Filter

  • Neuste Beiträge
  • Archiv
  • Monat
  • Foto/ Video/ Audio
  • »Ich möchte hinter die Kulissen schauen, möchte erfahren, wie es den Helden nach ihren grossen Auftritten geht.« – Joachim B. Schmidt im Interview

    Mit seinem neusten Roman Ósmann lockt uns Joachim B. Schmidt erneut nach Island – dieses Mal an den Skagafjord. Er öffnet den Vorhang für Jón Magnússon Ósmann, der dort vor über 100 Jahren die Menschen über den Ós geleitete: »Seine Bühne war der Fabelstrand, der Skagafjord seine Kulisse. Die Reisenden sein zahlendes Publikum. Und er spielte die Hauptrolle. Jeden Tag.«

    Im Interview berichtet der Autor von seiner ersten Begegnung mit Ósmann, gibt Einblicke in seine Recherchen zum Roman, äußert aber auch seine Bedenken: »Ich frage mich, ob ich überhaupt befugt bin, so ein isländisches, wahres Schicksal zu erzählen.«

    Im Vordergrund Ihres neuen Romans steht ein isländischer Fährmann namens Ósmann. Wie sind Sie der Figur begegnet? 

    Joachim B. Schmidt: Zum ersten Mal begegnet bin ich Ósmann während meiner Ausbildung zum Reiseführer. Wir Auszubildende erhielten einen kurzen Abriss seines Lebens, Fährmann, Jäger, Dichter, Trinker, ein Lebemann, der sich schließlich in derselben Flussmündung ertränkte, die er während 40 Jahren befahren hatte. Diese kurze Begegnung berührte mich sehr. Die Geschichte des Fährmanns ließ mich nicht mehr los. Also tauchte ich tiefer in sein Leben ein, recherchierte in den Bibliotheken und traf Nachkommen. Ich fand einiges über ihn, aber wieso der Fährmann beschlossen hatte, seinem Leben ein frühzeitiges Ende zu setzen, stand nur zwischen den Zeilen geschrieben. Dieses Buch ist also ein Versuch, den Fährmann und sein trauriges Schicksal besser zu verstehen.  

     

    Ósmanns Geschichte wird anhand eines kommentierenden Beobachters erzählt. Weshalb haben Sie sich für diese Erzählperspektive entschieden? 

    Joachim B. Schmidt: Ich will nicht verraten, was es mit dem Erzähler wirklich auf sich hat. Aber eins kann ich sagen: Er ist ein Außenseiter, einer, der dazugehören möchte, obwohl seine Anwesenheit eigentlich nicht erwünscht ist, mehr noch, er wird kaum wahrgenommen. Ich habe diese Erzählperspektive gewählt, weil sie mir sehr nahe liegt. Ich kenne das. Zum einen bin ich ein Zugezogener, ein Ausländer, der dazugehören möchte, aber nicht immer mit offenen Armen empfangen wird. Zum andern frage ich mich, ob ich überhaupt befugt bin, so ein isländisches, wahres Schicksal zu erzählen. Darum mache ich es mit Hilfe eines fast heimlichen Erzählers. 

     

    Mit Tell hatten Sie sich bereits mit einem historischen Helden beschäftigt und ihn »vom Sockel geholt«. Diverse Schicksalsschläge haben auch Ósmann zu einer tragischen Figur gemacht. Kann die Vermenschlichung solch historisch-idealisierter Figuren als einer der Leitmotive Ihres Schreibens betrachtet werden?  

    Joachim B. Schmidt: Ja, durchaus. Ich möchte hinter die Kulissen schauen, möchte erfahren, wie es den Helden nach ihren grossen Auftritten geht, was sie machen und wie sie sich fühlen, wenn der Vorhang fällt und sie allein und vulnerabel sind. Wobei, Tell und Ósmann sind nicht dieselben. Wenn ich Wilhelm Tell vom Sockel geholt haben sollte, dann mache ich es hier umgekehrt: Ich möchte Ósmann eine Bühne geben, möchte, dass man diesen Fährmann über die Fjordgrenzen hinaus kennenlernen kann. 

