Filter

  • Neuste Beiträge
  • Archiv
  • Monat
  • Foto/ Video/ Audio

Ein Pelzmantel und 26 Grabsteine. Zum 90. Geburtstag auf den Spuren von Edward Gorey

Von Renata Sielemann

Ein Schatten spendender Baum, unter dem 26 kleine Grabsteine stehen: Ich befinde mich im Garten des Edward-Gorey-Hauses in Yarmouth Port auf Cape Cod, Massachusetts. Hier ruhen die kindlichen Protagonisten mit Namen von A bis Z, die Gorey in seinem makaber schönen Buch Gashlycrumb Tinies auf 26 unterschiedliche Arten sterben lässt: von der gestürzten Alma über Neville, der an »Ennui« stirbt, bis hin zu Zenzi, die »zu viel Schnaps gesoffen«. Jedem Kind hat Edward Gorey eine ganz eigene Todesart zugedichtet.

Foto: © Renata Sielemann

Edward Gorey, der am 22. Februar 1925 geborene Autor, Art Director des New Yorker Verlags Doubleday & Co, Illustrator, Kostüm- und Bühnendesigner, gestaltete unzählige Umschläge und veröffentlichte mehr als hundert Bücher. Seine Zeichnungen und Geschichten haben eine ganz besondere Anziehungskraft. Sie wirken verstörend und beglückend zugleich, rühren an düstere Ängste und sind dennoch oft humorvoll.

Der Besuch in seinem Haus in der Strawberry Lane 8 ist ein Geheimtipp. Gorey kaufte das zweihundert Jahre alte Kapitänshaus 1979 und lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2000 darin zusammen mit unzähligen Katzen. Das Haus wurde daraufhin zum Museum gemacht, welches Goreys Leben und Werk gewidmet ist. Ein ganz besonderer Ausflug für USA-Reisende, die auf einer Ostküstentour auch auf der Halbinsel Cape Cod Station machen!

Foto: © Renata Sielemann
Foto: © Renata Sielemann
Foto: © Renata Sielemann

Die engagierten Mitarbeiter beantworten mit Herzblut jede Frage über Gorey und geben Anekdoten zum Besten, wie der stets in seinen langen Pelzmantel gehüllte, in New York auch »Der letzte Viktorianer« genannte Gorey im Kleinstädtchen Yarmouth Port herumwandelte. Ich spüre: Die Mitarbeiter sind alle auch aus persönlicher Begeisterung für den Künstler dabei. Da Gorey seinen Nachlass dem Tierschutz vererbte, hat eine Stiftung das Haus übernommen und ist nun für den Erhalt zuständig.

Im ehemaligen Wohnzimmer sind die internationalen Buchausgaben des Künstlers ausgestellt und auch einige Diogenes-Ausgaben zu entdecken. Von Edward Gorey ist derzeit die Schmuckausgabe der Lugubrious Library und der kleine Band Halloween lieferbar sowie das mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnete Buch Schorschi schrumpft. Einem Millionenpublikum ist der Künstler auch durch die Buchcover von John Irving vertraut, die jeweils eine Vignette von Gorey schmückt. Auch diese Bücher sind ausgestellt – und der Leiter des Museums freut sich, als ich mich als Diogenes-Mitarbeiterin zu erkennen gebe.

Das Erdgeschoss des Hauses ist einzigartig: Neben den kleinen Schränken und Vitrinen – voll mit Erinnerungsstücken an den Künstler – sind selbst die kleinsten Ecken dekoriert, und zwar inklusive kleiner goreyesker Schauereffekte. Etwa beim Blick die Stufen der alten Holztreppe hinauf: Da liegt eine kopfüber gefallene Puppe. Ob sie gestolpert ist oder gestoßen wurde, bleibt der eigenen Phantasie überlassen.

»Closest you will ever get to a Tony«, neckt ein amerikanischer Papa seinen ca. zehnjährigen Sohn, der ehrfürchtig den ausgestellten Tony Award bestaunt. Gorey hatte dieses Pendant zum Oscar in der Musical-Welt für seine Broadway-Kostüme zu Dracula gewonnen.

Auch der letzte seiner legendären Pelzmäntel steht ausgestellt. Goreys private Bibliothek mit nicht weniger als 25'000 Büchern wurde hingegen an die San Diego State University verkauft, die auch seine Zeichnungen sammelt.

Foto: © Renata Sielemann
Foto: © Renata Sielemann
Foto: © Renata Sielemann

Nach dem Ausflug kehre ich melancholisch verzaubert zurück – und freue mich darauf, mir zu Hause mal wieder die Lugubrious Library vorzunehmen, zehn ausgewählte typische Gorey-Geschichten in einem schönen Schuber vereint, – und in der Diogenes Chronik nochmals nachzulesen, wie genau es der Diogenes Gründer Daniel Keel Anfang der 1960er Jahre geschafft hat, dass diese mysteriöse und faszinierende Gestalt zum Diogenes Autor wurde. Und siehe da, zurück in Zürich lese ich, dass er Gorey mit dem prophetischen Satz gewonnen hat: »Ich bin mir fast sicher, dass Ihre Bücher nur eine kleine Gruppe von Liebhabern ansprechen, würde aber trotzdem Ihre Zeichnungen als eine Art Hobby verlegen. Was meinen Sie dazu?« Wie schön, dass Gorey sich einverstanden erklärte und im Laufe der Jahre mehr als sechzig amüsante, düstere, nostalgische und klaustrophobische, poetische Edward-Gorey-Bücher bei Diogenes erscheinen konnten. Und auch wenn die Gruppe der Liebhaber weiterhin klein ist: Ich zähle mich gern zum erlauchten Kreis.

Das Edward-Gorey-Haus ist jeweils von April bis Dezember geöffnet.  Mehr Infos gibt es hier.

Edward Gorey 1963 in New York (Foto: © Daniel Keel).
Daniel Keel zu Besuch bei Edward Gorey in Cape Cod, 1977 (Foto: © Anna Keel).