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Das Überleben meistern – Friedrich Dönhoff unterwegs mit Jerry Rosenstein

Lange hat Jerry Rosenstein geschwiegen. »Aber jetzt«, sagt er, »muss ich erzählen. Weil ich zu den letzten Zeugen gehöre.« In Friedrich Dönhoff findet er einen aufmerksamen Zuhörer, der seine Geschichte ganz ohne Pathos, aber mit viel Feingefühl nachzeichnet.

Jerry Rosenstein und Autor Friedrich Dönhoff

Es ist eine dieser einschneidenden Begegnungen: Im Jahr 2012 lernt Friedrich Dönhoff über gemeinsame Bekannte Jerry Rosenstein kennen. Sofort ist er fasziniert und beeindruckt vom Lebensmut des 86-Jährigen, der sich trotz seiner bewegten Vergangenheit nicht unterkriegen ließ. Obwohl die beiden vierzig Jahre trennen, verbindet sie bald eine Freundschaft. Und nachdem er sein Leben lang allen Fragen ausgewichen ist, die seine Vergangenheit betrafen, möchte Jerry nun erzählen. Daraus entsteht das Buch Ein gutes Leben ist die beste Antwort.

1927 in Bensheim geboren, wuchs Gerald ›Jerry‹ Rosenstein mit seinen Eltern und seinen beiden Brüdern in der hessischen Provinz auf, bis die Familie 1936 nach Holland emigrierte. Im Alter von fünfzehn Jahren wurde Jerry aus Amsterdam deportiert und kam über mehrere Lager nach Auschwitz. Mit unendlich viel Glück und dem richtigen Instinkt hat er diese Zeit überlebt. Danach wollte Jerry nur noch eins: frei sein. Und das hat er auch geschafft. In jeder Hinsicht.

»Es war schwer zu überleben«, sagt er, »aber es war fast ebenso schwer, die Zeit danach zu meistern. To survive the survival«, darauf komme es an, meint Jerry, der perfekt Englisch wie Deutsch spricht.

Im Sommer 2013 reist er mit Friedrich Dönhoff auf den Spuren seiner Vergangenheit im Auto quer durch Europa – und die beiden treffen sich in San Francisco, wo Jerry heute lebt.

Im Wechsel beschreibt Friedrich Dönhoff in Ein gutes Leben ist die beste Antwort die Stationen dieser Reise und zeichnet die Erinnerungen Jerry Rosensteins nach. Hier ein Auszug aus dem Buch beginnend mit dem 2. Kapitel:

Kapitel 2

Bensheim, Sommer 1935. Ich bin acht Jahre alt. Alles hat sich verändert. Wenn es dunkel wird, dringen Männer in unseren Garten ein. Sie schleichen sich an, werfen Flaschen und Steine an die Hauswand, brüllen und rufen schlimme Dinge. Nicht nur meine Brüder und ich haben Angst, auch Mutter, vor allem, wenn Vater geschäftlich verreisen muss. Wir wissen nie, was als Nächstes passieren wird.

In einer Nacht klirrt plötzlich die große Scheibe im Wohnzimmer. Überall auf dem Parkett und dem Teppich liegen Glassplitter. Mutter stürzt ans Telefon und ruft die Polizei. Wir warten, aber niemand kommt. So ist es immer. Wenn wir anrufen, haben die Polizisten eine Ausrede.

1935 in der Heimatstadt Bensheim an der Bergstraße. Die Rosenstein-Brüder Hans, Jerry und Ernst.

Wir ziehen jetzt jeden Abend mit unserem Bettzeug auf den Dachboden und schlafen oben. Dort fühlen wir uns sicherer.

Als ich einmal von unserem Haus auf die Straße trete, kommt mir ein Mann entgegen, den ich kenne. Es ist der Vater von einem Klassenkameraden. Betrunken schwankt er auf mich zu. Ich rühre mich nicht von der Stelle. Er holt aus und schlägt mir ins Gesicht. »Du bist ein Dreckjud!«, brüllt er.

