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Dennis Lehane ›Sekunden der Gnade‹: Der Rachefeldzug einer Mutter im aufgeheizten Boston der 70er-Jahre

Der neue Roman von Dennis Lehane, übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Malte Krutzsch, steht auf Platz vier der Krimibestenliste September von Deutschlandfunk Kultur. In Sekunden der Gnade bildet der amerikanische Bestsellerautor eindrücklich den vorherrschenden Rassismus im Boston der 1970er Jahre ab.

Erste Leseeindrücke zum neuen Roman von Dennis Lehane und seiner ebenso rabiaten wie mutigen Hauptfigur Mary Pat erhalten Sie hier.

Foto: Gaby Gerster / © Diogenes Verlag

(Auszug Seite 13 bis 14)

Irgendwann vor Tagesanbruch fällt der Strom aus, und ganz Commonwealth erwacht von der Hitze. Die Fensterventilatoren der Fennessys haben mitten im Drehen den Geist aufgegeben, und der Kühlschrank schwitzt Kondenswasser. Als Mary Pat den Kopf bei Jules reinsteckt, liegt ihre Tochter mit fest geschlossenen Augen und halb offenem Mund auf der Bettdecke und pustet kurze Atemstöße in ein feuchtes Kissen. Mary Pat geht durch den Flur in die Küche und zündet sich die erste Zigarette des Tages an. Sie schaut aus dem Fenster über der Spüle und riecht die aufgeheizten Backsteine der Fensterlaibung.
Dass sie keinen Kaffee kochen kann, wird ihr erst klar, als sie es tun will. Sie würde welchen auf dem Herd kochen – es ist ein Gasherd – , aber das Gasunternehmen war ihre Ausreden leid und hat ihnen letzte Woche den Hahn zugedreht. Um die Schulden zu bezahlen, hat Mary Pat zwei Extraschichten in dem Lager der Schuhfabrik übernommen, in dem sie ihren Zweitjob hat, aber sie ist trotzdem noch drei Schichten und einen Gang zu Boston Gas davon entfernt, Wasser zu kochen oder ein Hähnchen zu braten.
Sie trägt den Mülleimer ins Wohnzimmer und fegt die Bierdosen hinein. Leert die Aschenbecher auf dem Beistelltisch und dem Couchtisch und entdeckt noch einen auf dem Fernseher. Ihr Blick fällt auf den Bildschirm und ihr Spiegelbild darin, und sie sieht ein Geschöpf, das sie beim besten Willen nicht mit dem Bild von sich in ihrem Kopf zusammenbringen kann, zu wenig Ähnlichkeit damit hat dieser verschwitzte Trampel in Tanktop und Shorts, mit verfilztem Haar und schlaffem Kinn, der da vor ihr steht. Selbst im matten Grau des Bildschirms erkennt sie die blaue Äderung außen an den Oberschenkeln, was irgendwie doch gar nicht sein kann. Noch nicht. Sie ist erst zweiundvierzig, was ihr vielleicht mit zwölf vorkam wie mit einem Fuß in Gottes Wartezimmer, aber jetzt, wo sie selbst so alt ist, fühlt sie sich wie immer. Sie ist zwölf, sie ist einundzwanzig, sie ist dreiunddreißig, sie ist alle Lebensalter gleichzeitig. Aber sie altert nicht. Nicht im Herzen. Nicht in ihrer Vorstellung.

(Auszug Seite 21 bis 22)

Die Nachrichten haben nur ein Thema – South Boston und das kommende Schuljahr. Schwarze Kinder, die mit dem Bus nach Southie gebracht werden sollen. Weiße Kinder, die mit dem Bus nach Roxbury rausgebracht werden sollen. Glücklich ist niemand darüber.
Außer die Anstifter, die Schwarzen, die den Schulausschuss verklagt haben – ihn seit neun Jahren verklagen, weil man es ihnen einfach nicht recht machen kann.
Mary Pat hat in Meadow Lane Manor und der Schuhfabrik mit zu vielen Schwarzen zusammengearbeitet, um sie für schlecht oder von Natur aus faul zu halten. Viele gute, fleißige, aufrechte Schwarze wollen dasselbe wie sie – regelmäßigen Lohn, Essen auf dem Tisch, Kinder, die ruhig schlafen können. Ihren beiden hat sie gesagt, in ihrem Beisein sollen sie das Wort »Nigger« nur für Schwarze benutzen, die weder aufrecht noch fleißig sind noch die Ehe achten und bloß Kinder in die Welt setzen, damit die Schecks von der Sozialhilfe weiterhin kommen.

