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»Ein ganz eigenes Talent«
Zum 70. Todestag von Marianne Philips am 13.5.2021

Die sensationelle Neuentdeckung des Erfolgsromans Die Beichte einer Nacht von 1930 über weibliche Identität, Moral, Wahnsinn und die Suche nach Glück ist in aller Munde – aber wer ist die Frau, die dieses autobiographisch geprägte Psychogramm schrieb? Ihre Enkelin Judith Belinfante gibt im Nachwort unter dem Titel »Ein ganz eigenes Talent« Auskunft über ein außergewöhnliches Frauenleben.

Gemälde: © Jaap Weyand

Vom Aktivismus zum Schreiben
Im Jahr 1919 fanden in den Niederlanden Kommunalwahlen statt, bei denen Frauen erstmals nicht nur ihre Stimme abgeben, sondern auch gewählt werden konnten. Meine Großmutter Marianne Philips, Mitglied der Sociaal-Democratische Arbeiderspartij (SDAP), stellte sich (damals hochschwanger mit ihrem dritten Kind) für den Gemeinderat in ihrem Wohnort Bussum zur Wahl, als Dritte auf der Liste. Sie wurde gewählt und vereidigt. Aber die Versorgung des Säuglings und ihre Amtstätigkeit ließen sich letztendlich nicht vereinbaren: Nach eineinhalb Jahren trat sie zurück.

Marianne Philips stammte aus einer wohlsituierten mittelständischen Familie. Geboren wurde sie in einem Grachtenhaus am Amsterdamer Kloveniersburgwal, in dem sich auch das Kurzwarengeschäft ihres Vaters befand. Er starb jedoch, noch ehe sie zwei Jahre alt war, und der neue Ehemann ihrer Mutter war nicht in der Lage, das gut eingeführte Geschäft zu halten. Die Familie verarmte zusehends.

Mit vierzehn Jahren verlor Marianne Philips auch ihre Mutter, die im Wochenbett starb. Damit war sie nicht nur Waise, sondern als Mädchen auch für ihre jüngere Halbschwester und das Baby verantwortlich. Sie zogen in ein Arbeiterhaus im Stadtteil Watergraafsmeer. Statt weiterhin die Höhere Bürgerschule zu besuchen, versorgte Ma­rianne Philips nun den Haushalt, kümmerte sich um die Geschwister und half in der Schneiderwerkstatt ihres Stiefvaters beim Schürzennähen.

Ohne Ausbildung und Zukunftsaussichten fühlte sie sich einsam und todunglücklich. Sie war jedoch intel­ligent, perfektionistisch und bereit, hart zu arbeiten. Ihr wurde klar, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen musste. Mit achtzehn verließ sie die Stief‌­fa­milie und zog zu ihrer verheirateten älteren Schwes­ter Sara Philips nach Haarlem. Dort begann ihre Zukunft. Zunächst bildete sie sich autodidaktisch fort, um den Stoff der verlorenen Schuljahre nachzuholen.

Bild von Carina Persson auf Pixabay

Ohne höheren Schulabschluss trat sie 1906 im Alter von zwanzig Jahren in die Firma I. J. Asscher ein, Vorläufer der heutigen Koninklijke Asscher Dia­­mant Maatschappij. Bei der Büroarbeit profitierte sie von den Fremdsprachenkenntnissen, die sie sich angeeignet hatte. Sie wurde Mitglied der Gewerkschaft Algemene Nederlandse Bond van Han­dels- en Kantoorbedienden, zu deren Gründern ihr späterer Mann Sam Goudeket zählte.

Im Jahr 1909 schloss sie sich der Sociaal-Democratische Arbeiderspartij an. Das von Armut und Per­spek­tivlosigkeit geprägte Leben der Arbeiter kannte sie aus eigener Anschauung, und sie wollte als moderne berufstätige Frau einen Beitrag zu dessen Verbesserung leisten. So wurde aus ihr eine leidenschaftliche Aktivistin; sie hielt im ganzen Land Vorträge und zog schließlich 1919 als eine der ersten Frauen in einen niederländischen Gemeinderat ein. Von 1927 bis 1928 war sie erneut Gemeinderätin.