Mutter sagt: »Was ist nur aus den Bensheimern geworden?«

Das Geburtshaus in Bensheim. Hier kam Jerry am 21. Mai 1927 zur Welt.

Unbekannte brechen in unsere Garage ein und demolieren Vaters Auto, tränken einen Lappen mit Benzin, zünden ihn an und laufen weg. Das Feuer können wir im letzten Moment löschen. Vater sagt, in Bensheim wird es jetzt zu gefährlich für uns.

Im Dezember ziehen wir ins fünfundzwanzig Kilometer entfernte Darmstadt. Hier, sagen meine Eltern, sind wir sicherer, weil Darmstadt größer ist als Bensheim. In kleinen Städten, wo jeder jeden kennt, ist die Unsicherheit zu groß für Leute wie uns und für alle, die keine Nazis sind.

Jetzt erfahren wir, dass Vater schon seit längerem unseren Umzug nach Holland plant. Schritt für Schritt hat er seine Geschäfte dorthin verlegt, hat sogar schon eine Wohnung in Amsterdam im Auge. Er rechnet fest damit, dass die Nazis früher oder später einen Krieg anzetteln werden. Dann, sagt er, sind die Juden in Deutschland verloren. Holland – davon ist er überzeugt – wird neutral bleiben, wie schon vor zwanzig Jahren im Ersten Weltkrieg. Vater muss es wissen. Im Krieg hat er damals als Oberstleutnant für Deutschland gekämpft.

Schon im Februar 1936 werden unsere Möbel in einem Lastwagen verstaut und nach Amsterdam vorgeschickt. Kurz darauf quetschen wir die letzten Sachen ins Auto und uns dazu und fahren los Richtung Holland. Ich bin achteinhalb Jahre, Hans ist zehn, Ernst dreizehn Jahre alt.

Es regnet in Strömen. Je näher wir der Grenze kommen, umso weniger sprechen wir. Noch ist es Juden gesetzlich erlaubt auszureisen, aber, wie Mutter sagt: Man kann sich auf nichts mehr verlassen.

Als wir den Grenzübergang erreichen, verstummen wir vollständig. Vater reicht unsere Pässe aus dem Fenster. Prüfende Blicke der Grenzposten durch die Scheiben. Die Papiere werden kontrolliert. Wieder Blicke. Ein kurzer Wortwechsel zwischen den Uniformierten. Ein Winken. Wir dürfen weiterfahren.

Wir können es kaum fassen: Wir sind raus aus Deutschland. Es ist, als erwachten wir aus einem Alptraum. Wir lachen.

Das Land rechts und links ist ganz flach. Ich sehe Kühe, die im Regen auf der Wiese stehen. Vater beruhigt mich: »Du brauchst dir um die keine Sorgen zu machen. Holländische Kühe sind wasserdicht.«

Kapitel 3

Nicht weit vom Hotel liegt die Van Baerlestraat. Im Vorbeifahren haben wir dort ein paar Restaurants gesehen, die ganz ansprechend aussahen. Jerry und ich treffen uns in der Hotelhalle und spazieren los.

Es ist ein warmer Sommerabend in diesem August 2013. Vor einem Lokal steht eine Reihe von Tischen mit kleinen Windlichtern. Wir beschließen, draußen zu essen. Am Nachbartisch sitzen zwei ältere Damen bei einem Glas Weißwein und unterhalten sich angeregt auf Holländisch. Wir überfliegen die Speisekarte und bestellen Ente.

(…) Es ist kurz vor 21 Uhr und noch hell. »Wollen wir ein bisschen über die Beethovenstraat bummeln?«, fragt Jerry.

Beethovenstraat, Amsterdam. In der Nachbarschaft lebte Jerry acht Jahre lang von 1935 bis 1943 mit seinen Eltern Max und Sophie sowie den beiden Brüdern.

