Filter

  • Neuste Beiträge
  • Archiv
  • Monat
  • Foto/ Video/ Audio

Doris Dörrie stellt vor: Naturlyrik von Mary Oliver

Natur aufmerksam zu beobachten, zu beschreiben und in ergreifende Gedichte zu fassen – das war zugleich Talent und Leidenschaft der US-amerikanischen Dichterin Mary Oliver. Eine persönliche Auswahl aus ihrem Werk ist nun erstmals auch auf Deutsch in Buchform erschienen. Im Vorwort des Lyrikbandes Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben schreibt Autorin und Filmregisseurin Doris Dörrie über ihre erste Begegnung mit der Dichtkunst von Mary Oliver und verrät uns ihre drei Lieblingsgedichte.

Vorwort

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich ihre Gedichte entdeckt habe. Sie gefielen mir gut, zogen aber auch wieder weiter wie Wolken, ohne dass sie sich mir eingeprägt hätten. Ich erinnere mich jedoch genau, wie ich zum ersten Mal ihre Stimme in dem Podcast On Being hörte, wo sie sachlich, fast kühl erzählte, wie ihr Schönheit, Poesie und vor allem das Gehen das Leben gerettet haben, das einfache Gehen durch die Natur. Wie sie seit Jahrzehnten Tag für Tag die Landschaft mit Heft und Stift in der Hand durchstreift, schaut und horcht und stehen bleibt, um sich Notizen zu machen. Das ist ihre Arbeit, der sie wie ein Handwerker Tag für Tag nachgeht. Um zu überleben, sich zu retten. Schon als Kind flüchtete sie vor Gewalt und Streit in den Wald, wo sie beobachtete und lauschte und etwas begriff, was sie später in dem Gedicht »De rerum natura« des Dichters und Philosophen Lukrez, ihres Helden und Vorbilds, wiederfand: »Es gibt nicht das Nichts. Woraus wir bestehen, wird etwas Anderes werden.« Diesem Anderen täglich größte Aufmerksamkeit zu schenken und so einen Schritt vor den anderen zu setzen wurde ihre Praxis. Auch eine Flucht vor der eigenen Dunkelheit, wie sie offen zugab. Durch das Notieren von Natur die eigene Natur begreifen. Sehr direkt fragt sie, ob man wirklich Augen hat, zu schauen, Ohren, zu hören, und ein Gehirn, um zu begreifen. Stopp!, ruft sie. Was soll die ganze Geschäftigkeit? Schau dich um! Hör zu! Ich habe drei Lieblingsgedichte, die zu meinem festen Gepäck durch den Alltag gehören. Ihr berühmtestes ist »The Summer Day« – »Der Sommertag« und nicht »Ein Sommertag« – , denn es geht um den Tag heute, hier, jetzt:
 

     The Summer Day
     Who made the world?

     Who made the swan, and the black bear?
     Who made the grasshopper?
     This grasshopper, I mean –
     the one who has flung herself out of the grass,
     the one who is eating sugar out of my hand,
     who is moving her jaws back and forth instead of up and down –
     who is gazing around with her enormous and complicated eyes.
     Now she lifts her pale forearms and thoroughly washes her face.
     Now she snaps her wings open, and floats away.
     I don’t know exactly what a prayer is.
     I do know how to pay attention, how to fall down
     into the grass, how to kneel down in the grass,
     how to be idle and blessed, how to stroll through the fields,
     which is what I have been doing all day.
     Tell me, what else should I have done?
     Doesn’t everything die at last, and too soon?
     Tell me, what is it you plan to do
     with your one wild and precious life?

     Der Sommertag
     Wer machte die Welt?
     Wer machte den Schwan und die Schwarzbärin?
     Wer machte die Heuschrecke?
     Diese Heuschrecke hier meine ich –
     die sich selbst aus dem Gras katapultiert hat,
     die jetzt Zucker aus meiner Hand frisst,
     die ihre Kiefer vor- und zurückschiebt statt auf- und abwärts –,
     die ringsumher starrt mit ihren riesigen, komplexen Augen.
     Jetzt hebt sie die Vorderbeine und wäscht ihr Gesicht.
     Jetzt klappt sie die Fügel auf und gleitet davon.
     Ich weiß nicht genau, wie ein Gebet aussieht.
     Ich weiß, wie man Aufmerksamkeit schenkt, wie man
     ins Gras fällt, wie man sich ins Gras kniet,
     wie man müßig und gesegnet ist, wie man durch die Felder streunt,
     denn das ist es, was ich den ganzen Tag machte.
     Sag, was hätte ich sonst machen sollen?
     Stirbt nicht alles am Ende und viel zu schnell?
     Sag mir, was hast du vor
     mit deinem wilden, kostbaren Leben?
 