Im Frühjahr 1927 sollte sie in Maastricht einen politischen Vortrag halten. Nach der langen Zugfahrt vertrat sie sich in der Stadt die Beine. Danach kehrte sie ins Hotel zurück und begann zu schreiben. Was sie zu Papier brachte, waren aber keine Notizen für ihren Vortrag über die großen sozialen Probleme der Zeit und die desolate Lage der Armen – insbesondere der Frauen und Kinder – und auch kein Plädoyer für den Weltfrieden. Nein, sie schrieb über das, was sie bei ihrem Gang durch die Stadt auf Plätzen und in Kirchen gesehen hatte und über das, was sich in ihr abspielte. So entdeckte sie im Alter von vierzig Jahren die Schriftstellerin in sich.

Nachdem sie sich fast zwanzig Jahre politisch engagiert und nebenher den Haushalt geführt und ihre drei Kinder erzogen hatte, bekam sie körper­liche Beschwerden und fühlte sich so krank, dass sie glaubte, sterben zu müssen. Die Ärzte aber waren überzeugt, dass ihre Beschwerden keine körperliche, sondern eine seelische Ursache hatten, und rieten zu einer Psychoanalyse. Von 1928 bis 1931 war sie bei Dr. J. H. van der Hoop in Behandlung, einem außergewöhnlichen Psychiater, der sich sowohl an Freud wie auch an Jung orientierte und ein starkes Interesse an kreativen Prozessen hatte. 1931 begleitete sie ihn sogar für fast drei Monate nach Wien, wo er eine Fortbildung machte.

Mit seiner Unterstützung ging sie ihren psychischen Wiederholungszwängen und aus dem Un­bewussten herrührenden Gefühlen von Angst, Scham, Schuld und Unsicherheit auf den Grund. Van der Hoop ermutigte sie außerdem zum Schreiben. So entstanden in den Jahren, die sie bei ihm in Behandlung war, die beiden Werke De wonderbare genezing (Die wunderbare Heilung) (1929) und Die Beichte einer Nacht (1930).

Für beide Bücher wählte sie die Form des Monologs. Die Beichte einer Nacht handelt von einer Frau, die sich zur Beobachtung in einer psychia­trischen Klinik befindet. Sie erzählt der schweig­samen Nachtschwester ihre Lebensgeschichte, die mit dem Mord an ihrer wesentlich jüngeren Schwester endet. Lange Nächte in einer Klinik waren Marianne Philips vertraut, denn sie hatte 1913 nach der Geburt ihrer ältesten Tochter – meiner Mutter – sechs Monate mit einer Wochenbettpsychose in der Amsterdamer Valeriusklinik gelegen. Der Roman enthält noch weitere biographische Elemente: die Jahre in Armut in Watergraafsmeer, die Arbeit in der Schneiderwerkstatt, das Leben als junge berufstätige Frau in einem schäbigen Mietzimmer, das luxuriöse Ambiente der Firma Asscher und die mit alldem verbundenen Ängste, Träume und Phantasien.

Die schriftstellerische Arbeit
Um 1930 war es noch nicht üblich, dass komplexe psychische Prozesse in Romanen thematisiert wurden, schon gar nicht von Frauen. Darum war Die Beichte einer Nacht ein ungewöhnliches Buch jenseits der damaligen Traditionen und Trends. Dementsprechend gemischt fielen die Rezensionen aus; einige Kritiker lehnten das Buch komplett ab, andere schätzten es seiner Wahrhaftigkeit und Sensibilität wegen.
Im Algemeen Handelsblad vom 2. Mai 1930 attestierte A. R.-V. (Annie Romein-Verschoor) Marianne Philips »eine sehr individuelle Neigung zum leicht gekünstelten autobiographischen Erzählen«. Im Anschluss ging sie auf die Fußangeln und Fallen einer so prägnanten Form wie der des Monologs ein, und sie schloss ihre Besprechung mit den Worten: »Marianne Philips gehört, auch wenn ihre künf­tigen Werke uns noch die Grenzen ihres Talents zeigen werden, auf jeden Fall zu den ›mit dem Helm Geborenen‹. Sie hat das seltene zweite Gesicht einer veritablen Menschenkennerin und -versteherin, das alle wahren Erzähler auszeichnet, ob man sie nun Romantiker, Realisten, Klassiker oder was auch immer nennt. […] Ja, ich sage es gern noch einmal: Marianne Philips hat ein gutes Buch geschrieben, sie ist eine Romancière.« …

Weiterlesen? Das ganze Nachwort hier zum Download.

Copyright © Nachwort Judith Belinfante und Uitgeverij Cossee bv, Amsterdam