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»Eine Art rhetorische Yogaposition« – Ian McEwan im Gespräch mit Daniel Kehlmann

Im September des vergangenen Jahres war der britische Bestsellerautor Ian McEwan Ehrengast bei ›Literatur im Nebel‹ in Heidenreichstein. Anlässlich des Erscheinens seines neuen Romans Kindeswohl hier einige Ausschnitte aus einem dort geführten Gespräch des Schriftstellers mit seinem österreichischen Freund und Kollegen Daniel Kehlmann.

Daniel Kehlmann: Erinnerst du dich noch daran, wie du mir die Geschichte vom Guru erzählt hast, der behauptet hat, allein durch die Kraft seiner Konzentration könne er jemanden töten? Im Fernsehstudio, bei einer Live-Konfrontation mit dem Vorsitzenden einer indischen Skeptikervereinigung, klappte es beim ersten Mal nicht. Man traf sich ein zweites Mal. Und ich fragte dich: »Na, und was ist passiert?« Und du antwortetest, milde tadelnd: »Daniel!« Du hattest natürlich Recht. Was dachte ich, hätte passiert sein können? Das war ein erhellender Moment für mich: Mir wurde klar, dass es sich verdammt nochmal gehört, ein vernünftiger Mensch zu sein. Diese Geschichte beschreibt auch dich, deinen heiteren, rationalistischen Weltzugang. Und darüber würde ich gern mit dir reden, am Beispiel deines Romans ›Schwarze Hunde‹. Er handelt von dem Widerstreit zwischen strengem Rationalismus und der Möglichkeit, Übernatürliches zuzulassen. Kann man sagen, dass du dich danach ganz auf die Seite der Rationalisten geschlagen hast?

Ian McEwan: Ich bin froh, dass du dich an diese Geschichte erinnerst. Aber ich glaube, die Welt ist nicht so einfach in richtig und falsch geteilt. Ich muss also eine Gegengeschichte erzählen. Für einen Test gab Paul Bloom fünfhundert selbsternannten Rationalisten von fünf verschiedenen Universitäten ein Manuskript in gotischer Schrift. Es sei eine Einverständniserklärung, dass sie ihre Seele dem Teufel verkaufen würden. Es gab auch ein wächsernes Siegel und Zeugen für die Unterschrift. Dreißig Prozent wagten nicht, dieses Schriftstück zu unterschreiben. Also, um deine Frage zu beantworten: Vergessen wir nicht, dass das Sowjetimperium von selbsternannten Rationalisten errichtet wurde, auch Robespierre bezeichnete sich als Rationalist. Deshalb müssen wir vorsichtig sein, wenn wir diese Trennlinien ziehen. In Schwarze Hunde habe ich beiden Argumentationen Raum gegeben, aber die Grenzlinien ein bisschen verschwimmen lassen. Es ist der Erzähler selbst, der sagt, dass er zwischen den Schwiegereltern hin und her gerutscht ist wie auf einer Achse und sich einmal mehr in die eine, dann mehr in die andere Richtung neigte. Ich denke, man kann nicht wirklich ein Buch schreiben, in dem man zu sehr seine eigene Position festschreibt. Man muss sich aus dem Buch heraushalten.

Hättest du unterschrieben?

McEwan: Ich vergaß zu sagen, dass jeder, der unterschrieb, hundert Dollar erhielt. Ja, ich hätte es unterschrieben - gratis.

Foto: © Annalena McAfee

Die Frage nach dem Rationalismus bringt uns gleich zu deinem letzten Roman, ›The Children Act‹ (Titel der deutschen Ausgabe ›Kindeswohl‹, Anm. d. Red.), in dem eine Richterin entscheiden muss, ob ein junger Mann, Zeuge Jehovas, zu einer lebensrettenden Bluttransfusion, die er selbst aus religiösen Gründen verweigert, gezwungen werden kann. Das ist letztlich eine Werte- und nicht nur eine Vernunftsentscheidung. Dein Buch wirft die Frage auf, welche Werteentscheidungen aus der Parteinahme für die Vernunft entstehen. Offenbar bringt sie auch moralische Verpflichtungen mit sich, die selbst nicht rein rationalistisch zu begründen sind.

