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Die Literatur im Ernstfall.
Laudatio auf Daniela Krien von Rainer Moritz

Am 20.5.2021 erhielt die Leipziger Schriftstellerin Daniela Krien, Autorin von Die Liebe im Ernstfall und Muldental, den Sächsischen Literaturpreis 2020.

Die Preisverleihung kann hier nachgesehen werden. Rainer Moritz, Leiter des Hamburger Literaturhauses, Autor und Literatrukritiker, thematisiert in seiner Laudatio die bisherigen Werke von Daniela Krien, ihre Menschenkenntnis und Lebensklugheit, das Thema Freiheit und Lebensgeschichten.
Am 28.7.2021 ist Daniela Kriens neuer Roman Der Brand erschienen.

Laudatio auf Daniela Krien

Der Mensch ist kein Zugvogel

Sächsischer Literaturpreis – Leipzig, 20.5.2021

Neulich las ich in der Süddeutschen Zeitung die Rezension eines bekannten, sehr belesenen, von seiner progressiven Intellektualität nicht unüberzeugten Kritikers. Dieser besprach recht wohlwollend den aktuellen, ziemlich erfolgreichen Roman eines in Oberbayern lebenden Autors und kam dabei auf leicht gönnerhafte Weise nicht umhin, das zu besprechende Werk in der literarischen Hierarchieleiter richtig einzuordnen: »Nicht nur deshalb fällt seine Prosa in die Kategorie Gehobene Unterhaltung.«

Dieser selbstgewiss formulierte Satz gab und gibt mir zu denken; er erinnert mich an Diskussionen, die wir in Deutschland seit einem Vierteljahrhundert leider immer wieder führen. Warum neigt man hierzulande so vehement dazu, zwischen E und U, zwischen ernsthafter und ›nur‹ unterhaltender Kunst zu unterscheiden? Wer legt die Maßstäbe fest, und wo liegen die? Wie viel Dünkel steckt in diesen Urteilen? Und was genau ist ›Gehobene Unterhaltung‹, wie lautet der Gegenbegriff: ›Niedere, triviale Unterhaltung‹?

Sie sehen, meine Damen und Herren, so recht kommt man mit diesen Begriffen nicht weiter. Ich halte nichts von ihnen sowieso wenig, und wenn es in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ein Beispiel dafür gibt, diese Ab- und Ausgrenzungen aus der Retorte ad absurdum zu führen, ist es Daniela Krien. Ihre beiden Romane Irgendwann werden wir uns alles erzählen und Die Liebe im Ernstfall sowie ihr Erzählungsband Muldental sind hoch intelligente Bücher, die nicht vor Bedeutsamkeit triefen, gleichzeitig vor existenziellem Ernst nicht zurückschrecken und – ja – auch unterhaltend sind.

Worum geht es in Daniela Kriens Büchern? Schon ihr Debüt ließ keinen Zweifel daran, dass sich diese Autorin für Lebensgeschichten interessiert, für Einschnitte, Rückschläge, Demütigungen und zugleich für die nicht zu tilgende Sehnsucht, die Täler der Tränen und Enttäuschungen zu verlassen.

Irgenwann werden wir uns alles erzählen ist situiert im Sommer 1990, in einem kleinen Dorf der sich auflösenden DDR. Maria heißt das sechzehnjährige Mädchen, das ihr zerrüttetes Elternhaus verlässt und auf dem Hof des Brendel-Bauern unterschlüpft. Vater Siegfried führt in dem Dreigenerationenanwesen das Regiment und nimmt Maria, die Freundin seines Sohnes Johannes, umstandslos in die Sippe auf. Während der Patriarch die Chance wittert, den Mauerfall ökonomisch auszunutzen und biodynamische Landwirtschaft auf seinem Hof zu etablieren, gönnt sich Johannes eine teure Kamera und träumt nur noch davon, als Fotograf nach Leipzig zu gehen. Je stärker er sich mit Blenden und Objektiven befasst, desto weniger kümmert er sich um Maria – zumal diese sich ohnehin gut selbst beschäftigen kann, mit der Lektüre von Hamsun oder Dostojewski zum Beispiel.