Es stellt sich heraus, dass die Rosensteins, als sie 1936 aus Deutschland emigrierten, in eine Wohnung ganz in die Nähe der bekannten Einkaufsstraße gezogen sind, wo sie sich schnell eingewöhnten.

»Komm«, Jerry stößt mich mit dem Ellenbogen an, »ich zeig dir das Haus!«

Murillostraat Nummer 2, Ecke Holbeinstraat. Eine ruhige Wohngegend. Zweistöckige Häuserreihen aus dunklem Klinker, funktionale Bauweise der zwanziger Jahre, weißgerahmte Fenster.

Wir stehen vor dem Eckhaus. Hinter einer niedrigen Mauer befindet sich eine kleine Terrasse. Drei schmale Türen führen ins Innere des Hauses, eine von ihnen ist geöffnet.

»Auf dieser Terrasse haben wir oft gesessen und gegessen.«

Nach der Flucht aus Deutschland: Familie Rosenstein auf der Terrasse ihrer neuen Bleibe in der Holbeinstraat, Amsterdam, Frühjahr 1935. Jerry ist der Kleine mit dem skeptischen Blick.

Jerry schaut nachdenklich auf die Fenster. Acht Jahrzehnte ist es her, dass er mit seinen Eltern und Brüdern hier gelebt hat.

Hinter der Scheibe ist jemand zu sehen, nur schemenhaft, und es klingt, als hätte da jemand gerufen. Jerry reagiert nicht, er ist in Gedanken in der Vergangenheit.

Wir gehen um das Haus herum. Neben der schmalen Wohnungstür aus dunklem Holz sind noch zwei Fenster, die damals zum Esszimmer gehörten. Jerry tritt näher und schaut sich die Tür ganz genau an. Es scheint noch dieselbe zu sein wie früher.

Plötzlich geht die Tür auf.

Die Frau hat dunkelblonde, hochgesteckte Haare und trägt ein dunkles Sommerkleid mit großen roten Punkten. Sie ist barfuß. Jerry und die Frau mustern sich. Sie ist um die dreißig und hat einen freundlichen Gesichtsausdruck.

»Ich habe eben zufällig ein paar Worte aufgeschnappt«, sagt sie. »Haben Sie früher hier in der Straße gewohnt?«

»Ich habe sogar in dieser Wohnung gewohnt!«, sagt Jerry.

Die Frau ist überrascht. »Wann denn?«

»Vier Jahre lang, von 1936 bis 1939.« Jerry lächelt über das ganze Gesicht. »Es war die schönste Zeit meiner Kindheit.«

»Tatsächlich? Wollen Sie mal reinkommen?«

Jerry zögert, schaut mich erschrocken an. Dann sagt er: »Aber ja, natürlich! Gerne!« Wir folgen der Frau. Jerry ist aufgeregt. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch mal über diese Schwelle trete.«

Hintereinander gehen wir durch einen schmalen Gang.

»Wie viele Leute haben denn damals mit Ihnen hier gewohnt?«, erkundigt sich die Frau.

»Wir waren zu fünft: meine Eltern, meine beiden Brüder und ich. Ich war der Jüngste.«

»Wir sind zu dritt«, erklärt sie. »Mein Mann und ich und unsere Tochter.«

»Wie alt ist Ihre Tochter?«

»Fünf Monate. Sie schläft schon.«

»Oh, dann müssen wir leise sein.«

»Ist schon in Ordnung.«

»In diesem Zimmer schlief Ernst.« Jerry zeigt auf eine Tür. »Er war der Älteste.«

Wir schauen hinein. Aus dem Raum ist ein Ankleidezimmer geworden.