     

    »Ein Menschenleben für eine Kuh« schreiben Sie an einer Stelle. Es steht wohl sinnbildend für die damalige Zeit. Haben Sie bei der Recherche weiteres Überraschendes aus dem Island von vor über 100 Jahren erfahren?  

    Joachim B. Schmidt: Bei der Recherche hatte ich oft einen Kloss im Hals. Vieles ist wirklich so passiert, wie es im Buch steht, etwa, dass das Bezirkskomitee einer verarmten Familie eine Kuh gab, unter der Bedingung, dass die Familie ihr jüngstes Kind weggeben würde. Auch mit den vielen Verunglückten übertreibe ich nicht. Manchmal habe ich mich aber schlichtweg nicht getraut, etwas ins Buch zu tun, das ich erfahren habe. Ich wusste zum Beispiel nicht, dass verstorbene Säuglinge und Kleinkinder manchmal zu beliebigen, frisch verstorbenen Personen in den Sarg gelegt wurden. Sie haben also keine eigene Grabstelle bekommen, lagen dafür nicht so allein im Boden. Etwas anderes, das mich auch sehr überrascht hat: Dass schon damals, also um 1900, während üblen Grippewellen regelmäßig Maßnahmen ergriffen wurden wie Versammlungsverbote, also schon vor der Spanischen Grippe. Schon damals wurden Theateraufführungen und Tanzveranstaltungen abgesagt. Wie schnell wir das vergessen haben! Darum haben wir während der Corona-Pandemie das Rad neu erfinden müssen. Das Erzählen alter Geschichten hat also auch einen praktischen Nutzen. 

     

    Ósmann war sehr religiös, glaubte gleichzeitig aber auch an Geister und Elfen. Würden Sie den Glauben an das Elfenreich als typisch isländisch bezeichnen? Nehmen Sie diesen Glauben noch immer in der gegenwärtigen isländischen Gesellschaft wahr?   

    Joachim B. Schmidt: Auf den Bauernhöfen wurde viel aus der Bibel und den Psalmenbüchern gelesen, aber auch aus den alten Saga-Manuskripten und Märchenbüchern. Erstaunlicherweise fand man auf vielen Bauernhöfen, und waren sie noch so arm, Bücher. Die Leute waren belesen, und es wurde viel aufgeschrieben. Besonders aus dem Skagafjord gibt es viele Geistergeschichten – was vielleicht damit zu tun hat, dass so viele Menschen in den Flüssen verunglückt sind. Tatsächlich gibt es auch viele Geschichten über das »verborgene Volk«, wie man die Elfen auch nennt. Ósmann soll sie sogar auf seiner Fähre über den Fluss gebracht habe – ohne eine Gebühr zu verlangen. Übrigens, ganz in der Nähe der Fährstelle wurde eine Straße so gebaut, dass sie keine Elfenhäuser kaputtmachte. Man nimmt also noch heute Rücksicht, wenn auch nur noch äußerst selten. Leider. 

    Ósmann
    Im Warenkorb
    Download Bilddatei
    Kaufen

    Kaufen bei

    • amazon
    • bider und tanner
    • buchhaus.ch
    • genialokal.de
    • hugendubel.de
    • kunfermann.ch
    • orellfuessli.ch
    • osiander.de
    • Schreiber Kirchgasse
    • thalia.at
    • thalia.de
    • tyrolia.at

    Ósmann

    Der hohe Norden Islands um die Jahrhundertwende. Dort setzt Jón Magnússon Ósmann mit seiner Seilfähre Menschen, Tiere und Waren über die Gewässer des Skagafjords. Er ist ein Fischer und Robbenjäger, er sieht Geister und Elfen, er ist ein Menschenfreund, der Bedürftige verpflegt und beherbergt, und er ist ein gottesfürchtiger Trinker und Poet. Überlebensgroß, kräftig, gesellig und dabei versehrt vom eigenen Schicksal, sodass ihn die Fluten zu locken beginnen, die er über vierzig Jahre lang befahren hat. Eine lebenspralle und beinahe unglaubliche Geschichte nach einem wahren Leben.


