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»Ich erlaube meinen Figuren zu ›leben‹«
Ein Interview mit Katrine Engberg

 

Das Nest von Katrine Engberg ist der vierte Fall für Jeppe Kørner und Anette Werner. Der 15-jährige Oscar verschwindet. Zunächst denkt man, der Teenager sei von zu Hause abgehauen. Als die Leiche von Oscars Dänischlehrer in einer Müllverbrennungsanlage entdeckt wird, beginnen die Ermittlungen. Katrine Engberg führt den Leser an neue, unbekannte Orte der coolen, lebhaften und manchmal düsteren Stadt Kopenhagen.

Ihre Krimis spielen alle in Kopenhagen, und die Leserinnen und Leser lernen mit jedem Buch wieder neue coole, gruselige oder ungewöhnliche Orte dieser Stadt kennen. Zu Beginn des neuen Romans wird eine Leiche in der modernsten Müllverbrennungsanlage des Landes gefunden. Auf deren Dach kann man sogar Ski fahren. Wie kamen Sie auf die Idee, diesen skurrilen Ort als Romanschauplatz zu verwenden?

Katrine Engberg: Ich liebe Kontraste. Die Idee, ein architektonisches Schmuckstück einer Abfallanlage mit einer Freizeitanlage auf dem Dach zu bauen, erschien mir so seltsam, dass ich mir den Ort selbst ansehen musste. Und während ich die Anlage besuchte, sah ich das Innere des Müllsilos – ein riesiger, enger Raum, gefüllt mit nichts als Hässlichkeit und Tod. Es war bei weitem der beängstigendste Ort, den ich je gesehen habe, und ich wusste genau, dass dort jemand sterben musste.

Wie recherchieren Sie? Besuchen Sie wirklich alle Schauplätze, die im Roman vorkommen? Und haben sich Ihre Recherchen und der alltägliche Schreibprozess durch die Corona-Pandemie verändert?

Katrine Engberg: Ich gehe an fast jeden Ort, der in meinen Büchern beschrieben wird. Tatsächlich entspringen die Ideen für Geschichte und Handlung meist den Orten, die ich besuche, und nicht umgekehrt. Deshalb war das Schreiben während der Pandemie schwer für mich. Ich hatte keinen Ort, an den ich gehen konnte, um mich inspirieren zu lassen und neue Ideen entstehen zu lassen.

In Das Nest beschreiben Sie besonders gut die junge Generation, ihre Lebenswelten und inwiefern Jugendliche es heute schwerer haben als frühere Generationen (Stichwort Klimajugend). Was war Ihr Antrieb hierfür?

Katrine Engberg: Ich bin Mutter eines Jungen, der diesen Sommer zwölf Jahre alt wird, also stehen in meinem eigenen Haushalt die Teenagerjahre an. Und ich erinnere mich an meine eigene Jugend als eine sehr komplexe und schwierige Zeit, gefüllt mit großem Ehrgeiz und noch größeren Selbstzweifeln. Die Transformation vom Kind zum Erwachsenen ist sehr schwierig. Es ist eine äußerst verletzliche Zeit, und es ist so leicht, in diesen Jahren ausgenutzt zu werden.

Viele Jugendliche engagieren sich heute für den Umweltschutz und gegen den Klimawandel und fordern auch von den Erwachsenen ein Umdenken ein. Jeppe Kørner und Anette Werner stellen sich bei ihren Ermittlungen im neuen Fall auch immer wieder die Frage: Was ist das für eine Welt, in der die Kinder heute aufwachsen und in der sie sich ihr Recht auf eine unversehrte Zukunft als Klimaaktivisten mühsam erkämpfen müssen? Treibt Sie dieselbe Frage um?

Katrine Engberg: Unbedingt! Wenn Sie Eltern werden, beginnen Sie Ihre Verantwortung für den Fortbestand des Lebens zu verstehen. Ein Bewusstsein für die Verbindung zwischen einem selbst und den vergangenen und kommenden Generationen wird geweckt, und man erkennt, dass man wirklich nicht allein auf dieser Welt ist. Ich bin in einer ziemlich sorglosen Generation aufgewachsen, und es macht mir große Sorgen, dass mein eigener Sohn nicht mit der gleichen Unschuld aufwachsen kann.

In diesem vierten Fall spielen viele Szenen am Meer, im Hafen, auf Inseln und Seeforts. Wie wichtig ist Ihnen das Wasser?

Katrine Engberg: Ich liebe alles, was mit dem Meer zu tun hat – Schwimmen, Segeln, Tauchen, Angeln, Muscheln essen usw. –, und ich scheine das Wasser tatsächlich immer in meine Bücher einzubauen. Besonders in Das Nest, vielleicht weil wir ein kleines Boot gekauft haben, um im Kopenhagener Hafen zu segeln, als ich gerade anfing, das Buch zu schreiben.