Jerry eilt weiter: »Da! Das war das Zimmer von Hans und mir. Wir haben uns das Schlafzimmer geteilt.«

»Da schläft jetzt unsere Tochter«, sagt die Frau. »Sie können die Tür gerne aufmachen.«

Jerry öffnet sie vorsichtig, schaut durch den Spalt, verharrt ein paar Sekunden. »Niedlich, Ihre Tochter«, flüstert er.

Die Frau wirft lächelnd einen Blick auf das schlafende Kind, dann schließt sie behutsam die Tür. Sie fragt: »Und wo sind Sie von hier aus hingezogen?«

»Erst in die Hunzestraat, das ist nicht weit von hier, und später wurden wir nach Auschwitz deportiert.«

Die Frau schaut Jerry erschrocken an. »Oje, das tut mir leid.«

»Ich hab’s überlebt«, antwortet Jerry und zeigt auf die nächste Tür: »Dahinter war früher die Küche.«

Die Frau nickt. »Da ist auch jetzt die Küche. Bitte. Sie können gerne hineinschauen.«

Jerry schaut sich um. »Die ist ja toll geworden! Und hier ging es in den Garten.«

»Öffnen Sie ruhig.« Die beiden stehen jetzt in einem gepflegten Garten, ein kleiner alter Herr und eine junge Frau im getupften Kleid.

»Sehr schön gemacht, der Garten«, sagt Jerry.

»Wir haben eine gute Hausgemeinschaft«, sagt die Frau. »Hier tut jeder etwas.«

In diesem Moment erscheint ein Mann mit Gipsarm. Kurze Begrüßung. Es ist der Ehemann.

»Was haben Sie denn mit Ihrem Arm gemacht?«, fragt Jerry.

»Dummer Unfall«, erklärt er. »Ich hatte meine Tochter auf dem Arm, in der anderen Hand ein Weinglas. Dann bin ich irgendwo angestoßen, das Glas ging kaputt, und plötzlich hatte ich hier diese Schnittwunden.«

Jerry schaut auf den Arm, als versuche er, sich den Vorgang vorzustellen. Dann zeigt er auf eine Ecke des Gartens: »Da drüben hat meine Mutter immer gerne gesessen.«

Als die Wohnungsbesichtigung fortgesetzt wird, sagt die Frau zu Jerry: »Es tut mir wirklich sehr leid, dass Sie in Auschwitz waren.«

Jerry schaut sie an. »Wissen Sie, ich sage immer: Es ist geschehen und vorbei. Punkt.«

Die Frau betrachtet Jerry nachdenklich. Dann fragt sie: »Wollen Sie vielleicht ein Glas Wasser?«

»Sehr gern, wir sind nämlich vom Museumsplein zu Fuß bis hierher gekommen.«

»Das ist ein ganzes Stück.«

»Haben wir auch so empfunden.«

Die Frau steht jetzt mit dem Rücken vor einer Tür: »Also, hier würde ich eigentlich niemanden hineinschauen lassen …«

»Kein Problem«, sagt Jerry schnell.

»Nein, nein«, erwidert die Frau, »ich wollte damit nur sagen, dass ich normalerweise niemanden hier hineinlasse. Es ist schrecklich unordentlich. Aber für Sie mache ich eine Ausnahme.«

»Das Bad!«, ruft Jerry. »So modern! Und überhaupt nicht unordentlich.«

»Finden Sie?«

Im großen offenen Wohn-Esszimmer legt Jerry der Frau eine Hand auf den Arm und sagt flüsternd: »Bei Ihnen sieht es heute viel schöner aus als bei uns damals.«

»Danke.« Sie lächelt.

Kurz darauf sitzen wir mit einem Glas Wasser in der Hand in breiten Sesseln. Der Ehemann, erfahren wir, heißt Joost, die Frau heißt Marijn. Sie interessiert sich für die Geschichte des Stadtteils und der Straße. Sie war schon in der Stadtbibliothek und hat auch Informationen im Internet gesucht. Sie überreicht Jerry ihre Visitenkarte und bittet um seine Kontaktdaten. Jerry verspricht, ihr eine E-Mail mit seinen Koordinaten zu schicken.

