Für die Recherche zu ihrem neuen, illustrierten Buch Tête-à-Tête mit einer Schildkröte ist die berühmte Naturforscherin Sy Montgomery wortwörtlich in die Welt der faszinierenden Urwesen eingetaucht. Bei ihrem Freiwilligendienst in der Turtle Rescue League lernt sie die ein oder andere Lektion in Sachen Durchhaltevermögen – Gefühle von Zeit, Relevanz und Zuversicht verändern sich in Anwesenheit der Tiere. Manche von ihnen werden zu geliebten Begleitern für Sy Montgomery, wie Fire Chief, die Schnappschildkröte im Bild, zum Beispiel. Inwiefern er der Autorin ein Vorbild ist, verrät sie hier im Gespräch.
Die Autorin im Interview
In Tête-à-Tête mit einer Schildkröte schreiben Sie über Ihre Zeit bei der Turtle Rescue League, einer Auffangstation für kranke und verletzte Schildkröten. Wie fanden Sie während Ihrer Freiwilligenarbeit auch noch Zeit zum Schreiben?
Bei der Turtle Rescue League machte ich mir Notizen, wann immer meine Hände nicht gerade eine Schildkröte berührten. Wenn ich dann nach Hause kam, schrieb ich diese ab und verfasste oft einen Bericht über das, was ich an diesem Tag gelernt hatte. Manchmal gab es ein bestimmtes Thema an einem Tag, zum Beispiel wenn wir Schildkröten freiließen. Ich hatte immer ein Notizheft dabei, wenn wir Schildkrötennester überwachten und schützten, und selbst während der Winterzeit, als wir auf Cape Cod Meeresschildkröten retteten, machte ich mir Stichpunkte – oder versuchte es zumindest. Manchmal gefror die Tinte in meinem Stift.
Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Kontakt mit Schildkröten? Womit begann Ihre Faszination für diese Tiere?
An vieles aus meiner Kindheit erinnere ich mich nicht mehr, weil ich einmal eine Kopfverletzung hatte. Aber ich hatte damals Schildkröten als Haustiere, wie die meisten von uns, die in den 1950er Jahren geboren wurden. Die süßen kleinen Rotwangen-Schildkröten konnte man günstig in Billigläden kaufen. Das Schreckliche daran war, dass sie fast alle ihr kurzes Leben lang in winzigen Plastikschalen eingesperrt waren. Sie hätten Jahrzehnte leben und größer als eine ausgestreckte Erwachsenenhand werden sollen, aber weil uns niemand sagte, wie man sie richtig pflegt, starben die meisten unserer Schildkröten als Babys, als ihre Panzer weich wurden. Unsere Mütter spülten die Kadaver in der Toilette herunter. Ich hatte eine Reihe dieser Schildkröten (meine Mutter sagte mir, es sei dieselbe gewesen, aber ich vermutete nicht), die alle Ms. Yellow Eyes hießen.
Was war Ihre wichtigste Erkenntnis, nachdem Sie so viel Zeit mit diesen Tieren verbracht haben? Was hat Sie am meisten überrascht?
Ich war sehr überrascht, wie spät die Wissenschaft begonnen hat, das zu erkennen, was wir alle schon als Kinder wussten: dass Schildkröten, wie alle Tiere, denken, fühlen und wissen. Jede von ihnen ist einzigartig. Und sie können sehr emotional sein. Einige sind so freundlich, dass sie ihren Ruheplatz verlassen, um Fremde zu begrüßen. Jetzt gibt es wissenschaftliche Studien, die belegen, dass Reptilien manchmal ein komplexes Sozialleben führen. Wir wissen, dass sie lernen und sich erinnern – Waldschildkröten beispielsweise lernen Labyrinthe genauso schnell wie Laborratten. Ich bin so dankbar, dass die lange unterschätzte Intelligenz der Schildkröten nun eine Neubewertung erfährt.
Bei Ihrer Arbeit bei der Turtle Rescue League waren Sie mit viel Leid konfrontiert – war es dabei überhaupt möglich, positiv gestimmt zu bleiben?