    Hardcover Leinen
    288 Seiten
    erschienen am 26. März 2025

    978-3-257-07330-0
    € (D) 25.00 / sFr 34.00* / € (A) 25.70
    * unverb. Preisempfehlung
    Auch erhältlich als

     

    Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Seine Romane sind Bestseller und wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Crime Cologne Award und zuletzt mit dem Glauser-Preis. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.

    Weiterlesen
  • Bis im nächsten Jahr, du liebe Frankfurter Buchmesse!

    Nachdem wir 2020 und 2021 pandemiebedingt ausgesetzt haben, war die Vorfreude auf die Frankfurter Buchmesse in Zürich groß. Nicht nur sahen wir den Begegnungen mit Leser:innen, Pressevertreter:innen, Blogger:innen und dem Buchhandel entgegen, es standen die Eröffnungsrede unserer Papyrus-Autorin Irene Vallejo, der Besuch von sieben weiteren Autor:innen und der 70 Jahre Diogenes Talk im Pavilion an.

    Irene Vallejo nach der Festrede © Diogenes Verlag, Stephanie Uhlig

    So vieles geschah auf der Buchmesse, dass der Versuch, im Nachhinein alles der Reihe nach zu berichten, auch nur ein Versuch bleibt. Deswegen schreibt sich dieser Blogbeitrag nicht chronologisch, sondern alphabetisch.

    Weiterlesen
  • Auch der Verleger liest fremd: Philipp Keel empfiehlt 10 Bücher für den Sommer

    Schon zehn Jahre ist er Verleger, schon 20 Programme hat Philipp Keel herausgebracht. Dabei ist er unglaublich vielen Geschichten begegnet. Seine Neugierde und Entdeckungsfreude reicht aber noch viel weiter als das eigene Diogenes Programm.

    Foto: Philipp Keel © Maurice Haas

    Großer Familienroman, Anthologie, Ratgeber und Kinderbuch – eine Story aus Kopenhagen, aus New York oder Berlin: »Mit einem Buch liegen Sie immer richtig.« Selbst wenn es nicht vom Diogenes Verlag ist.
         Wir freuen uns, die persönlichen Empfehlungen unseres Verlegers vorzustellen, mit denen man sich durch jede Situation lesen kann.


    Weiterlesen
  • »Nach ›Bella Ciao‹ wollte ich Borgo di Dentro und die Familie Leone nicht mehr verlassen« Ein Interview mit Raffaella Romagnolo

    In Das Flirren der Dinge lädt uns Raffaella Romagnolo wieder ein in die Welt von Bella Ciao: der historische Roman mit den Schauplätzen Piemont und Genua thematisiert das junge Italien nach 1867 und eine Generation im Aufbruch. Es ist die Geschichte eines jungen Fotografen, der auf einem Auge blind ist – und doch sehend.

    Der Roman ist am  27.4.2022 erschienen. Im Diogenes Interview spricht sie über die Beweggründe, in die Welt von Bella Ciao zurückzukehren, über ihre Faszination für den magischen Realismus und darüber, wie die Fotografie unsere Wahrnehmung der Welt verändert hat.

    Foto: © Lucia Bianchi
    Weiterlesen
  • »Tell ist eine Schweizer Isländersaga.« Ein Interview mit Joachim B. Schmidt

    Historischer Schmöker, Thriller und endlich im 21. Jahrhundert angekommen: Tell reloaded! 
    Die alten Isländersagas haben den Schweizer Autor, der seit über zehn Jahren in Island lebt, inspiriert. Nun hat Joachim B. Schmidt nach den Schweizer Kronjuwelen gegriffen und die Tell-Saga neu erfunden. Der neue Roman des Autors von Kalmann ist am 23. Februar erschienen. Im Diogenes-Interview spricht er über seine Beweggründe, sich dieses Stoffes anzunehmen und wir erfahren, wie es ihm gelungen ist, isländische Erzählelemente mit diesem Schweizer Ur-Mythos zu verflechten. 