Das Gespräch wandert wieder zurück zur Wohnung. Das Ehepaar hat sie vor sieben Jahren gekauft, aber jetzt, mit dem Kind, wird sie schon wieder zu klein. Jerry erkundigt sich nach dem Preis. Die Eheleute sehen sich an. Zufällig haben sie die Wohnung gerade schätzen lassen. Sie nennen die Summe und fügen entschuldigend hinzu: »Amsterdam ist teuer.«

»Ach«, meint Jerry überrascht, »in San Francisco würde sie das Dreifache kosten.« Er schaut von einem zum anderen. »Vielleicht sollte ich die Wohnung kaufen. Es ist komisch, ich habe mir immer gesagt, dass ich diese Wohnung irgendwann einmal kaufen möchte.«

»Wenn Sie wollen, machen wir Ihnen gerne das erste Angebot.«

»Das ist sehr freundlich.« Jerry überlegt. »Andererseits – was soll ich heute noch mit einer Wohnung in Amsterdam?« Er schaut sich um, schaut schweigend durch das Fenster nach draußen. Inzwischen ist es dunkel geworden.

Das Ehepaar rührt sich nicht und sieht den Gast abwartend an.

»Wo bekommt man hier eigentlich Ingwerkuchen? «, fragt Jerry unvermittelt.

Marijn blickt ihren Mann fragend an: »Oh, da muss ich überlegen. Das Gebäck ist etwas aus der Mode gekommen.«

Joost lehnt sich mit seinem gegipsten Arm zu Jerry hinüber: »Die Bäckerei in der Frans-Halsstraat ist eine der besten Bäckereien von Amsterdam. Da gibt es eigentlich alles. Vielleicht haben Sie Glück.«

»Frans-Halsstraat – wo genau ist das?«, fragt Jerry – und ruft im nächsten Moment: »Stopp! Verraten Sie es mir lieber nicht. Ich habe Diabetes.«

»Sie könnten doch wenigstens probieren«, meint Marijn. »Vielleicht nur ein kleines Stück.«

»Stimmt.« Jerry nickt mir zu und steht auf. »Das machen wir morgen.«

Wir gehen im Schein der Straßenlaternen zur Haltestelle in der Beethovenstraat. Jerry braucht nicht über den Weg nachzudenken, er kennt die Straßen noch aus der Zeit, als er hier jeden Morgen zu Fuß zur Schule ging.

Die Straßenbahn zuckelt gemächlich durch die Stadt, Amsterdamer Bürger hängen müde und schweigend in den Sitzen.

(…) In seinem Hotelzimmer verbindet Jerry seine Kamera mit dem Laptop und überträgt die neuen Fotos. Das technische Zubehör – ein Knäuel aus Aufladegeräten, Kabeln und USB-Sticks – verwahrt er in einem durchsichtigen Kulturbeutel. Obwohl die Übertragung der Daten einwandfrei klappt, löscht er die Daten auf der Kamera nicht. »Zur Sicherheit«, sagt er. »Das mache ich erst, wenn ich wieder zu Hause bin.«

Er schließt auch meine Kamera an und lädt ausgewählte Bilder auf seine Festplatte. Auch das Foto, das ich vor wenigen Minuten beim Aussteigen aus der Bahn gemacht habe: eine verwischte Gestalt – Jerry total verwackelt.

Amsterdam, im Frühjahr 1936. Die Menschen auf den Straßen sind freundlich und höflich. Niemand schließt die Tür ab, es gibt keine Einbrüche. Wir fühlen uns sehr wohl in unserem neuen Zuhause in der Murillostraat. Tagsüber besuchen Hans, Ernst und ich einen Sprachkurs, denn wir sollen so rasch wie möglich auf die holländische Schule gehen. Wir sind fleißig, sprechen schon nach drei Monaten ganz passabel und bestehen die Aufnahmeprüfung. Meine Schule liegt in der Nicolaes Maesstraat. Ich liebe die Schule, und ich liebe meinen Lehrer Mijnheer de Groot, der jede Frage beantworten kann.

