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Gegen das Vergessen. Jona Oberskis »Kinderjahre«

Der niederländische Autor und Physiker Jona Oberski hat Kinderjahre 1977 geschrieben, gut 30 Jahre nach seinen Erlebnissen im KZ Bergen-Belsen. Aber er begibt sich derart zurück in die Haut eines Sechsjährigen, dass ein erschütternd nüchterner autobiographischer Bericht von berührender Intensität entsteht. Was er erlebt, bleibt unkommentiert, ausschnitthaft, so auch diese Liebesszene seiner Eltern. Mit diesem einzigartigen, existentiellen Buch starten wir die Vorstellung der niederländischen Autoren im Diogenes Programm anlässlich des Ehrengasts Flandern und die Niederlande der diesjährigen Frankfurter Buchmesse.

Grafik von Eleanor Crow für Pushkin Press

»Plötzlich ging die andere Tür auf. Mutter blieb stehen. Jemand kam herein. […] Ich kannte ihn wohl, aber er stand im Dunkeln. Ich lief zu Mutter. […] Er schaute sie an. Ich sah, dass sie erschrocken war. Ich fasste sie am Mantel. »Still«, ,sagte er, »sag nichts, ich will nichts wissen.« Die Stimme kannte ich ebenfalls. Er kam zu uns. Sie umarmten sich. Ich stand hinter Mutters Rücken. Sie weinte. Dann wischte sie ihre Tränen ab. Sie sagte zu mir: »Du siehst doch, dass es Papa ist.« Er sagte zu mir: »Ich habe mich sicher verändert, mit dem Bart und dem kahlen Kopf, kennst du mich noch?« Er fasste mich sanft an. An seiner Hand konnte ich erkennen, dass es Vater war. Ich ließ mich ziehen. Er liebkoste mich. Es war aber viel Mantel und Haar zwischen uns beiden. 

Mutter sagte, dass wir ein Päckchen für ihn mitgebracht hätten, und gab es ihm. Zu mir sagte sie, wir müssten singen, weil er heute Geburtstag habe. Ich sagte, der Mann erlaube uns nicht, Lärm zu machen. […] Danach machte er das Päckchen auf. Es kam eine richtige runde Torte zum Vorschein. […] »Das hättest du aber nicht tun sollen«, sagte mein Vater, »du hast sicher eine Woche nichts gegessen, um diese Torte für mich zu machen.« »Sie ist von uns beiden«, sagte Mutter, »du brauchst es viel nötiger als wir.« Vater begann zu essen. Er fragte, ob ich auch etwas wolle, aber ich mochte nichts. Er fragte, ob ich gut für Mutter sorgte. Darauf wusste ich keine Antwort. Mutter sagte, dass ich gut für sie sorge, wenn ich auch oft weine und wenig esse. Vater sagte, ich müsse gut essen, weil ich sonst krank würde, und das wolle er nicht. […] Sie wanderten miteinander durch das Zimmer und sprachen. Mutter flüsterte etwas und umarmte meinen Vater. Er sagte: »Ach nein, das geht doch nicht.« »Aber ja«, sagte Mutter, »ich weiß, wie gern du möchtest, das geht schon.« »Und das Kind?«, fragte Vater. »Das merkt nichts davon«, sagte meine Mutter.

Aber er sagte, dass es doch nicht richtig wäre. »Dann muss er draußen warten«, sagte Mutter. Sie kam zu mir und sagte, ich solle schon mal von Vater Abschied nehmen, ich müsse ein Weilchen im Gang warten und sie werde gleich nachkommen. Ich wollte das nicht. Vater sagte: »Lass ihn nur, es braucht wirklich nicht zu sein.« »Jetzt geh schon«, sagte Mutter zu mir und führte mich hinaus. Sie fragte den Mann, ob ich ein bisschen bei ihm bleiben dürfe, und ging wieder hinein. Ich setzte mich im Dunkeln auf den Boden neben die Tür. Der Mann saß auf einer Bank. Im Dunkeln konnte ich ihn fast nicht sehen.