Besonders die letzten zwei Zeilen sind unendlich oft zitiert, zur Erinnerung auf Zettel geschrieben, auf Kissen gestickt und als lebensrettend bezeichnet worden. Die Frage zielt mitten ins Herz und lässt uns nach Luft schnappen: Haben wir einen Plan für unser Leben? Ist er groß und wichtig und relevant und bedeutsam genug? Das Gedicht beantwortet die Frage selbst:
 

     I do know how to pay attention, how to fall down
     into the grass, how to kneel down in the grass,
     how to be idle and blessed, how to stroll through the fields,
     which is what I have been doing all day.
     Tell me, what else should I have done?

     Ich weiß, wie man Aufmerksamkeit schenkt, wie man
     ins Gras fällt, wie man sich ins Gras kniet,
     wie man müßig und gesegnet ist, wie man durch die Felder streunt,
     denn das ist es, was ich den ganzen Tag machte.
     Sag, was hätte ich sonst machen sollen?
 

Diese Sätze sind eine Provokation. Sie könnten eine Revolution anzetteln. Unsere Grundfeste erschüttern. Es soll genügen, einfach nur aufmerksam zu sein? In ihrer unnachahmlich lakonischen und gleichzeitig zarten Art fragt Mary Oliver, ob dieser Tag heute wirklich ein produktiver Tag war, wenn wir keinen Grashüpfer wahrgenommen haben, sondern vielleicht nur auf unsere multiplen Screens gestarrt, uns in Diskussionen, Streitereien verloren, innere Monologe geführt haben, tausend Dinge erledigt, absolviert, abgearbeitet haben, blind und taub für den Grashüpfer waren. Um was sonst geht es im Leben, wenn wir uns nicht ins Gras fallen lassen? In dem Podcast-Gespräch für On Being legte Mary Oliver großen Wert darauf, dass der beschriebene Grashüpfer tatsächlich existiert hat, tatsächlich auf ihrer Hand saß und vom Zucker eines Geburtstagskuchens einer Freundin naschte. Sie hat seine Existenz nicht nur bemerkt, sondern ihm durch das Aufschreiben ein zweites Leben gegeben, mit dem er und sie uns im Gedicht nun gemeinsam an unser eigenes Leben erinnern. Das hat viel mit Gefühl und Mitgefühl zu tun, Mitgefühl mit der Kreatur, aber auch mit uns selbst. Aufmerksamkeit ohne Gefühl ist nur ein Bericht, wie Oliver sagte, aber Aufmerksamkeit mit Gefühl der Beginn von Hingabe. Devotion. Oft fühlen sich die Wörter auf Englisch luftiger, leichter an, die Sprache von Songs. Der Gedichtsammlung A Thousand Mornings (2012) steht ein Zitat von Bob Dylan voran: Anything worth thinking about is worth singing about. Und viele dieser Gedichte möchte man glatt vom Blatt singen: 
 

     I Go Down to the Shore
     I go down to the shore in the morning
     and depending on the hour the waves
     are rolling in or moving out,
     and I say, oh, I am miserable,
     what shall –
     what should I do? And the sea says
     in its lovely voice:
     Excuse me, I have work to do.

     Ich gehe zum Strand hinunter
     Ich gehe am Morgen zum Strand hinunter,
     und je nach Uhrzeit branden die Wellen
     herein oder rollen hinaus,
     und ich sage: Oh, ich Arme,
     was werde –
     was soll ich nur tun? Und das Meer spricht
     mit seiner reizenden Stimme:
     Entschuldige, ich hab was zu erledigen.
 