Daniela Krien baut klug eine Szenerie auf, die von der Unruhe einer Übergangszeit geprägt ist. Die Gepflogenheiten der DDR werden bald ins Hintertreffen geraten, und die ersten Kontakte mit dem Westen – Siegfrieds Bruder kommt aus dem Bayerischen zu Besuch – schaffen neue Unsicherheiten. Fürs Erste sind es jedoch nicht die politischen Veränderungen, die sie umtreiben, sondern der vierzigjährige Henner, der ›Mann auf dem Nachbarhof‹. Diesem eilt ein zwiespältiger Ruf voraus: Zu DDR-Zeiten saß er im Gefängnis; regelmäßig trinkt er über den Durst, und seinen Hof bewirtschaftet der unverheiratete, zu Gewaltausbrüchen neigende Kraftprotz auf unkonventionelle Weise. Und nicht zuletzt besitzt der gutaussehende Mann, der Trakl-Gedichte liest, eine erotische Ausstrahlung, der Maria ohne Gegenwehr erliegt.

Der erfahrene Mann und das scheue Mädchen – binnen kurzer Zeit entspinnt sich eine Bindung, die nicht von Kuschelsexvarianten bestimmt wird. Angefeuert durch Lesefrüchte aus den Brüdern Karamasow (die auch zum Romantitel führten), legt sich Maria keine Zurückhaltung auf und ist fest entschlossen, diese Amour fou auszuleben – was immer man auf dem Brendel-Hof dazu sagen wird. Henner, der weiß, wie wenig er der jungen Frau auf Dauer zu bieten hat, windet sich und trifft am Ende eine Entscheidung, die der fehlenden Perspektive brutal Rechnung zollt.

Irgendwann werden wir uns alles erzählen ist ein couragierter Erstlingsroman, der sich nicht in Beobachtungslitaneien oder melancholischen Tagträumereien ergeht. Daniela Krien hat ein starkes Sujet, und wie sie diese verwegene Liebesgeschichte mit Rückblenden in die DDR-Geschichte und Ahnungen dessen, was die bevorstehende Wiedervereinigung bringen wird, verknüpft, hat große Überzeugungskraft.

 


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Muldental


»Für mich änderte der Fall der Mauer alles«, sagt Maria einmal und formuliert damit ein unterschwelliges Leitthema aller Krien’schen Bücher. Es sind oft ostdeutsche Biografien, die hier präsentiert werden, gebrochene Lebensgeschichten, die ohne den Verlust des Kindheitsortes DDR nicht denkbar sind. Daniela Krien erzählt davon ohne ressentimentgeladene Nostalgie und doch mit einer klaren Haltung, die deutlich macht, wie der Westen nach der Wende mit seiner Goldgräbermentalität vieles im Osten wahllos einebnete und den betroffenen Menschen viel, ja manchmal zu viel zumutete. »Die Unfreiheit der Menschen«, sagt eine von Kriens Figuren über den Westen, »schien ihm nicht kleiner zu sein, nur gestaltlos, unsichtbar auf den ersten Blick.«

Unfreiheit, Freiheit – das sind Schlüsselvokabeln für Daniela Krien. Was können die Einzelnen selbst entscheiden? Wann sind sie gesellschaftlichen Mächten ausgeliefert und werden zu hilflos Getriebenen, zu Überforderten? In der Erzählung Freiheit (aus Muldental) findet sich dafür ein schönes Bild:

»Woher die Vögel wissen, wohin sie müssen, das hatte sich Eva als Kind oft gefragt. ›Gott hat es in ihnen festgeschrieben‹, sagte der Vater. ›Sie müssen es nicht lernen. Sie wissen es von Anfang an.‹ ›Und wenn sie woanders hin wollen?‹, fragte sie weiter. ›Das wollen sie nicht. Sie können es nicht wollen.‹ Hätte sie Gott nicht längst aus ihrem Leben gestrichen, spätestens heute würde sie es tun. Heute ist ein guter Tag, um Gott zu zeigen, wer die Entscheidungen trifft.«