    Foto: Eva Schram / © Diogenes Verlag
    Weiterlesen
  • »Jetzt denke ich, dass diese Erfahrung eine der wichtigsten ist, die ich je beim Schreiben gemacht habe.« Marco Balzano über ›Ich bleibe hier‹

    Marco Balzano schreibt über das Leben einer widerstandsfähigen Frau, einer Frau, die sich mit Leib und Seele für ihr Dorf einsetzt. Wie es dazu kam, dass er ein Buch über diese wahre historische Begebenheit schrieb, erzählt der Bestsellerautor den italienischen Letteratitudine News.

    Marco Balzano über sein Buch Ich bleibe hier

    Marco Balzano über Ich bleibe hier

    Schon lange wollte ich einen Roman mit einer weiblichen Hauptfigur schreiben. Ich wollte „ich“ sagen und eine Frau sein. Jetzt denke ich, dass diese Erfahrung eine der wichtigsten ist, die ich je beim Schreiben gemacht habe. Denn alles wurde ursprünglich, emotional, mütterlich. Verletzlichkeit und Mut, zwei Eigenschaften, die ich nie als gegensätzlich empfunden habe, verstärkten sich in ungekannter Weise. Trina (Caterina) – dies der Name der Protagonistin – heißt wie meine Tochter, wie die Dorfkirche des Grenzorts, an dem die Geschichte spielt, und vor allem wie die Frau, die das Dorf als Letzte verließ, als der Montecatini-Konzern die Häuser sprengte, die Bewohner in Container verbannte, das Staubecken volllaufen ließ und alles für immer überflutete. Als das Wasser schon hoch stand, wurde bemerkt, dass eine alte Frau dortgeblieben war, ein Foto zeigt sie auf einem Tisch kniend, die Hände an das Fensterbrett geklammert. Ich stelle mir Trina vor, die schreit „Ich bleibe hier!“, und stur Widerstand leistet, auch als sie keinen Boden mehr unter den Füßen hat, sondern Wasser. Ich sehe sie, wie sie sich weigert mitzukommen, als man sie mit einem Boot abholen will und sie wegtragen muss. So eine Frau wollte ich, eine, die so unbeirrbar an ihrer Welt und den ihr lieben Menschen festhält.

    In meinen früheren Romanen habe ich immer erzählt, dass es absolut legitim ist wegzugehen, dass die Emigration eine außerordentliche Metapher für unseren berechtigten Wunsch ist, unser Leben zu verbessern und, warum nicht, unser Glück zu finden. Allerdings übersehe ich trotz dieser Überzeugung nicht, wie sehr wir auch Menschen brauchen, die es verstehen dazubleiben, Widerstand zu leisten, die Dinge von innen heraus zu verändern. Doch das ist nicht alles: Ich wollte einen Roman schreiben, der vor einem anderen Hintergrund spielt und ein anderes Thema behandelt, aber dennoch weiter die Benachteiligten, das am wenigsten bekannte Italien beleuchtet, also dem sozialkritischen literarischen Ansatz treu bleiben. Ich fühlte, dass ich mich auf ein anderes Wissen einlassen musste, das mir nicht vertraut war, um die Unruhe und den Hunger dessen zu spüren, der Neuland betritt. Als ich dann an jenem Sommertag im Vinschgau, in diesem Dörfchen wenige Kilometer von der Schweiz und von Österreich entfernt, ankam und den Kirchturm aus dem Wasser ragen sah, dachte ich sofort, dass hier eine Geschichte wartete. Ein Schriftsteller ist zuallererst einer, der Geschichten sucht und es versteht, ihnen zuzuhören: Hier ist mir die Geschichte zum ersten Mal von sich aus entgegengekommen. Der Kirchturm erzählt mit seiner Präsenz davon, dass dort unten eine Zerstörung stattgefunden hat und dass es vor der Auslöschung einen vielschichtigen Kosmos von Leuten gegeben haben muss, die mühevoll und mit Würde ihr Leben fristeten. Bauern, Hirten, Senner. Meine Geschichte würde von den Untergegangenen handeln, während sich darüber ganz ahnungslos die Geretteten tummeln. Ja, denn dem Blick des Ankömmlings bietet sich in Graun eine überraschende und beunruhigende Szenerie: Leute, die in der Sonne liegen, Segelboot fahren, am Ufer des Stausees Ball spielen, ein Tretboot mieten, um den Kirchturm zu umrunden, und mit der Kirche im Hintergrund Selfies knipsen. Zwischen dem damaligen Hirten- und Bauerndorf und dem jetzigen Massentourismus besteht keine Verbindung. Zwischen dem seinerzeit armen Südtirol voller Analphabeten und dem Südtirol von heute – reich, ordentlich, mit Geranien an den Fenstern – besteht keine Verbindung. Dieses Dorf und diese Region scheinen auszudrücken, dass sich die Geschichte einfach überlagert, ohne jegliches dialektisches Verhältnis: ohne jegliches Vermächtnis.

