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Bon Appétit mit Anne Reinecke

Wärmende Suppen und Eintöpfe sind genau das richtige für den Herbst. Dazu passt die Kurzgeschichte von Anne Reinecke über Gulasch aus der neuen Anthologie Bon Appétit. Neben Inspiraiton für das nächste Essen mi Freunden oder Familie, bietet die Geschichte allerlei Tipps für das perfekte Gulaschgericht.

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Bon Appétit

Zu Tisch bitten Doris Dörrie, Sy Montgomery, Hugo Loetscher u.v.a.

»Ich nehme den größten Topf, den ich habe. Butterschmalz zerlassen und das Fleisch darin portionsweise anbraten. Gulasch, weil ich nicht weiß, was ich sonst machen soll, und weil ich glaube, dass du so schon verstehen wirst. Denn du kennst mich ja. Und du kennst ja meine Gulaschgeschichten. Familiengeschichten. Familienrezept aus zwei Stammbäumen. Mütterlicherseits, großmütterlicherseits, ungarisch: Sieben rote Paprikaschoten. Waschen, putzen, in Streifen schneiden. Die väterliche Tradition verlangt Rindfleisch und viel Rotwein. Daran halte ich mich. Das ist mein Lieblingsgeschmack, weißt du? Du weißt das. Mein Vater hat immer nach Rotwein gerochen, wenn man nah rangegangen ist, hab ich dir das erzählt? Und dass ich das mochte, diesen Geruch, hab ich das erzählt? Ja, hab ich, und wie er mit dem Fahrrad gegen eine Wand gefahren ist, weil er betrunken war, und alle haben geguckt. Und ich habe zurückgeguckt in diese Dorfrunde und meine bösen schwarzen Rabenbrauen hochgezogen, bis sie alle weggegangen sind, da war ich elf oder zwölf. Als du elf oder zwölf warst, hat dein Vater auch schon immer so gerochen, hast du gesagt, aber du mochtest das nicht.
   Zwiebeln schälen und in dünne Ringe schneiden. Ein Kilo Zwiebeln, genug um zu weinen. Grund genug, Schwester. »Wir wollen uns nicht verlassen.« – »Solange wir leben, nicht.« Kennst du das? Nein, deine Mutter hat dir keine Märchen vorgelesen, als du klein warst: zu viel Feuer und Gift. Aber dein Vater hat sich Geschichten für dich ausgedacht, und deine Augen leuchten immer noch davon. Ich hätte dich gern schon damals gekannt.
   Ich kenne dich, seit wir gerade erwachsen waren. Ich mochte dich sofort, das war nicht schwer, jeder mochte dich, ich und alle anderen, wir kannten ja Grimms Märchen. Und du warst eine Märchenprinzessin: so schön, sittsam, freundlich und verständig, dass sie jedermann, der sie ansah, liebhaben musste. Mich zu mögen, war schwerer. Trotzdem sagtest du irgendwann: »Du bist jetzt meine Schwester.« Und ich fand es richtig, dass du es warst, die das entschied. Du hattest mich ausgesucht, und ich war froh drum. Ich hatte keine Geschwister. Ich hätte dich gern schon als Kind gehabt. Ich hätte mich an dich lehnen können. Du kamst mir so heil vor, viel heiler als ich. Dass das ein Irrtum sein könnte, kein Gedanke daran.
   Ich weiß auch nicht, warum ich geglaubt habe, wir würden einander nie wehtun. Eigentlich wusste ich das doch besser. Besser als du hätte ich das wissen müssen. Weißt du noch, wie du diesen einen Film nicht mochtest? Ich war traurig, weil ich mich erkannte in der schönen Schauspielerin, die dir so ähnlich sah. Aber du sagtest, das sei alles so fern, was hätte denn dieser ganze Wahnsinn, diese Zermürbung mit uns zu tun? Ja, das weißt du noch, daran habe ich dich erinnert, später, und du hast genickt und gesagt, ja, und jetzt sei es trotzdem ganz genau so. Da saßen wir im Auto, du bist gefahren, draußen bewegte sich deine Heimatstadt. Und ich habe dich verstanden, und du hast mich verstanden.
   Weißt du, dieser kurze Zeitraum, bevor es kippt, wenn wir beide das schon sehen können? (»Trink nicht, sonst wirst du ein Wolf und frissest mich.« – »Ich will warten, bis wir zur nächsten Quelle kommen, aber dann muss ich trinken, du magst sagen, was du willst; mein Durst ist gar so groß.«) Ich weiß dann schon, wie du mir fehlen wirst. Ich will dann etwas sagen, das alles anhält. Zauberformeln. »Töpfchen, steh!« Oder: »Valproat!« Aber es hilft ja nichts, aus meinem Mund: Der Raum wird sich gleich krümmen oder die Hornhaut.«