In dieser Zeit bemerke ich zum ersten Mal, dass ich ein bisschen anders bin als die anderen Jungs. Ab und zu höre ich einen Kommentar, ich sei ein wenig feminin, ein bisschen wie eine »Meisje«, ein Mädchen. Aber das stört mich nicht.

Der erste Winter ist lang, kalt und sonnig. Wir gehen so oft wie möglich zum Schlittschuhlaufen. Manchmal erlaubt uns Vater aber auch, den Schlitten an seinem Auto festzubinden. Er fährt ganz langsam die Straßen entlang und zieht uns durch die Nachbarschaft.

Wenn wir schulfrei haben, schleichen wir in das Gebäude der Börse, zu den Paternostern, die dort pausenlos in Betrieb sind, fahren auf und ab, bis der Pförtner kommt und uns rausschmeißt. Auch ins Kino gehen wir, schauen mit der ganzen Familie Walt Disneys Schneewittchen – für mich der erste Film überhaupt.

Mir kommt es mittlerweile vor, als hätten wir schon immer in Amsterdam gelebt. Wir sprechen fließend Holländisch. Hans, Ernst und ich kommen in der Schule gut zurecht, wir haben viele neue Freunde.

1935 im Zentrum von Amsterdam (Geldersekade). Foto: © Willem van de Poll (Nationaal Archief) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons

Wir lieben die Stadt umso mehr, als die Nachrichten aus Deutschland nicht gut sind und jeden Tag schlimmer werden. Menschen werden auf offener Straße angespuckt, gejagt und geschlagen. Wer seine Familie in Sicherheit bringen kann, tut es jetzt. Aber die Emigration kostet Geld, und das haben nur noch wenige. Außerdem braucht man Kontakte, zum Beispiel nach Amerika. Viele, die ein Visum beantragt haben, gehen auf Nummer sicher und überbrücken die Wartezeit außerhalb Deutschlands. Es gibt Zeiten, da ist bei uns zu Hause ein Kommen und Gehen: Freunde und Verwandte, auch aus Bensheim, schlafen auf dem Fußboden und auf der Couch, auch die Pension am Ende der Straße und andere Pensionen im Viertel sind immer gut belegt. Von diesen Durchreisenden erfahren wir, was in Deutschland los ist.

Am 9. November 1938 sitzen wir im Wohnzimmer um das Radio herum und hören von den brennenden Synagogen und den Pogromen in Deutschland. Am Tag danach erfahren wir, dass Verwandte von uns, zwei Onkel, festgenommen worden sind. Sie kommen zum Glück wieder frei. Aber es ist eine letzte Warnung. Sie flüchten sofort zu uns nach Amsterdam, bekommen ihre Visa und reisen weiter in die USA. Kurz danach folgen ihnen meine Tanten, Cousins und Cousinen auf demselben Weg.

Jeder sagt: »Worauf wartet ihr? Ihr müsst sofort raus aus Europa!«

Aber unsere Eltern sind unschlüssig und zögern. Sie wollen nicht schon wieder alles aufgeben. Schließlich laufen Vaters Geschäfte ganz passabel, die Familie ist versorgt, wir haben keinen Grund zur Klage, es geht uns gut.

Und vor allem sind die Eltern nach wie vor fest davon überzeugt, dass wir in Amsterdam in Sicherheit sind.

 

Ein gutes Leben ist die beste Antwort ist am 27.8.2014 als Diogenes Hardcover in Leinen mit einem Bildteil erschienen. Auch als E-Book.
 

Eine weitere Leseprobe zum Herunterladen gibt es hier.

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