    Foto: © Pixabay
    Weiterlesen
  • »Ehrlich gesagt wünschte ich, ich wäre ein bisschen so wie Kalmann. « Joachim B. Schmidt im Interview

    Er ist der selbsternannte Sheriff von Raufarhöfn. Er hat alles im Griff. Kein Grund zur Sorge. Tag für Tag wandert er über die weiten Ebene um das beinahe ausgestorbene Dorf, jagt Polarfüchse und legt Haiköder im Meer aus, um den Fang zu Gammelhai zu verarbeiten. Doch in Kalmanns Kopf laufen die Räder manchmal rückwärts. Als er eines Winters eine Blutlache im Schnee entdeckt, überrollen ihn die Ereignisse. Mit seiner naiven Weisheit und dem Mut des reinen Herzens wendet er alles zum Guten. Kein Grund zur Sorge.

    Wir haben mit Joachim B. Schmidt über seinen neuen Roman gesprochen.

    Was ist der Kern Ihres Romans?

    Im Mittelpunkt des Romans steht der Haifischfänger Kalmann. Er stolpert in einen Vermisstenfall hinein, was sein bisher simples Leben total kompliziert macht.

     

    Kalmann ist Ihr viertes Buch. Was macht diesen Roman besonders für Sie?

    Es hat mir enormen Spaß gemacht, dieses Buch zu schreiben. Ich habe mir dabei alle Freiheit gelassen, denn – wenn ich ganz ehrlich sein darf – dieses Buch war mein letzter Versuch, als Schriftsteller Fuß zu fassen. Make or break. Meine drei vorherigen Bücher haben zwar positives Echo ausgelöst, brachten mich aber auf keinen grünen Zweig. Ich habe mir gesagt: So, jetzt schreibst du einfach nach Lust und Laune, und wenn es nichts wird, machst du halt was anderes.

    Dass ich bei Diogenes einen Traumverlag gefunden habe, ist schon jetzt ein Großerfolg für mich, eine wichtige Bestätigung.

    Aber das wirklich Besondere an meinem vierten Roman ist der Protagonist Kalmann. Eigentlich hätte er gar nicht die Hauptfigur, sondern einfach nur der Dorftrottel sein sollen. Doch schon nach wenigen Seiten ist er ins Rampenlicht gelatscht und dann dortgeblieben. Noch nie habe ich die Kontrolle über eine Romanfigur so sehr verloren wie über ihn. Ich habe ihn darum einfach machen lassen und mich mitreißen lassen.

     

    Wie würden Sie Kalmann beschreiben und wie nah ist er Ihnen?