Gott hat ausgedient. »Sie können es nicht wollen«, dieser väterliche Beschwichtigungssatz mag auf Zugvögel treffen, nicht auf Daniela Kriens Figuren. Diese müssen ständig Entscheidungen treffen, müssen ständig etwas »wollen«, müssen abwägen und sind dabei oft genug allein auf sich gestellt. Im Vorwort zur Neuausgabe der Erzählungen Muldental hat Daniela Krien dieses Dilemma selbst ausgesprochen, bezogen auf die gegenwärtigen liberalen Gesellschaftsordnungen in der Mitte Europas, wo der Mensch die »unausgesprochene Schuld für sein Versagen allein« trage: »Kein Gott, kein Kollektiv, keine übergeordnete Macht nimmt sie ihm ab. Frei wie nie zuvor trifft das Individuum seine Entscheidungen. Unter dem Diktat der Selbstoptimierung darf es keinen Stillstand geben. Aufgeben ist keine Option.«

Das Personal in Kriens Büchern versucht sich in diesem Dschungel zurechtzufinden, versucht gegen das Aufgeben anzukämpfen. Sehr häufig sind es Frauen, die dabei im Mittelpunkt stehen. Männer, sagen wir es offen, machen in Kriens Texten selten eine gute Figur. Zu sehr sind sie mit sich beschäftigt, zu sehr darauf bedacht, eine Rolle zu spielen. In der Erzählung Plan B, in der die beiden Freundinnen Bettina und Maren beschließen, als Edelprostituierte zu arbeiten und die Honoratioren der Stadt dezent zu empfangen, heißt es, als Bettina ihrer Freundin eine Art Beischlafsprachbegleitkurs gibt, folglich unmissverständlich: »›Hör auf!‹ Maren schüttelt sich. ›Wie du redest ...‹ ›Männer sind so! Die wollen diesen Quatsch hören.‹ ›Aber ich kann ihn nicht sagen, diesen Quatsch.‹«

Sagen, was ist, das scheint eher Frauensache zu sein, hören, was man hören will, eher Männersache.

Apropos Sex: Explizite Stellen gibt es in Daniela Kriens Büchern immer wieder, und da ich als Spezialist auf diesem speziellen literaturwissenschaftlichen Terrain gelte, kann ich versichern: Diese Autorin kann auch über Sex schreiben, ohne falschen Ton, nüchtern und doch mit genauem Sinn für das, was erotische Leidenschaft ausmacht.


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Die Liebe im Ernstfall


Freiheit – was ist das? Dieses Thema greift Daniela Kriens Die Liebe im Ernstfall in vielen Nuancen und Variationen auf, dieses Buch, das zu einem so großen, überraschenden Erfolg wurde, im Buchhandel und bei der Kritik. Um fünf Frauen geht es in diesem Roman. Allesamt sind sie selbstbewusste, eigenwillige Charaktere, die privat wie beruflich einiges zu schultern hatten und haben. Paula ist Buchhändlerin, Judith Ärztin, Brida Schriftstellerin, Malika Musiklehrerin, Jorinde Schauspielerin – und trotz dieser vermeintlich guten Verankerung im bürgerlichen Leben hat keine von ihnen einen festen Platz in dieser Gesellschaft, scheint keine von ihnen ein beständiges Liebes- und Familienglück zu finden.

Daniela Krien widmet jeder ihrer Protagonistinnen, die über Freundschafts- oder Verwandtschaftsbeziehungen miteinander verbunden sind, ein Kapitel und lässt sie durch den Alltag lavieren und auf ihre Vergangenheit zurückblicken, ohne dass sie an einen Fixpunkt gelangen würden. Sie gehen (On-Off-)Beziehungen ein, begreifen Sex nicht nur als vom Partner bestimmtes Nice-to-have-Phänomen, heiraten, bekommen Kinder, haben Affären, trennen sich, kehren zu ihrem Ex zurück, machen Patchwork-Urlaube, streiten sich ums Sorgerecht, tragen mal offene, mal klandestine Konflikte mit ihren Eltern aus – oder suchen, wie die in ihrem Beruf aufgehende Judith, auf Partnerschaftsportalen nach Männern, die ihre Eitelkeit im Zaum halten, kulturell interessiert sind und noch nicht unter Erektionsflauten leiden.