Bild von Kenan Tekin auf Pixabay.

Wird auch Ihr nächster Krimi in Kopenhagen spielen? Oder wird es einmal einen Ortswechsel geben?

Katrine Engberg: Es ist lustig, dass Sie fragen, denn im nächsten Buch der Reihe (Band fünf, der auf Dänisch Isola heißt) verlege ich die Geschichte ausnahmsweise mal aus Kopenhagen hinaus und auf meine geliebte Insel Bornholm. Ich mache schon seit Jahren auf Bornholm Urlaub und habe oft gedacht, dass ich gerne darüber schreiben würde, und plötzlich war die Idee reif. Es ist ein wunderbarer Ort von wilder Schönheit und dunklen Ecken.

Im Zentrum der Ermittlungen stehen ein Auktionshaus und ein Museum. Haben Sie eine besondere Beziehung zu den bildenden Künsten? Und haben Sie auch schon bei Versteigerungen teilgenommen?

Katrine Engberg: Ich habe mich schon immer sehr von der Kunst inspirieren lassen. Die Idee für Das Nest wurde bei einer Ausstellung von Auguste Rodins sogenannten »Schwarzen Zeichnungen« geboren. Alle kreativen Leistungen sind miteinander verbunden – Musik, Malerei, Tanz, Schreiben –, so dass es ganz natürlich ist, sich gegenseitig zu befruchten. Ich habe mich allerdings noch nie getraut, an einer Kunstauktion teilzunehmen. Ich fürchte, ich würde Geld ausgeben, das ich nicht habe.

Bild von Thijs Kennis auf unsplash.

Ihre Figuren entwickeln sich von Fall zu Fall weiter, Anette Werner zum Beispiel ist inzwischen Mutter geworden, was man zu Beginn der Reihe nie vermutet hätte. Für die Leserinnen und Leser ist die Weiterentwicklung der zwischenmenschlichen Beziehungen Ihrer Figuren mindestens genauso spannend wie der jeweilige Mordfall. Wie sehr liegen Ihnen Ihre Figuren am Herzen? Und haben Sie eine Lieblingsfigur?

Katrine Engberg: Für mich beginnt jedes neue Buch mit der Entwicklung meiner Charaktere, und dann entwickelt sich die Handlung aus ihnen heraus, nicht andersherum. Das gibt, so hoffe ich, ein Gefühl von Authentizität und auch von Relevanz für die Leser. Menschen sind interessant, und die Psychologie, die uns antreibt, hört nie auf, mich zu verblüffen und zu erstaunen. Ich liebe meine Charaktere, die für mich sehr real sind, aber wenn ich einen Favoriten nennen müsste, dann wäre es Esther de Laurenti.

Wir wollen hier natürlich nicht zu viel verraten, aber Ihre Bücher haben oft unerwartete Twists und nehmen ein überraschendes Ende. Wie machen Sie das? Wissen Sie schon von Anfang an ganz genau, wie sich der Fall am Ende auflöst? Oder entwickelt sich beim Schreiben manchmal alles ganz anders als geplant?

Katrine Engberg: Ich habe immer einen Plan, aber ich halte mich nicht immer daran. Nun, um ehrlich zu sein, halte ich mich nie daran. Ich finde, dass die Geschichte viel interessanter wird, wenn ich den Figuren erlaube, zu »leben« und in unerwartete Richtungen zu gehen. Ich habe einen Satz an die Wand meines Büros geschrieben, der besagt: »Es wird nur dann gut, wenn du dir nicht zu sicher bist, was du tust« – das ist sozusagen mein Motto geworden.

 

Sie standen in Ihrer ersten Karriere als Tänzerin, aber auch als Schriftstellerin bei Festivals, Buchmessen und Lesungen regelmäßig auf der Bühne. Vermissen Sie die Auftritte und den direkten Kontakt zum Publikum, jetzt wo sich so viele Events aufgrund der Corona-Pandemie ins Digitale verlagert haben?

Katrine Engberg: Die kurze Antwort lautet: Ja! Ich hatte einige sehr arbeitsreiche Jahre mit vielen Reisen, und ich dachte eigentlich, dass mir eine Pause guttun würde, aber das letzte Jahr war ziemlich schrecklich. Ich vermisse es, mit Menschen zu interagieren, und ich kann es kaum erwarten, dass sich die Welt wieder vollständig öffnet.
 

(Die Interviewfragen stellte Stephanie Uhlig, © by Diogenes Verlag AG Zürich)

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