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»Der Staat tut alles, damit die Menschen die Grausamkeiten des Sowjetregimes vergessen, und unsere Aufgabe ist es, das nicht zuzulassen.« – Ein Interview mit Sasha Filipenko

Alexander ist ein junger Mann, dessen Leben brutal entzweigerissen wurde. Tatjana Alexejewna ist über neunzig und immer vergesslicher. Die alte Dame erzählt ihrem neuen Nachbarn ihre Lebensgeschichte, die das ganze russische 20. Jahrhundert mit all seinen Schrecken umspannt. Nach und nach erkennen die beiden ineinander das eigene gebrochene Herz wieder und schließen eine unerwartete Freundschaft, einen Pakt gegen das Vergessen.

Wir haben mit Sasha Filipenko über seinen neuen Roman gesprochen.

Foto: Lukas Lienhard / © Diogenes Verlag

In Ihrem Roman geht es um ein schockierendes Kapitel der russischen Geschichte: Wie die Sowjetunion die russischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg im Stich ließ, ja, sie und sogar ihre Familien als Verräter verfolgte. Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen?

Sasha Filipenko: Ich finde es gut, wenn ein Buch nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern auch eine Geschichte hat. Einmal hat mich bei einer Signierstunde ein Leser um eine Unterschrift gebeten und gesagt, er sei Historiker, Archivar, und wenn es mich interessiere, könne er mir interessante und schwer zugängliche Dokumente schicken. Ich habe natürlich zugesagt, und das hat mein Leben auf einen Schlag verändert. Jeden Morgen habe ich beim Kaffeekochen Dokumente gelesen, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließen, aber es hat lange gedauert, bis daraus eine Geschichte entstanden ist. Erstens gab es vor mir schon den großen Solschenizyn und den großen Schalamow, zweitens wusste ich nicht, ob ich moralisch das Recht hatte, über die Schrecken der Stalinzeit zu schreiben, wenn ich selbst nicht ihr Opfer war. Schließlich hat mir eines Tages Konstantin Boguslawski (so hieß der Archivar) zwei Briefe gezeigt, die das Rote Kreuz aus Genf an das sowjetische Außenministerium geschickt hatte, und ich hatte auf Anhieb die Idee zu meinem Roman.

Sie zitieren ausführlich Originaldokumente aus dem Archiv des Roten Kreuzes in Genf. Wie haben Sie für den Roman recherchiert?

Es gab zwei Ebenen der Arbeit an diesem Roman: Einerseits die künstlerische Arbeit, andererseits richtige journalistische Recherchen, weil viele der Dokumente geheim waren. Dazu muss man wissen, dass wir derzeit eine völlig idiotische Situation haben. In Russland wurden in der Regierungszeit Jelzins viele Archive geöffnet, unter Putin liegen dieselben Dokumente jetzt wieder unter Verschluss. Von manchen dieser Dokumente wurden Kopien gemacht, die nun etwa in Deutschland, in Frankreich oder in England auftauchen. Jedenfalls habe ich ein Jahr lang versucht, in den russischen Archiven die Korrespondenz der Sowjetmacht mit dem Roten Kreuz in Genf einzusehen, habe aber nie Zutritt erhalten. Als mir klar war, dass ich an die Dokumente in Russland nicht rankomme, hatte ich eine ganz simple Idee: Wenn die Briefe aus der Schweiz kamen, vielleicht wurden sie dort ebenfalls aufbewahrt? Und so war es, Volltreffer. Denn die Schweizer hatten ihre Briefe nicht nur in die Sowjetunion geschickt, sondern auch eine »Biographie« eines jeden Briefes aufgezeichnet (ob er ankam, ob er beantwortet wurde). So konnte ich dank des Archivs des Roten Kreuzes in Genf den dokumentarischen Teil des Romans rekonstruieren.

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In Rote Kreuze kreist alles um das Thema Erinnern und Vergessen, im privaten Leben wie als Gesellschaft. Warum dürfen Schicksale wie das von Tatjana Alexejewna nicht vergessen werden, warum ist das wichtig für die Gegenwart?

Sowohl in Russland als auch in meinem Heimatland Weißrussland neigt heute nicht nur die Gesellschaft selbst dazu, die Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts zu vergessen (was leider natürlich ist), sondern – und das ist weitaus gefährlicher – der Staat trifft bewusst Maßnahmen, um diese Erinnerung auszulöschen.

Beispiele dafür gibt es leider unzählige, hier nur eines: In Perm war im ehemaligen GULAG ein Gedenkmuseum eingerichtet, das von den schrecklichen Repressionen der Stalin-Zeit erzählte. Daraus wurde vor kurzem ein Museum über Gefängniswärter gemacht, das Touristen präsentiert, wie gut das Strafvollzugssystem der UdSSR funktionierte. Der Staat tut alles, damit die Menschen die Grausamkeiten des Sowjetregimes vergessen, und unsere Aufgabe ist es, das nicht zuzulassen.

Tatjana Alexejewna, die alte Dame, die sagt, dass Gott ihr Alzheimer geschickt hat, weil er Angst vor ihr hat und davor, dass sie mit intakter Erinnerung zu ihm kommt und Rechenschaft verlangt, ist eine wunderbare Figur. Hat sie ein reales Vorbild?

Die Figur der Tatjana Alexejewna ist aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt. Einerseits waren meine Großmutter und ihre Freundinnen die Prototypen für sie, andererseits jene tapferen Frauen in Russland, die nach wie vor, trotz ihres hohen Alters, unentwegt weiterkämpfen für die Wahrheit und das Recht auf Gedenken.

Sie haben ja ursprünglich am Konservatorium Cello und Kontrabass studiert, die Ausbildung dann aber abgebrochen. Wann haben Sie angefangen, literarisch zu schreiben?<