(Auszug Seite 37 bis 38)

Zwei Stunden lang befestigt sie mit Timmy Gs Nägeln die Schilder an den Holzstangen, die Brian Shea gebracht hat. Dass sie einen Hammer besitzt, wurde offensichtlich zu Recht vorausgesetzt. Die Nägel sind klein und dünn, von der Sorte, die man schlecht senkrecht halten kann, ohne dass der Daumen dem Hammer in die Quere kommt, aber sie schafft es. Zum ersten Mal an diesem Tag, wenn nicht zum ersten Mal in der Woche kommt sie sich nützlich vor, hat sie eine Aufgabe. Auch sie trägt ein wenig dazu bei, sich gegen die Tyrannei zu wehren. Anders kann man es nicht nennen. Nichts anderes passt. Die an der Macht schreiben ihr vor, wo sie ihr einziges Kind zur Schule schicken soll. Auch wenn das die Bildung des Kindes und sogar sein Leben gefährdet.
So ein Blödsinn. Und um Rasse gehts auch nicht. Sie wäre genauso sauer, wenn ihr gesagt würde, dass sie ihr Kind quer durch die Stadt nach Revere, ans Nordend oder in ein überwiegend weißes Viertel schicken soll. Na gut, vielleicht nicht ganz so sauer, vielleicht ginge es ihr nur gegen den Strich, aber dann nagelt sie das nächste Schild an die nächste Stange und denkt, Scheiß drauf, ich sehe keine Farben. Ich sehe Ungerechtigkeit. Die reichen Säcke in ihren Vorortfestungen (in den rein weißen Städten) wollen nur wieder denen sagen, wo es langgeht, die arm sind und an die Stadt gefesselt. In dem Augenblick fühlt sich Mary Pat den Schwarzen überraschend verwandt. Sind sie nicht alle Opfer derselben Sache? Bekommen sie nicht alle gesagt, Wie es ist?
Nein, eben nicht, denn viele Farbige wollen genau das. Sie haben vor Gericht dafür gekämpft. Und wenn man aus einem Drecksloch wie Five Corners oder den Hauruck-Wohnsiedlungen an der Blue Hill Avenue oder in Geneva kommt, wäre man natürlich gern an einem schöneren Ort. Aber Southie ist nicht schöner, es ist nur weißer. Die Southie High ist genauso ein Elend wie die Roxbury High. Explodierende Toiletten, geplatzte Heizungsrohre, Wasserschäden an den Wänden, Schimmel, abblätternde Farbe, veraltete Schulbücher mit losen Seiten. Dass sie aus ihrem Drecksloch rauswollen, kann sie den Farbigen nicht verdenken, aber es gegen Mary Pats Drecksloch einzutauschen, ergibt keinen Sinn. Und der Richter, der das Ganze angeordnet hat, wohnt in Wellesley, wo sein Gesetz keine Anwendung findet. Hätten die Schwarzen den Besuch der Wellesley High, der Dover Middle School eingeklagt, würde Mary Pat für sie auf die Straße gehen.
Worauf die Gegenstimme fragt: Ist das wirklich so? Wie viele Namen kennst du für Schwarze, Mary Pat?


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Sekunden der Gnade

Aus dem amerikanischen Englisch von Malte Krutzsch

Boston, 1974. Die Stadt kocht. Künftig sollen schwarze Kinder mit Bussen in weiße Schulen gebracht werden und vice versa. Angst geht um und Hass. Eines Nachts kehrt Mary Pat Fennessys 17-jährige Tochter Jules nicht nach Hause zurück. Mary Pat beginnt Fragen zu stellen, stößt auf Schweigen und Widersprüche, bis sie versteht: Man hat ihr das Letzte genommen, was ihr in dieser Welt Halt gab. Außer sich vor Schmerz macht sie sich auf, um Rache zu nehmen an den Verantwortlichen – und um ihre eigene Schuld abzutragen. Um jeden Preis.


Dennis Lehane, irischer Abstammung, geboren 1965 in Dorchester, Massachusetts, schrieb für The Wire und war Creative Consultant für Boardwalk Empire. Er unterrichtet Creative Writing u.a. in Harvard. Seine erfolgreich verfilmten Bücher Mystic River und Shutter Island sind Weltbestseller. Dennis Lehane lebt in Kalifornien und Boston.

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