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Eine Leseprobe aus Raffaella Romagnolos neuem Roman ›Die Sterne ordnen‹

Mitten im Chaos der Nachkriegszeit verhilft eine Lehrerin ihrer Schülerin zu einem neuen Leben. Raffaella Romagnolos neues Buch Die Sterne ordnen ist ein Roman über Engagement und Menschenliebe und den Weg zum Frieden. Der Roman wurde mit dem Premio della Dante, dem Preis aller beteiligten Dante-Alighieri-Institute aus dem Ausland, ausgezeichnet.

Mit der exklusiven Leseprobe erhalten Sie jetzt einen ersten Einblick ins Buch.

Leseprobe

Auszug Seite 34 - 42

Der Zettel des Direktors in ihrer Hand hat etwas Lebendiges, Unangenehmes, als hielte sie ein Insekt an den Flügeln. Die Kleine würde gern wissen, was darauf geschrieben steht, bevor sie ihn Maestra Gilla aushändigt, traut sich aber nicht, nachzuschauen. Also hält sie ihn etwas von sich weg, während sie hinter der Schuldienerin hergeht.
»Mach schon«, knurrt die Frau, als sie die Treppe zum ersten Stock in  Angriff nehmen. Sie ist kantig, die Figur, der Schritt, der Ton. Sie heißt Antonia.
»Ich hab keine Zeit für Nachzüglerinnen!« Und dann noch: »Gleich am ersten Tag zu spät zu kommen!«
Der Flur gleicht aufs Haar dem im Erdgeschoss, sechseckige Kacheln, hohe Fenster zu der großen Piazza, die sie an der Hand von Suor Giuliana überquert hat, die gleiche Reihe von Türen mit Schildern darüber, die gleichen unverständlichen Geräusche. Die Schuldienerin Antonia strebt mit kämpferischem Eifer voran, mit hysterischen Trippelschritten und rasselndem Schlüsselbund, den sie am Gürtel trägt.
»3A. 3B. 3C. 3D. Merk’s dir! Leute, die sich verlaufen, können wir hier nicht gebrauchen!«, sagt sie, ohne sich umzudrehen.
Am Ende des Korridors biegt sie scharf rechts ab, die Schlüssel klirren unwiderruf lich, und es ist, als befehle sie rechts-marsch-marsch!
Noch mehr Türen.
»4A! 4B!«
Jetzt gehen die Fenster zur Straße hin, und die Kleine sieht die Umrisse des Waisenhauses.
»4C! 4D! Aufgepasst! Hier sind die Fünften!«
Sie sieht die langen schwarzen Äste der Zeder, wie Arme ausgestreckt.
»5A! 5B!«
Sie sieht den Eingang zum Hof. Dort, irgendwo im Dunkeln, stellt sie sich die Katze vor.
»5C!«
Die Traurigkeit ist ein Spinnennetz, das sie erst umschmeichelt und dann gefangen nimmt. Unterdessen hat die Schuldienerin Antonia die geschlossene Tür der 5D erreicht.
»Komm her!«, schreit sie flüsternd.
Mit gesenktem Kopf stellt sich die Kleine neben sie. Die Frau zeigt auf die Kleiderhaken. »Beeil dich! Ich hab nicht den ganzen Vormittag!« Während die Kleine den Mantel ablegt und die blaue Schleife wie eine zerdrückte Blume baumelt, klopft die Frau, wartet nicht auf Antwort, öffnet die Tür, schiebt die Kleine hinein und schließt sie sofort wieder, mit einem dumpfen Schlag.
Dreiundzwanzig Augenpaare sind auf sie gerichtet. Das ist der schlimmste Moment. Der Zettel des Direktors beginnt zwischen ihren Fingern zu zittern.
Dreiundzwanzig Augenpaare plus das der Lehrerin, Maestra Gilla, die das Blatt an sich nimmt und schweigend liest. An ihrer rechten Wange zuckt ein Muskel, das sehen alle. Alle. Sechsundvierzig weibliche Augen.
»Setz dich dorthin«, sagt die Lehrerin und deutet auf den einzigen leeren Platz. Eine Bank in der ersten Reihe, der freie Platz ist neben dem Fenster. Die Klassenkameradin steht auf, damit sie durchkann. Sie stellt den Ranzen auf den Boden, rutscht hinein, merkt, dass sie etwas falsch gemacht hat, für den Ranzen gibt es eine Halterung, daher steht sie wieder auf, verstaut den Ranzen, schlüpft zurück auf die Bank und sieht aus dem Augenwinkel, dass die Kameradin zwei Hefte vor sich hat und den Federhalter in der Hand hält.
Also steht sie erneut auf, um aus dem Ranzen die Sachen zu holen, die sie braucht. Gemurmel. Gekicher. Die Kleine wird feuerrot, und auf einmal ist das der schlimmste Moment.
»Ruhe!«, mahnt Maestra Gilla. Sie tut so, als merke sie nichts von dem ganzen Hin und Her, und fährt mit ihrer Erklärung an der Tafel fort. Bruchrechnen.
Die Kleine schlägt die erste Seite ihres karierten Hefts auf. Sie schreibt alles mit, was die Lehrerin diktiert, obwohl es unnötig ist, die Bruchzahlen kennt sie schon. Auch kann sie 3 / 4 in eine Dezimalzahl verwandeln. 0,75. Und sie weiß, dass 4 / 5 8 / 10 entspricht, was wiederum 0,8 entspricht.
Nach dem Bruchrechnen braucht sie das linierte Heft. Ein Diktat. Danach ein Aufsatz mit dem Titel Mein Willkommensgruß für den Herbst.
»Ihr habt eine Stunde Zeit«, sagt die Lehrerin.