    Salopp ausgedrückt ist Kalmann der Dorftrottel von Raufarhöfn (sprich: Reuwarhöbb). Er hat eine geistige Behinderung, seine Mutter ist sein Vormund. Aber was genau mit ihm los ist, will ich bewusst nicht erläutern –

    und ich weiß es auch tatsächlich selbst nicht. Kalmann ist einfach Kalmann, Behinderung hin oder her. Er ist ein Original, und in gewisser Hinsicht ist er viel gescheiter als alle anderen. Kalmann ist einzigartig, er ist verschroben, naiv und so ehrlich, dass es manchmal weh tut. Er ist mir viel näher, als man denkt. Im Gegensatz zu ihm gelingt es mir aber viel besser, mein Misstrauen, meinen Missmut, meine Enttäuschung oder meine Ängste vor anderen zu verbergen. Ehrlich gesagt wünschte ich, ich wäre ein bisschen so wie Kalmann. Er kann die Dinge einfach auf den Punkt bringen. Ich nicht – wie man diesen langen Antworten entnehmen kann. Aber ich vermute, dass Kalmann mein bisher persönlichstes Buch ist. Ich vermute indes, jeder hat einen Kalmann in sich, für den man sich aber ein wenig schämt.

     

    Kalmann ist ein Philosoph. Waren seine teils poetischen, teils sehr abgeklärten Gedanken schon da, oder kamen sie mit ihm?

    Mich in die Romanfigur zu versetzen hat mir geholfen, die Dinge, die Welt und das Universum besser zu verstehen. Kalmanns kindliche Naivität brachte überzeugende Einsichten zu Tage. Etwa: Ein Ei kann sich nicht selber legen. Oder: Auf dem Friedhof fällt eine Leiche am wenigsten auf.

     

    Wie sind Sie nach Island gekommen? Wie lebt es sich dort, und was macht die Faszination des Landes für Sie aus?

    Darüber könnte ich ein ganzes Buch schreiben. Meine Faszination für Island begann schon in der Schule, aber so richtig verliebt habe ich mich im zarten Alter von 16 Jahren auf meiner ersten Islandreise. Meine Patentante Julika hat mir die Reise zum Geburtstag geschenkt und mich begleitet.

    In Island erleidet ein Schweizer keinen Kulturschock, schließlich leben beide Völker auf einem Inselchen in Europa: zwei ehemalige Bauernvölker, die von den Königen in Ruhe gelassen werden wollten. Die Leute machen noch heute ihr eigenes Ding. Und doch ist Island völlig anders: das Meer, die unbewohnten Steinwüsten, die Fjorde, die Vulkane, die dunklen Winter, die hellen Sommer … Island ist für mich ein Wunderland und Inspiration pur.

     

    Flora und Fauna Islands spielen eine besondere Rolle im Roman, der Schnee ist beinahe ein Protagonist. Woher kommt dieses Detailwissen?

    Zum einen lebe ich nun schon seit 13 Jahren in Island. Das Wetter beeinflusst meinen Alltag. Etwa wenn ich wegen ständigen Winterstürmen mit den Kindern nicht aus dem Haus komme. Oder wenn die Kinder im Sommer schon um vier Uhr aufstehen wollen, weil die Sonne zum Fenster hereinscheint. Ich habe für ein Jahr in den Westfjorden gelebt, in Isafjördur. Manchmal waren wir für einige Tage am Stück von der Außenwelt abgeschnitten; Straßen zu, Flüge gestrichen. Kürzlich haben sich zwei Touristen im Schneesturm aus den Augen verloren und sind beide erfroren. Das Wetter in Island ist unbarmherzig und spielt fast täglich eine Rolle.

    Zum anderen hat das Wetter auch im Kanton Graubünden, meiner alten Heimat, das Sagen. Knapp unterhalb der Waldgrenze gleichen sich Fauna und Flora. Island und Graubünden gleichen sich.

    Aber mal abgesehen von der rauhen Natur, die mich seit meiner Kindheit umgibt, bin ich ein neugieriger Mensch. Während den Buchrecherchen bin ich ganz Journalist. Und nicht zuletzt hilft mir die Ausbildung zum Reiseleiter, die ich in Island gemacht habe. Während einem Winter musste ich nämlich alles über Island lernen, nicht nur Fauna und Flora, sondern auch Geschichte und Geologie.

     

    Wie gut kennen Sie die Romanschauplätze?