McEwan: Du hast recht, Daniel, es ist eine Werteentscheidung. Die Richterin muss die Entscheidung treffen, und zwar bei einem jungen Mann, der schon fast ein Erwachsener ist, also jemand, der diese Bluttransfusion verweigert und ziemlich genau weiß, worum es hier geht. Es wäre natürlich genauso möglich, die Fakten in einen Computer einzugeben - auch die Tatsache, dass dieser junge Mann rational denkt und genau weiß, worum es geht. Der Computer würde wahrscheinlich sagen: »Lassen Sie ihn sterben.« Auch Psychopathen entscheiden vielleicht genauso. Würden wir eine Weltsicht aufbauen, müssten wir bedenken, dass Rationalismus zwar notwendig ist, aber nicht ausreicht, um Wärme in die Welt zu bringen, sie mit Leben zu füllen. Ein wesentliches Element, das bei rationalen Entscheidungen mitspielen muss, wenn es um das Leben eines anderen geht, ist das Mitgefühl, die Empathie. Nur dann ist es eine Entscheidung, die keine Maschine treffen könnte. Die Richterin in meinem Buch muss eine Entscheidung treffen; andererseits geht gerade ihre Ehe in die Brüche. Und das Erste, was sie tut, als ihr Mann sie verlässt, ist, die Türschlösser auszuwechseln. Ihr ganzes Leben verbrachte sie damit, ihre Klienten vor dieser Klischeereaktion zu warnen. Was ich damit sagen will: Sie ist froh, dass sie sich mit Problemen anderer Leute beschäftigen soll.

Der junge Mann entwickelt eine schwärmerische Verliebtheit für die Richterin, er sucht jemanden, der ihm hilft, sich in der für ihn neuen Welt des freien Denkens zurechtzufinden. Doch sie lehnt diese Rolle ab. Ohne allzu viel verraten zu wollen: Es nimmt ein schlechtes Ende mit dem Jungen. Hast du als Autor eine eindeutige Antwort - hat sie sich schuldig gemacht?

McEwan: ›The Children Act‹ ist vor allem eine tragische Geschichte über unausgesprochene Liebe. Nicht so sehr über Recht und Gesetz, sondern über unausgesprochene Liebe. Im professionellen Sinn kann natürlich nicht jeder Richter oder jede Richterin das Schicksal all jener, mit denen er oder sie zu tun hat, weiterverfolgen. Sie agiert also korrekt. Aber korrekt ist nicht immer korrekt. Manchmal bedeutet korrekt zu sein, dass man herzlos ist. Und manchmal ist es möglich, dass man korrekt agiert, aber trotzdem von Schuldgefühlen geplagt wird. Der Punkt ist: Es ist völlig egal, ob wir glauben, dass sie korrekt gehandelt hat oder nicht, oder dass sie mit Herz gehandelt hat oder nicht. Es geht darum, dass sie das nicht glaubt. Die Frage ist auch nicht, welche Entscheidungen der junge Mann letztlich trifft. Autoren geben keine Antworten in ihren Büchern. Wir stellen Fragen, wir forschen und recherchieren. Hier geht es um zwei Schicksale, die ich ausbreite; ich beantworte aber nicht die Frage, wer in welchem Sinn richtig oder falsch handelt.

Kindeswohl
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Ich würde gern zu »Schwarze Hunde« zurückkommen: Du hast in den zwei Hunden eine sehr starke Metapher für das absolut Zerstörerische, das Böse gefunden; gleichzeitig sind die zwei Hunde aber auch real, keine Symbole, sondern echte Tiere mit einer Vorgeschichte. Das Buch stellt somit die Frage, die sich jeder von uns stellt - jedenfalls, solange wir nicht zur Religion gefunden haben: Kann der rein rationalistische Zugang zur Welt das Böse wirklich erklären, oder lässt einen die Destruktivität, die wir im Menschen vorfinden, schlicht hilflos zurück?

McEwan: Ich möchte hier ein bisschen vom Abstrakten wegkommen und erzählen, wie das Buch überhaupt Gestalt angenommen hat. Ich bin mit einem Freund auf einem Kalksteinplateau in Südfrankreich gewandert, wir waren vielleicht zwanzig Kilometer vom nächsten Ort entfernt und sahen ungefähr 800 Meter weit weg zwei Hunde. Zuerst dachten wir, es wären Ponys, weil sie so groß waren. Wir waren im Gegenwind, sie haben uns also nicht bemerkt. Aber sie waren direkt auf unserem Weg, einen Besitzer konnten wir nirgends entdecken. Auf der Landkarte sahen wir, dass wir entweder direkt an den Hunden vorbeigehen oder einen riesigen Umweg machen müssen. Man kann sich natürlich in jemanden hineinversetzen, der spirituell dazu neigt, diese Hunde als Manifestation des Bösen zu sehen. Aber es ist schwer, ans Böse zu glauben, wenn man nicht an das Übernatürliche glaubt. Wenn es Menschen gibt, die an das Böse glauben, ist das nicht anders als Menschen, die an Gott glauben. Ein Geist, der durch die Welt geht: Ich habe dem immer widerstanden. Denn es gibt nichts Böses in der Welt ohne Menschen.

