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»Die Seiten, die wir geliebt haben, wohnen tief in unserer Erinnerung.«
Irene Vallejos Hommage an die Welt der Bücher

Der mehrfach preisgekrönte Sensationserfolg aus Spanien, Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern, ist ein erzählendes Sachbuch, das sich liest wie ein Abenteuerroman. Die Autorin Irene Vallejo unternimmt darin eine Reise durch die Geschichte des Buches, von den Anfängen der Bibliothek von Alexandria bis zum Untergang des Römischen Reichs und verbindet gekonnt klassische Werke mit zeitgenössischen Debatten.

Das Sachbuch feierte am 27. April 2022 seine Premiere. Ihr Brief an die deutschsprachigen Buchhändler:innen, den sie zu diesem Anlass verfasst hat, ist so viel mehr: eine leidenschaftliche und kluge Hommage an die Welt der Bücher – und an alle, die Bücher lesen, lieben und verbreiten. Aber lesen Sie selbst!

© James Rajotte

An meine geschätzten Buchhändlerinnen und Buchhändler

Seit Jahrhunderten bieten uns Bücher eine heimelige Zuflucht, geschützt vor der Witterung, Notlagen und Schweigen. Nach den Tagen des Kummers und des Eingeschlossenseins, die wir in der letzten Zeit durchlebt haben, stellen wir – einmal mehr – fest, dass das gedruckte Wort unsere Anspannung lindert und uns reisen lässt, über Balkone und Grenzen hinaus. Lesen war noch nie eine einsame Tätigkeit, noch nicht einmal, wenn es in der Abgeschiedenheit stattfindet. Es ist ein kollektiver Akt, der uns anderen geistig annähert, und dabei untermauert es immer wieder die Möglichkeit eines Verständnisses, das über Zeitalter und Schlagbäume hinwegfliegt. In ihrer jahrtausendealten Geschichte erwiesen sich die Bücher, diese Schreine aus Papier, Buchstabe für Buchstabe und Abschrift für Abschrift, als unsere besten Verbündeten gegen die Zerstörung und das Vergessen. Die Seiten, die wir geliebt haben, wohnen tief in unserer Erinnerung. Wie Stefan Zweig in Buchmendel schreibt, steht “in der unsichtbaren Geisterschrift des Gedächtnisses jeder Name und Titel wie mit Stahlguß eingestanzt”.

Vielleicht deshalb schätzen wir heute umso mehr die bedeutende Rolle, die Buchhandlungen – und Sie alle– in unserem Leben spielen. Sie hören uns zu wie Ärzte, die es nicht eilig haben, wie Apotheker, die erwägen, ob die Verletzung eines Kunden nur ein Kratzer oder eine tiefe Wunde ist, ob es eine Behandlung braucht oder nur eine Dose Vitamintabletten. Wir warten ungeduldig darauf, dass Sie uns beraten, mit uns sprechen, Vorschläge machen, diskutieren. Über Bücher zu reden, sie zu empfehlen, ist eine mächtige Art der Annäherung und des Austauschs, etwas ganz Persönliches. Kein Algorithmus ist so begabt wie Sie, Überraschendes und Unerwartetes zu bieten. In einer Welt der kalten Bildschirme und der Kommunikation aus der Ferne bieten Buchhandlungen einen wohltuenden Raum der Heimeligkeit, der Begegnung und des Wortes.