Im Zimmer hörte ich Vater und Mutter. Ich fragte den Mann, ob ich etwas Wasser trinken dürfe, aber er sagte nein. Ich konnte nicht verstehen, was Vater und Mutter redeten. Aber es klang, als ob sie sich stritten. Vaters Gebrumm und Mutters Gewimmer wurden immer lauter. Ich stand auf und wollte hinein. Der Mann sagte: »Nicht doch, setz dich hin.« Ich fing an zu weinen. Der Mann sagte: »Still, sei doch still. Deine Mutter kommt gleich.« Er gab mir ein wenig Wasser, aber ich weinte weiter. Er zog mich von der Tür fort. »Wenn du nicht aufhörst, schmeiß ich dich raus, hörst du.« Ich schrie, das wolle ich nicht. Er wurde böse, ging zur Tür und klopfte. Mutter rief, dass es noch nicht Zeit sein könne. Er rief, dass sie mich reinlassen müssten, mein Geschrei würde uns alle verraten. Mutter kam heraus und sagte, dass ich still sein müsse. Mein Vater rief, dass sie mich mit hereinbringen solle. Sie sagte: »Du darfst bei uns bleiben, aber dann musst du dich dorthin setzen und zur Tür schauen und gut aufpassen, ob geklopft wird. Du darfst dich nicht umsehen.« Ich sagte, dass ich das tun werde. Sie lief zu Vater hin. Sie flüsterten. Darauf hörte ich Mutter laut atmen. Mein Kopf drehte sich zu ihnen hin. Vater schaute über Mutters Schulter. Er umfasste ihren Rücken mit seinen Armen. Sie bewegten sich. »Auf die Tür schauen«, sagte Vater zu mir. Aber mein Kopf blieb umgedreht.

»So geht es nicht«, sagte Vater. »Es ist jetzt ohnehin schon bald Zeit. Es geht nicht so auf die Schnelle.« Es wurde geklopft. Der Mann rief, jetzt seien es noch fünf Minuten. Mutter drehte sich um und machte ihren Mantel zu. Sie kam auf mich zu, packte mich bei der Hand, zog mich zur Tür hinaus und sagte zu dem Mann, dass er mich schon mal rauslassen solle. Er dürfe mich nicht mehr hereinlassen, ob ich nun weine oder nicht. Sie sagte zu mir: »Ich komme gleich. Du wartest draußen und fängst nicht an zu weinen, sonst will ich dich nie wieder sehen.« Sie ließ mich stehen und ging in den Raum zurück. Der Mann schaute durch ein kleines Loch nach draußen, machte die Tür auf und stieß mich hinaus. Ich blieb auf dem Holztreppchen sitzen und wartete.«

Auszug aus Jona Oberskis Kinderjahre

Kinderjahre
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Jona Oberski: Kinderjahre, aus dem Niederländischen von Maria Csollány.
Erschienen im Diogenes Verlag am 27.4.2016
 

»Ein Buch, das jeden Leser, der ein Herz hat, schockieren wird.« 
Isaac Bashevis Singer

»... und so entsteht in diesen kurzen Kapiteln etwas wie ein düsteres Märchen, das keins ist – oder beweist, dass Märchen viel mehr Wahrheit enthalten, als wir geglaubt haben: Kinderängste, die auf Erlebnissen beruhen, die nicht nur rational nicht fassbar waren, auch in sich irrational und dennoch wirklich sind.« 
Heinrich Böll

»This is not the book of the year, but the book of this damned century. It is going to reach everyone and go on reaching people for generations to come.« 
Allan Sillitoe

»Es ist eine Reinheit darin, die sprachlos macht, eine Menschlichkeit, die keine Ruhe lässt. Du weißt nach zehn Seiten: Auf dieses Buch kommt es an. Es ist wahrhaftig und unbezweifelbar.« 
Christoph Meckel / Die Zeit, Hamburg

Jona Oberski, geboren 1938 in Amsterdam, war als Physiker an einem Forschungsinstitut für Nuklear- und Teilchenphysik tätig. Seine eigene Kindheit von vier bis sieben erlebte Jona Oberski im Grauen von Bergen-Belsen. In seinem einzigartigen, verstörenden Buch nimmt er die Perspektive des Kindes ein, das nichts begreift, doch alles Geschehene registriert und einzuordnen versucht. Ein literarisches Werk, in einem Atemzug zu nennen mit den Werken von Anne Frank, Primo Levi und Imre Kertész. Als Kinderjahre 1978 erstmals erschien, wurde es international als Meisterwerk gefeiert. Gewidmet hat Oberski dieses Buch seinen Pflegeeltern, die ihn nach dem Krieg aufnahmen. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.