Es gibt bei deinen Romanen oft den Moment, normalerweise gegen Ende des ersten Drittels, wo man sich fragt: Bleibt das jetzt klassische Moderne? Aber dann greift der Plot; und es gibt eine Wendung ins Realistische, in die Tatsächlichkeit der Gefahr, wie es sie zum Beispiel bei Virginia Woolf oder Proust nicht gäbe. Ist der Plot deine Möglichkeit, dem zu entkommen, was du einmal »die schwere Hand des Modernismus« genannt hast?

McEwan: Die kurze Antwort ist: Ja. Aber es ist nicht so einfach. Erinnere dich an Newton, der sagte, er stünde auf den Schultern von Giganten, weshalb er so weit sehen könnte. Ein amerikanischer Wissenschafter drehte das in den 1970er-Jahren um und sagte, der Grund, warum er nicht so weit sehen könne, sei, dass all die Giganten auf seinen Schultern stünden. Wir Schriftsteller haben natürlich ein reiches Erbe, aber wir müssen darauf achten, dass die Giganten nicht auf unseren Schultern stehen. Ich bin weniger an einem formellen Experiment als vielmehr am Narrativ interessiert und daran, wie unsere Gedankenwelt sich ändert, wie wir vom 20. ins 21. Jahrhundert gleiten. Ich absorbiere alles, was Proust und Joyce uns schon vorgeführt haben, aber ich gönne mir auch den Luxus, mich nach Balzac, Jane Austen, Dickens, Tolstoi zu richten, die das alles wunderbar vorgelebt haben - es ist wirklich ein Geschenk.

Es gibt ja dieses Narrativ, wonach du früher all diese makaberen Geschichten geschrieben hättest - aber dann hättest du endlich dein Herz entdeckt. In ›Honig‹ hast du beides zusammengefügt, indem ein Schriftsteller vorkommt, dessen Texte wie deine frühen Erzählungen sind. Geht dir das immer wiederholte Narrativ über deinen Werdegang eigentlich auf die Nerven, oder ist da schon etwas dran?

McEwan: Es ist schwer, auf den eigenen Schultern zu stehen, es ist eine Art rhetorische Yogaposition. Aber manchmal ist es notwendig. Honig ist gewissermaßen eine literarische Autobiografie, ich konnte zu jenen Geschichten zurückkehren, die ich nach Erscheinen nie wieder las, aber zu denen ich immer wieder befragt werde. Ich bemerkte, dass sie besser waren, als ich sie in Erinnerung hatte.

Wer dich kennt, weiß, dass du gern wanderst. Wandern ist auch in deinen Büchern häufiges Motiv.

McEwan: Der Roman ist die persönlichste Ausdrucksform. Kingsley Amis sagte, man könne keine 500 Wörter in Prosa schreiben, ohne etwas über sich selbst zu verraten. Man kann also auch keine 16 Romane schreiben, ohne etwas über sich selbst zu verraten. Alles, was ich liebe, verteile ich sehr großzügig über meine Charaktere: Wandern, klassische Musik, Sex. Das Wandern befreit den Kopf, man ist ganz in der Gegenwart. Und es hat immer die metaphorische Bedeutung einer Reise: Man hat den Anfang, die Mitte, das Ende - wie das Leben.

Erschienen in Der Standard am 4.10.2014.

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Ian McEwan (66) ist Meister der radikalen Psychologisierung der Literatur. Einige der 17 Romane wurden verfilmt, u. a. AbbitteLiebeswahn und Der Zementgarten. Eine Leseprobe aus seinem neuen Roman Kindeswohl gibt es hier.

Daniel Kehlmann (39) glang mit seinem Roman Die Vermessung der Welt ein internationaler Bestseller: 2006 war es das zweitmeistverkaufte Buch weltweit. Zuletzt erschien sein Roman F.