Die Kleine entspannt sich allmählich. Das Thema gefällt ihr. Sie füllt vier dicht beschriebene Seiten. Ohne Flecken. Sie schreibt, im Herbst verfärben sich die Blätter und werden goldgelb, manche auch rubinrot. Die Esskastanien schmecken süß wie Honig. Da sie ein Gedicht des berühmten Dichters Giosuè Carducci auswendig kann, das ihr passend erscheint, beschließt sie, es zu benutzen. Sie schreibt:
»… über unwirtlichen Hügeln steigt der Nebel im leichten Regen, und auf den Straßen riecht man das Gären der Bottiche und den herben Duft der Weine«.
Die Lehrerin geht währenddessen zwischen den Bänken durch. Sie gibt Hinweise, verteilt Bleistifte und Hefte von der Fürsorge. Bei ihr bleibt sie nicht stehen. Unter den Aufsatz schreibt die Kleine »Ende«, dann schaut sie aus dem Fenster. Sie erkennt, welche Form das Schulgebäude hat. Es gibt einen mittleren Trakt (der längere Flur, den sie im Erdgeschoss mit Suor Giuliana und im ersten Stock mit der Schuldienerin Antonia entlanggegangen ist) und zwei hufeisenförmig angeordnete Seitenflügel. Am Ende eines dieser Flügel befindet sich die 5D und ihre Bank. Die Fenster auf der gegenüberliegenden Seite zu zählen ist, als blicke man in einen Spiegel. Unten der weite Hof mit zwei gleichen Treppenaufgängen, die an Wettläufe auf den Stufen und an Ballspiele denken lassen.
Beim Pausenläuten entdeckt sie, dass man aufstehen darf, wenn man will, man kann sich zu zweit zusammentun und Hände klatschen und dabei »Ich heiße Lola / und komm aus Thule, / zum Italienischlernen / geh ich zur Schule« singen oder einen Kreis bilden und »Ringelringelreihen« singen oder auf die Toilette gehen oder auch einfach an seinem Platz sitzen bleiben, um zuzuschauen, was die anderen machen.
Sie sieht, wie Maestra Gilla eine Klassenkameradin ans Pult ruft und ihr einen Apfel schenkt. Sie sieht, wie ihre Banknachbarin die Tischplatte aufklappt und ein Tütchen und ein kleines Päckchen herausholt, das eine halbe gekochte Kartoffel enthält. Die Kleine hat nicht den Mut nachzuschauen, ob in ihrem Ranzen etwas zu essen ist.
Nachdem die Banknachbarin die kalte Kartoffel ungeschält verschlungen hat, greift sie in das Tütchen und stopft sich eine Handvoll Kürbiskerne in den Mund. Ihr bietet sie keine an. Sie ist ziemlich hässlich. Schiefe Zähne, stumpfe Augen, hängende Schultern. Sie macht Rechtschreibfehler, und von Bruchrechnen hat sie keinen blassen Schimmer. Ihr Ausdruck ist nicht intelligent, und sie riecht ein bisschen nach Zwiebel, aber nicht mehr als die Mädchen, mit denen die Kleine nachts den Schlafsaal teilt. Und sie selbst riecht ja auch nach Zwiebel, glaubt sie.
Während des restlichen Vormittags wird nicht im Chor gesungen, und man geht auch nicht in den Hof, um Übungen mit Reifen und Keulen zu machen. Stattdessen malt man ein Bild mit frei wählbarem Sujet, aber ebenfalls zum Thema Herbst. Sie malt drei Kastanien mit Schale. Eine offen, eine zu, eine halb aufgeplatzt. Ihre Nachbarin malt einen Ofen. Dann folgen vier Geometrieaufgaben, und zum Schluss betet man das Engel Gottes. Sie kennt es. Die Nachbarin deklamiert mit heller Stimme, sie bewegt nur die Lippen im Rhythmus.
Bevor sie sie verabschiedet, bittet die Lehrerin alle, »in Schönschrift« ihren Vor- und Nachnamen auf das Deckblatt des karierten Hefts zu schreiben. Eine nach der anderen sollen sie das Heft zum Pult bringen. Am Nachmittag, sagt die Lehrerin, wird sie die gemachten Übungen korrigieren.
Ihre Banknachbarin schreibt: »Piombo Maria Luisa«. Sie schreibt nichts. Als sie an der Reihe ist, tritt sie aus der Bank und legt ihr Heft oben auf den Stoß.
»Dein Name?«, fragt die Lehrerin.
Die Kleine schüttelt den Kopf.
Wieder Gekicher.
»Ruhe!« Die Lehrerin blättert das Heft durch und sieht, dass alle Übungen gemacht sind. Sanft ermahnt sie sie: »Du musst deinen Namen auf das Deckblatt schreiben, woher soll ich sonst wissen, dass es dein Heft ist?« Sie lächelt.
Der Ausdruck der Kleinen dagegen ist angespannt, dunkle Iris, Ringe unter den Augen. Maestra Gilla kommt es vor, als stünde ein wildes Tier vor ihr.
»Diesmal lass ich es dir durchgehen, weil es der erste Tag ist. Aber in meiner Klasse mache ich keine Ausnahmen. Und damit du es weißt, Privilegien hasse ich.« Dann zieht sie den Zettel des Direktors aus der Tasche, liest ihn noch einmal, steckt ihn wieder ein, taucht den Federhalter in die Tinte und schreibt auf das Deckblatt des Hefts:

Francesca Pellegrini

Die Augen der Kleinen durchzuckt ein Leuchten.


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