    Ein guter Freund von mir hat seine Doktorarbeit über Raufarhöfn geschrieben. Durch ihn habe ich einiges über die missliche Lage gelernt, in der sich die Leute dort befinden. Deshalb wollte ich meinen nächsten Roman da ansiedeln und verbrachte ein paar intensive Tage in dem winzigen Ort, belästigte die Fischer am Hafen, die Seniorinnen und Senioren im Treff, den Dichter in seiner Bibliothek, und ich trampelte über die Melrakkasletta, die schier endlose, sumpfige Ebene. Ich stand am nördlichsten Zipfel der Insel und blickte übers Meer bis fast zum Nordpol. Eine phantastische Kulisse für einen Vermisstenfall.

     

    Foto: Eva Schram/ © Diogenes Verlag
    Weiterlesen
  • »Es geht nicht um Geschichte, sondern um Geschichten.« Charles Lewinsky im Interview

    Der Sebi ist nicht gemacht für die Feldarbeit oder das Soldatenleben. Viel lieber hört und erfindet er Geschichten. Im Jahr 1313 hat so einer es  nicht leicht in einem Dorf in der Talschaft Schwyz, wo die Hacke des Totengräbers täglich zu hören ist und Engel kaum von Teufeln zu unterscheiden sind. Doch vom Halbbart, einem Fremden von weit her, erfährt der Junge, was die Menschen im Guten wie im Bösen auszeichnet – und wie man auch in rauhen Zeiten das Beste aus sich macht.

    Der Halbbart steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2020: ein Roman voller Schalk und Menschlichkeit, der zeigt, wie aus Geschichten Geschichte wird.

    Wir haben mit Charles Lewinsky über seinen neuen Roman gesprochen.

    1. Der Roman heißt Der Halbbart. Was macht den Halbbart zum Protagonisten? Steht nicht eigentlich der junge Sebi im Mittelpunkt des Geschehens?

    Charles Lewinsky: Das ist eine Frage, die ich mir beim Schreiben auchgestellt habe. Wer ist wichtiger, der Beschreiber oder der Beschriebene? Mit jedem Kapitel ist mir klarer geworden: Ohne seine Begegnung mit dem Halbbart wäre der junge Sebi kein ungewöhnlicher Charakter. Ohne die übergroße Figur des Halbbart hätte er wenig zu beobachten und noch weniger zu erzählen. Es ist der Halbbart, der ihm die Welt öffnet – und darum gebührt diesem auch der Buchtitel.

    2. Sie widmen das Buch Ihrem Bruder – hat das einen besonderen Grund?

    Charles Lewinsky: Als kleine Buben haben mein Bruder und ich jeden Abend das Einschlafen hinausgezögert, indem wir gemeinsam Geschichten erfunden haben. Im Rückblick würde ich sagen: Diese Heldensagen – denn natürlich waren wir beiden die Helden jeder Erfindung – waren meine ersten Gehversuche für meinen späteren Beruf. Denn ich bin heute noch der Meinung: Die wichtigste Aufgabe eines Romanautors ist es, eine interessante Geschichte zu erzählen.

    Foto: Serge Höltschi / © Diogenes Verlag
    Weiterlesen
  • »Der Staat tut alles, damit die Menschen die Grausamkeiten des Sowjetregimes vergessen, und unsere Aufgabe ist es, das nicht zuzulassen.« – Ein Interview mit Sasha Filipenko

    Alexander ist ein junger Mann, dessen Leben brutal entzweigerissen wurde. Tatjana Alexejewna ist über neunzig und immer vergesslicher. Die alte Dame erzählt ihrem neuen Nachbarn ihre Lebensgeschichte, die das ganze russische 20. Jahrhundert mit all seinen Schrecken umspannt. Nach und nach erkennen die beiden ineinander das eigene gebrochene Herz wieder und schließen eine unerwartete Freundschaft, einen Pakt gegen das Vergessen.

    Wir haben mit Sasha Filipenko über seinen neuen Roman gesprochen.

    Foto: Lukas Lienhard / © Diogenes Verlag
    Weiterlesen