Photo by Artem Tryhub on Unsplash

»Im Krankenhaus habe ich Angst gehabt, dass du mich wegschickst oder anschreist oder was weiß ich. Ich habe die Tür zu deinem Zimmer geöffnet. Jemand hat auf dem Bett gelegen, mit dem Rücken zu mir. Und ich habe nicht erkannt, dass du das warst. Dann hast du dich umgedreht. Der erste Blick nach fünf Wochen. Und ich habe nicht erkannt, dass du das warst. Du hast ausgesehen wie ein großer, blasser Junge. Aber du hast mich erkannt, und ich habe deine Stimme erkannt: »Hey«, hast du gesagt, »Süße.« Ganz leise. Und froh warst du, das habe ich gesehen, und das hat mich beruhigt. »Es kann sein, dass ich gleich wieder einschlafe«, hast du gesagt.
   Ich habe mich zu dir gesetzt, und wir haben uns an den Händen gehalten. Und dann habe ich auf dem Wochenplan angekreuzt, was du gerne isst. Das wusste ich, das hat mich beruhigt. Beruhigt hat mich außerdem: Dein Kopfkissen für dich aus deiner Wohnung holen. Unterwäsche, Shampoo, Deodorant, Kamm, Bücher. Einen Pullover für dich aussuchen, weil ich wusste, welchen du am liebsten hast. 
   Tomaten überbrühen, häuten, würfeln. Brühe, Lorbeer, Thymian, Salz, Pfeffer, Paprika. Ich schneide noch eine Orange mit rein. Das ist jetzt keine mütterliche oder väterliche Blutlinie, das ist neu, von mir für dich, Schwesterchen, weil Orangen gut sind und weil du das verstehen wirst. Einmal hat mir ein Mann, mit dem ich geschlafen hatte, am Morgen Orangen ausgepresst, ohne dass ich darum gebeten hätte und obwohl er fertigen Orangensaft im Kühlschrank hatte, das hatte ich genau gesehen, eine ganze Flasche. Sich selbst hat er keinen Saft gepresst, das war nur für mich. Das hab ich dir noch nicht erzählt, oder? Oder doch? Weißt du: Ich hätte heulen können damals vor Glück über diesen Saft. Grund genug.
   Das Gulasch vier Stunden schmoren lassen, bis das Fleisch weich ist. Mindestens vier Stunden. Man soll die Zeit schmecken. Das ist das Wichtigste bei diesem Gericht. Weißt du noch: Dies und das. Wie du weggegangen bist, mit eingezogenem Nacken, und ich habe dir nachgesehen und wusste nicht, was tun, und dann habe ich es nicht ausgehalten und dich angerufen: Als müsstest du mich trösten, weil es dir schlecht ging, und du hast milde geklungen und gesagt: »Ja. Das ist jetzt eben so.« Wie wir auf dem See herum gerudert sind, weil es nichts zu sagen gab. Rudern. Schwimmen. Telefonieren. Möbel auf- und abbauen, Kisten hin- und hertragen. Essen. Fernsehen. Weinen. Spazieren gehen. Im Gras liegen. Reden. Kaffee. Dein Tisch. Mein Tisch. Deine Hand halten. Lachen. An einer Straßenecke stehen und auf dich warten und dich schon im Augenwinkel an irgendetwas erkennen. Dein Blick, wie er fremd wird  und dann wieder nah kommt und dann wieder fremd wird. Meine Sorge um dich. Meine Angst um dich. Meine Wut auf dich. Deine Wut auf mich. Meine Sehnsucht nach dir.
   Ab und zu Rotwein nachgießen. Und umrühren. Ansonsten: Warten. Man soll die Zeit schmecken. Das ist das Wichtigste. An meinem Küchenschrank hängt eine Postkartevon dir, du hast sie nicht unterschrieben. Du hast gewusst, dass ich deine Schrift erkenne.«

(Auszug aus Bon Appétit, Seiten 223 bis 227, © 2021 Diogenes Verlag AG Zürich)

Bon Appétit | Leseprobe 

Wer selbst ein Gulasch nachkochen möchte, halte sich an dieses oder dieses Grundrezept und verfeinert ein solches mit den Tipps aus dem obigen Text:
Sehr viele Zwiebeln und Paprikaschoten. Rotwein, der zwischendurch immer nachgegossen wird. Gehäutete & gewürfelte Tomaten. Brühe, Lorbeer, Thymian, Salz, Pfeffer, Paprika und eine Orange. Mindestens 4 Stunden Schmorzeit.

Lust auf mehr von Anne Reinecke? Zuletzt erschien ihr Roman Leinsee bei Diogenes.