Bild von Ri Butov auf Pixabay

Ich bin tief bewegt, dass Papyrus durch den legendären Diogenes Verlag dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht wird. Für mich geht damit ein Traum in Erfüllung, der mir stets maßlos, ja, unmöglich vorkam. Seit mich in der Kindheit die Brüder Grimm an die Hand nahmen, bin ich von Ihrer Literatur fasziniert, und wäre ich nicht in früher Jugend mit Autoren wie Kleist, Fontane, Büchner oder Musil in Berührung gekommen, könnte ich das Schreiben nicht so verstehen, wie ich es heute tue. Die Werke von Kafka, Hermann Broch und Christa Wolf haben mich gelehrt, die Mythen der Antike mit anderen Augen zu sehen. So fern und doch so nah, pulsiert in den Seiten meines Essays die freundschaftliche Anwesenheit von Robert Walser, Joseph Roth und Herta Müller. Über dessen Seiten wandeln großzügig Goethe, Hölderlin, Canetti, Hannah Arendt, Bernhard Schlink und Philipp Blom, dazu die hypnotischen Kinobilder von Wim Wenders, zusammen mit vielen weiteren Spuren Ihrer bewunderten und geliebten künstlerisch-literarischen Tradition.

Eben deshalb habe ich dieses Buch geschrieben, als Hommage und Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber Ihnen allen, die Sie Tag für Tag den jahrtausendealten Reigen der Bücherretter fortsetzen: ein Abenteuer, dessen Protagonisten Autoren sind, Kopisten, Drucker, Buchhändlerinnen, Lehrer und Bibliothekarinnen, anonyme Heldinnen und Helden, die wie Sie im Angesicht von Barbarei und Vergessen unsere wertvollsten Ideen und Geschichten beschützt haben. Jede einzelne Ihrer Buchhandlungen ist ein Zufluchtsort des Wissens, eine geheime Truhe von unermesslichem Wert: der Ort, an dem wir den Schatz unserer Erinnerungen verwahren

Über die Jahrhunderte haben Sie – Buchhändlerinnen und Buchhändler – sich Kriegen, Diktaturen und Epidemien entgegengestellt, Dürren, Krisen und Katastrophen. Das bringt mir wieder Walter Benjamin in Erinnerung, der in den Wirren eines vom Krieg geschüttelten Europas versuchte, in seiner Büchersammlung Halt zu finden. Wie er in dem Aufsatz Ich packe meine Bibliothek aus erzählt: “Jede Leidenschaft grenzt ja ans Chaos, die sammlerische aber an das der Erinnerungen. Doch ich will mehr sagen: Zufall, Schicksal, die das Vergangene vor meinem Blick durchfärben, sie sind zugleich in dem gewohnten Durcheinander dieser Bücher sinnenfällig da.” Benjamin starb ganz in der Nähe der Stadt, in der ich lebe und die ihm zu Ehren ein Denkmal errichtet hat: Ein Pfad, rechteckig wie ein Buch, läuft auf das Meer zu; der Blick fällt auf eine Seite aus Wasser.

Liebe Buchhändler und Buchhändlerinnen, Sie sind die Garde unseres Gedächtnisses. In Ihren Palästen aus Papier harren Utopien auf günstigere Zeiten. Ihre ganz besondere Fähigkeit war schon immer, gegen Viren und schwere See optimistisch zu bleiben. Cervantes hat uns gelehrt, dass wir Verrückte brauchen, die die Vernunft im Gepäck haben. Bis heute sind Sie die Hüter dieses Erbes, die Fänger der Zukunft. Auf Ihren Tischen und in Ihren Regalen warten die Worte, die wir brauchen werden, um das Morgen zu schreiben.

Mit herzlichen Grüßen und unendlicher Dankbarkeit,

Irene Vallejo

 

Aus dem Spanischen von Luis Ruby.

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Papyrus

Die Geschichte der Welt in Büchern

Irene Vallejo, geboren 1979 in Saragossa, studierte klassische Philologie an der Universität von Saragossa und Florenz. Dabei entdeckte sie ihre Leidenschaft für die Antike. Papyrus, ihr erstes Sachbuch, wurde in Spanien ein Bestseller und mit den wichtigsten Literaturpreisen des Landes ausgezeichnet. Auch in ihren zahlreichen Auftritten als Gastrednerin und wöchentlichen Kolumnen in El País Semanal und Heraldo de Aragón berichtet sie über ihre Passion für die Antike. Sie ist Autorin von zwei Romanen und einigen Kinderbüchern. Irene Vallejo lebt mit ihrer Familie in Saragossa.

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