Dieses Gedicht kam 2012 nach dem Tod ihrer Partnerin Molly Malone Cook heraus, mit der Mary Oliver über vierzig Jahre zusammenlebte. Das Leichte bekommt eine unverhoffte Schwere, der Teppich wird einem mit einem einzigen, lakonischen Satz unter den Füßen weggezogen. Die Natur hat zu tun, sie beachtet mich und meine Nöte nicht. Sie ist da, um wahrgenommen zu werden, nichts weiter. Umso dringlicher Mary Olivers Aufforderung, unsere Aufmerksamkeit der Einzigartigkeit unseres Lebens zuzuwenden, unserer Fähigkeit des Wahrnehmens, des Staunens und der Freude. Und damit aufzuhören, uns zu sorgen:
 

     I Worried
     I worried a lot. Will the garden grow, will the rivers
     flow in the right direction, will the earth turn
     as it was taught, and if not how shall
     I correct it?

     Was I right, was I wrong, will I be forgiven,
     can I do better?

     Will I ever be able to sing, even the sparrows
     can do it and I am, well,

     hopeless.

     Is my eyesight fading or am I just imagining it,
     am I going to get rheumatism,
     lockjaw, dementia?

     Finally I saw that worrying had come to nothing.
     And gave it up. And took my old body
     and went out into the morning,
     and sang.

     Ich sorgte mich
     Ich sorgte mich um vieles. Wächst der Garten, fließen
     die Flüsse in die richtige Richtung, dreht die Erde
     sich, wie man sie lehrte, und wenn nicht, wie
     soll ich es korrigieren?

     Hatte ich recht, lag ich falsch, wird man mir vergeben,
     kann ich etwas besser machen?

     Werde ich je fähig sein zu singen? Selbst die Spatzen
     sind dazu in der Lage, und ich, nun ja,
     bin hoffnungslos.

     Schwindet mein Augenlicht oder bilde ich mir das nur ein,
     bekomme ich Wundstarrkrampf,
     Rheuma oder Demenz?

     Am Ende erkannte ich, dass Sorgen nichts bringen.
     Und ich gab sie auf. Und nahm meinen
     alten Körper, ging hinaus in den
     Morgen und sang.
 

Dieses Gedicht habe ich auswendig gelernt, um es immer dabeizuhaben, und ja, sogar auf ein Hemd gestickt, und jedes Mal, wenn ich mich sorge, versuche ich, es vor mich hin zu murmeln. Manchmal muss ich sehr viel murmeln, bis ich wieder singen kann. Aber genau das ist der wundersame Effekt der Gedichte von Mary Oliver: Irgendwann fängt man an, zu singen. Und den Blick von sich selbst abzuwenden auf den Morgen, das Gras, das Licht. Und dann taucht ziemlich sicher auch ein Grashüpfer auf.

Vorwort von Doris Dörrie aus Mary Oliver: Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben. Aus dem amerikanischen Englisch und mit einem Nachwort von Jürgen Brôcan. Diogenes Verlag 2023. Seiten 17 bis 23.

Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben
Im Warenkorb
Download Bilddatei
Kaufen

Kaufen bei

  • amazon
  • bider und tanner
  • buchhaus.ch
  • ebook.de
  • genialokal.de
  • HEYN.at
  • hugendubel.de
  • kunfermann.ch
  • lchoice (nur DE/AT)
  • orellfuessli.ch
  • osiander.de
  • Schreiber Kirchgasse
  • thalia.at
  • thalia.de
  • tyrolia.at

Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben

Gesammelte Gedichte
Aus dem amerikanischen Englisch und mit einem Nachwort von Jürgen Brôcan. Mit einem Vorwort von Doris Dörrie

Mit ihrem Hund streifte Mary Oliver durch die Landschaft New Englands und verfasste die wohl bekanntesten zeitgenössischen Gedichte über die zarten Erscheinungen der Natur. In ihren klaren, scheinbar schlichten Beschreibungen fühlen wir uns aufs Tiefste mit der physischen Welt verbunden. ›Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben‹ ist das von Oliver selbst zusammengestellte Best-of ihres Schaffens. »Aufmerksam zu sein«, schrieb sie, »ist unsere unendliche und zweckmäßige Aufgabe.«


 

Mary Oliver, 1935 in Ohio geboren, zählt zu den meistgelesenen zeitgenössischen US-amerikanischen Dichterinnen. Zu Lebzeiten veröffentlichte sie mehr als 20 Gedichtbände, mit denen sie auf der New York Times-Bestsellerliste stand und zahlreiche Preise gewann, unter anderem den Pulitzer-Preis für ›American Primitive‹ und einen National Book Award für ›New and Selected Poems‹. Sie starb 2019 in Florida.