Das alles, so scheint es auf den ersten Blick, kennt man – aus anderen Romanen oder Beziehungsratgebern. Umso größer dann das sich steigernde Erstaunen darüber, wie Daniela Krien es versteht, ihrem Reigen von Frauenbiografien einen eigenen, nachhallenden Ton zu geben. Dieser Roman hat sehr viel über unsere Gegenwart zu erzählen, was wiederum mit dem klaren, unverstellten und kompromisslosen Blick der Autorin auf ihr Personal zu tun hat. Dieses kämpft darum, Richtig und Falsch auseinanderzuhalten und folgerichtig zu handeln ... meist vergeblich. Liebe hat, so eine Konsequenz, nicht primär mit Gefühl und Romantik zu tun: »Man muss die Liebe vom Ernstfall aus betrachten.«

»Meine Helden sind keine Gewinner«, sagt Daniela Krien. Dass sie es so brillant versteht, uns diese Heldinnen und Helden, »deren Schicksal ihre Kräfte übersteigt«, so nahe zu bringen, ist eine Sache des Stils – und des  Vermögens, ohne Umschweife Gedanken und Gefühle auf den Punkt zu bringen und so eine schnörkellose Prosa zu schreiben, die gerade zwischen den Sätzen und Absätzen einen mitunter unheimlichen, von ihren Leserinnen und Lesern auszufüllenden Freiraum lässt.

Es sind Daniela Kriens beiläufige, klug platzierte Sätze, die sich unweigerlich im Kopf festsetzen. Wenn Paulas ökologisch hoch motivierter Partner sich selbst als glücklichen Menschen sieht, zeigt der Folgesatz, worauf seine Einschätzung basiert: »Paula erschien es, als bezahle sie den Preis für dieses Glück«. Und gleichzeitig fällt diese Bemerkung: »Selbst die Verlässlichkeit einer schlechten Ehe war immer noch Verlässlichkeit.« Und wenn Malikas Mutter, unzufrieden darüber, dass aus ihrer Tochter keine weltberühmte Solistin wurde, deren gute Noten als Musiklehrerin mit einem »Wenn man bedenkt, was du hättest werden können« kommentiert, oder Paula Radionachrichten in der Hoffnung hört auf eine »Meldung, die schlimmer war als ihr eigenes Leben«, dann spürt man die uneitle Kunst dieser Autorin. Die psychische Zerrissenheit ihrer Figuren könnte nicht besser dargestellt werden.

Wie man über ›Ernstfälle‹ in zurückgenommenen, nicht pathetischen und sehr präzisen Sätzen schreibt, das lässt sich an Daniela Kriens Prosa mit Vergnügen beobachten. Eine ihrer Figuren, die Schriftstellerin Brida, erinnert sich an die Zeit, als sie an einem Literaturinstitut studierte. An »Menschenkenntnis und Lebensklugheit« habe es der Prosa ihrer Kommilitonen gemangelt, die stattdessen Wert darauf gelegt hätten, »auf Stil getrimmte Texte« zu präsentieren.

»Menschenkenntnis und Lebensklugheit« – ja, das macht vielleicht das Geheimnis von Daniela Kriens Literatur aus. Eine Menschenkenntnis und eine Lebensklugheit, die sich in ihrem Stil spiegeln. Als ich vor gut anderthalb Jahren in einer Kritikerrunde über Die Liebe im Ernstfall diskutierte, meinte eine Kollegin, dass dieses Buch nichts künstlich Ausgedachtes an sich habe und dass einen die Lektüre deshalb so bewege. Ich weiß, ›echt‹, ›wahrhaftig‹ oder ›authentisch‹ sind äußerst heikle literaturkritische Termini, weil Literatur immer eine Simulation des Echten, Wahrhaftigen oder Authentischen ist. Und doch liegt darin die Magie dieser Prosa, die uns fast auf jeder Seite von ihrer Notwendigkeit überzeugt.

Die Literatur im Ernstfall – damit würde ich gern Daniela Kriens großartige Bücher überschreiben, und deshalb freue ich mich sehr, dass sie heute den Sächsischen Literaturpreis erhält. Liebe Daniela Krien, ich gratuliere Ihnen sehr und danke Ihnen, meine Damen und Herren, fürs Zuhören.

Rainer Moritz


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Der Brand


Daniela Kriens neuer Roman Der Brand erschien am 28.7.2021

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