Matt, der das Buch illustriert hat, und ich arbeiteten während der Pandemie bei der Turtle Rescue League. Es war eine Zeit, in der die ganze Welt krank und zerbrochen schien. Das Leiden der verletzten und kranken Schildkröten mitanzusehen, war schrecklich. Das Wort „Mitgefühl” bedeutet ja auch „mit Leiden”. Aber zumindest konnten wir oft erfolgreich ihr Leiden lindern und einen vorzeitigen Tod abwenden, während so viele andere Menschen auf der ganzen Welt nichts tun konnten, um zu helfen. Im Falle von Weibchen, die auf dem Weg zu ihren Nistplätzen getötet wurden, konnten wir zumindest ihre kostbaren Eier für sie ausbrüten und später ihre Babys freilassen. Das war der Balsam, der meinen Kummer linderte und mich immer wieder zurückkehren ließ.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft, damit Schildkröten weniger bedroht sind? Hoffen Sie, mit Ihrem Buch etwas bewirken zu können, indem Sie andere inspirieren und das Bewusstsein schärfen?
Wir haben bereits ein größeres Bewusstsein für Schildkröten, die Straßen überqueren, festgestellt – auf unseren Reisen sehen wir viel mehr Schildkröten-Warnschilder als jemals zuvor! Die Menschen wissen jetzt auch, dass es Schildkröten-Rehabilitationszentren gibt – und dass sie verletzte Schildkröten zu einem Experten bringen können, um Hilfe zu erhalten. Unser Buch befasst sich auch mit dem abscheulichen illegalen Handel mit Schildkröten, der sich hauptsächlich auf China und Chinatowns auf der ganzen Welt konzentriert. Für jede Schildkröte, die als Haustier gehalten wird, sterben viele andere bei der Gefangennahme und beim Transport. Selbst sehr geliebte Schildkröten sind als Haustier nicht mehr frei und können nicht mehr zum Erhalt ihrer immer seltener werdenden Art beitragen. Wir sprechen in dem Buch den Verlust von Lebensräumen und die Umweltverschmutzung an – ich würde mir wünschen, dass Bürger und unsere Politiker gemeinsam daran arbeiten, die Lebensräume der Schildkröten, insbesondere unsere Feuchtgebiete, zu erhalten, die Umweltverschmutzung zu beenden und die Umweltverschmutzer zu bestrafen, auch wenn dies auf Bundesebene in den USA nicht geschehen wird, solange wir keine neue Führung im Kongress und im Präsidentenamt haben.
Zu guter Letzt: Wie geht es Ihrem Freund, Fire Chief? Sehen Sie ihn ab und zu?
Fire Chief geht es großartig! Er lebt weniger als eine Meile von mir entfernt in seinem eigenen Teich, und ich sehe ihn ständig. Diesen Sommer haben wir ihn auf ein paar Ausflüge mitgenommen, zu größeren Teichen mit klarerem Wasser, und wir konnten mit ihm schwimmen! Das war ein Traum von Matt und mir, als wir noch an Fire Chiefs Physiotherapie arbeiteten. Er fuhr in seinem Rollstuhl herum, und wir träumten von dem Tag, an dem er frei schwimmen würde. Im klaren Wasser einiger unserer örtlichen Teiche konnten Matt und ich unseren Freund beobachten, der an Land immer noch ziemlich schwerfällig wirkt – fast wie ein Dinosaurier –, sich aber in ein ebenso anmutiges wie kraftvolles Wasserwesen verwandelt, wenn wir unsere Masken und Schnorchel aufsetzen und zu ihm ins Wasser steigen. Was für ein Vorbild an Widerstandsfähigkeit er doch ist! Seine Geschichte ist der Beweis dafür, dass man eine Schildkröte niemals aufgeben sollte.
Tête-à-Tête mit einer Schildkröte
Sie wurden ausgesetzt oder von Trucks überfahren – und heißen nun »Pizza Man«, »Fire Chief« oder »Snowball«. Zu Hunderten haben sie Zuflucht gefunden in einem Haus in Massachusetts. In diesem Refugium für Schildkröten tritt Sy Montgomery einen Freiwilligendienst an – und lässt uns an einer lebensverändernden Erfahrung teilhaben: Wenn wir unsere Existenz mit den Augen dieser uralten, gemächlichen und langlebigen Wesen betrachten, bekommen wir eine Ahnung von dem, was uns überdauern wird.
Sy Montgomery, geboren 1958, ist eine vielfach ausgezeichnete amerikanische Naturforscherin, Drehbuchautorin und Verfasserin von über zwanzig Sachbüchern. Rendezvous mit einem Oktopus war ein ›New-York-Times‹-Bestseller und unter den Finalisten für den National Book Award 2015. Montgomery lebt in New Hampshire.










