möglichkeit, die Verschmutzung und Zerstörung der Natur in einem so dichten und kleinen Land wie Flandern zu zeigen. Es ist ein wesentlicher Teil von Antons Melancholie, dass die Landschaften seiner Jugend in den 1970er- und 1980er-Jahren durch unkontrollierten Bauboom und Willkür auf kommunaler Ebene fast vollständig verschwunden sind. Im Laufe meines eigenen Lebens in diesem Land ist die Natur enorm unter Druck geraten: Rückgang der Biodiversität, Verschwinden von Wäldern, Verschmutzung der wenigen Naturgebiete ... Anton assoziiert dies mit den unberührten Landschaften, die er auf den Gemälden der großen holländischen Meister des 17. und 18. Jahrhunderts sieht.

Foto von Annie Spratt auf Unsplash

Hatten Sie schon früh den jungen Ritter von Carpaccio im Kopf, wenn Sie an Ihren Stoff Dius gedacht haben? Wofür steht der Ritter für Sie, und wie haben Sie generell die Kunstwerke ausgewählt, die im Buch eine Rolle spielen?

Das Porträt des Ritters von Carpaccio spielt in der Tat eine zentrale Rolle in dem Buch. Die Malereien von Vittore Carpaccio faszinieren mich schon seit Jahrzehnten. Ich habe einmal ein langes Gedicht über eines seiner Werke geschrieben, habe über sein Werk unterrichtet und habe einmal an einem Filmprojekt über sein Werk in Venedig teilgenommen. Das Porträt des Ritters ist von außergewöhnlicher Bedeutung und Qualität. Es ist das erste Ganzkörperporträt, gemalt in einer besonderen Klarheit und Subtilität, während es gleichzeitig Rätsel aufgibt. Es gibt viele Spekulationen darüber, was auf diesem Meisterwerk zu sehen ist, aber im Roman symbolisiert es natürlich auch die verlorene Ritterlichkeit, die Anton und Dius füreinander empfinden. In Zeiten eines defensiven Machismo ist es eine Alternative zum Bild des sensiblen, raffinierten Mannes, der Raum für Spekulationen lässt. Gleichzeitig spielen einige andere beliebte Maler eine bedeutende Rolle: Bronzino und Pontormo.

Neben der Kunst geben Sie auch der Philosophie immer wieder Raum, etwa mit Hegel, Nietzsche und Deleuze. Aber auch der Psychologe Freud oder die Musik von Wagner werden genannt. Gehören für Sie alle Wissenschaften und Künste auf eine gewisse Art zusammen? Welche ist Ihnen die wichtigste?

Ich denke, dass es gerade von großer Bedeutung ist, Kunst, Geisteswissenschaften und ästhetische Erfahrungen nicht in eine Hierarchie zu bringen, sondern sie, wie Anton in seinen Vorlesungen betont, als einen großen interaktiven mentalen Raum zu erleben. Die ästhetische Erfahrung, für die Anton plädiert, ist eine Erfahrung der Verbindung und Einfühlung. Anton gehört zu den Menschen, die versuchen, das Leid in der Welt durch ästhetische Erfahrungen zu lindern. Er weiß alles darüber, wie man Kunst fühlt und interpretiert. Aber als Intellektueller ist er ungeschickt in der Liebe und Freundschaft. Daher seine Faszination für die handelnde und fast primitive künstlerische Kraft von Dius, der überall ohne theoretische Bedenken geradeaus vorgeht. Zusammen bilden diese beiden Männer das Ganze der Kunst: Der eine kann sie einfach schaffen, der andere versteht sie zutiefst und kann sie in seinen Lehrveranstaltungen weitergeben. Zusammen ergänzen sie sich, was die Kraft ihrer Freundschaft ausmacht (und gleichzeitig für Reibereien und Konfrontationen sorgt, auch durch die Frauen, mit denen sie Beziehungen haben).
   Aber vergessen wir nicht, dass das Buch mit dem Triumph der unerwarteten Liebe nach dem Tod von Dius endet. Auch diese Dialektik spielt eine große Rolle in der emotionalen Entwicklung der Geschichte. Letztendlich haben die Frauen recht.

Welche Rolle spielt die Kunst in Ihrem Leben?

Ich erkenne mich in Antons intensiver Wahrnehmung von Kunsterlebnissen wieder und bin selbst seit vier Jahrzehnten in der Kunstpädagogik tätig. Ich habe unzählige junge Künstler aufwachsen, reifen, untergehen oder zu Ausnahmetalenten werden sehen. Andererseits bin ich in einem künstlerischen Umfeld aufgewachsen. In meinem Roman Krieg und Terpentin kann man den großen Einfluss lesen, den mein malender Großvater auf mich hatte. In meiner Familie gibt es auch musikalisches Talent, und bevor ich mich ganz dem Schreiben widmete, war ich selbst Musiker. Durch den Umgang mit jungen Künstlern im Bildungswesen einerseits und Freunden aus der flämischen Kunst- und Musikszene andererseits war es für mich immer selbstverständlich, täglich mit Kunst zu leben. Ich habe auch einige Essays über zeitgenössische flämische Künstler geschrieben. Ich bin überzeugt, dass diese Erfahrungen auch eine aktive Rolle im Umgang mit anderen Menschen spielen können, ja sogar dazu beitragen können, unseren Blick auf die Gesellschaft zu erweitern. In diesem Sinne habe ich immer geglaubt, dass Kunst Menschen auch emotional und mental emanzipieren kann. Das war auch meine Motivation beim Unterricht, und es ist auch das Motto von Anton.

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Dius

Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm

Als Dius an seiner Haustür klingelt, ist Anton überrascht und irritiert. Keiner seiner Studenten an der Kunsthochschule ist bisher so ungeniert in sein Privatleben vorgedrungen. Oder hat ihm gar seine Freundschaft und einen Schreibplatz in einem alten Dorfhaus inmitten nordisch rauer Landschaft angetragen. Im Wechsel aus konzentriertem Arbeiten und langen Spaziergängen entwickelt sich dort ein fast altmodisch anmutendes Band der Freundschaft zwischen den beiden Männern, während sich ihre jeweiligen Leben zu Hause nicht ohne Komplikationen weiterdrehen.


Hardcover Leinen
352 Seiten
erschienen am 22. Oktober 2025

978-3-257-07356-0
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80
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Auch erhältlich als

Stefan Hertmans, geboren 1951 in Gent, Belgien, ist Dichter, Dramatiker, Romancier und gilt als einer der wichtigsten niederländischsprachigen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Der Roman Krieg und Terpentin war 2016 unter anderem für den International Man Booker Prize und den Premio Strega International nominiert. Hertmans lebt in Brüssel und im südfranzösischen Monieux.