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Elena Fischer im Klebezettel-Interview

Elena Fischer zeigt sich schlagfertig und spontan im Diogenes Klebezettel-Interview. Die Autorin hat uns und ganz Deutschland mit ihrem Debütroman Paradise Garden zutiefst berührt. Sie ist für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert. Die Leseprobe des ersten Kapitels gibt es auch in diesem Beitrag zu lesen.

Gibt es etwas, über das ihr 13-jähriges Ich überrascht wäre? Ist die Zimmertüre bei Nacht offen oder geschlossen? Welches war die erste CD der Autorin? Diese und mehr Fragen beantwortet Elena Fischer im Video.




Leseprobe

Paradise Garden ist klug und bewegend – ein außergewöhnlich erfolgreiches Debüt. Ein Mädchen verliert seine Mutter, sucht den Vater und findet seine eigene Stimme. Die untenstehende Leseprobe lässt eintauchen in die wunderbare Welt von Billie.

Kapitel 1

Meine Mutter starb diesen Sommer.
    Ein Lied im Radio war nur noch Geräusch und keine Einladung mehr mitzusingen, obwohl keine von uns den Text kannte. Ein Regenguss war nur noch Wetter und keine Gelegenheit mehr, nach draußen zu laufen und barfuß in einer Pfütze zu tanzen.
    Das klingt vielleicht poetisch, aber das ist es nur auf dem Papier. Vierzehn ist ein beschissenes Alter, um seine Mutter zu verlieren. Die Trauer kommt und geht wie Ebbe und Flut, aber da ist sie immer.
    Meine Mutter wurde am heißesten Tag des Jahres beerdigt. Die Vögel strauchelten am weißen Himmel, und die Eidechsen zogen sich in die Schatten der Grabsteine zurück. Am Wegesrand blühten Rosenbüsche, und der Wind wehte ihren süßen Duft bis ans Grab. Die Hitze dehnte die Zeit und verlangsamte alle Bewegungen.
    Ich wischte meine schweißnassen Hände an meinem Kleid ab und starrte in das Loch zu meinen Füßen. Da unten lag der Sarg, darauf lagen Sonnenblumen, und darin lag meine Mutter. Die dunklen Locken umrahmten ihr Gesicht, die roten Lippen lächelten spöttisch, die Füße steckten in ihren weißen Cowboystiefeln, so stellte ich mir das vor.
    Außerdem stellte ich mir vor, dass meine Mutter plötzlich neben mir auf tauchte und mich rettete. Sie zog ihren Rock glatt und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Dann sagte sie so etwas wie »Zieht nicht solche Gesichter, das ist ja nicht auszuhalten!« Meine Mutter küsste mich auf den Scheitel, nahm meine Hand und lief mit mir davon, wie so oft.
    Meine Mutter kam natürlich nicht.
    Stattdessen kam meine erste Periode.
    Der Priester warf Erde auf den Sarg. »Von der Erde bist du genommen, zur Erde kehrst du zurück, der Herr aber wird dich auferwecken«, sagte er in einem merkwürdigen Singsang, und das Blut sickerte, warm und lebendig, aus meinem Körper. Eine Sekunde lang dachte ich, dass ich jetzt auch sterben würde, und am liebsten hätte ich mich zu meiner Mutter gelegt. Es erschien mir wie ein Verrat meines Körpers, dass meine Periode ausgerechnet jetzt kam. Ich rührte mich nicht. Ich schloss die Augen und hoffte, dadurch unsichtbar zu sein. Ich hoffte, dass niemand bemerken würde, dass ich gerade zur Frau geworden war.
    Ich wollte mein Blut dazu bringen, in meinen Körper zurückzufließen, aber ich konnte die Schwerkraft nicht aufhalten. Mein Blut lief träge an meinem Bein hinab. Alles trieb nach unten, in Richtung Erde. Ich presste die Oberschenkel zusammen und versaute mein gelbes Sommerkleid.
    Wäre meine Großmutter hier gewesen, dann hätte sie die Lippen aufeinandergepresst, zwei dünne Striche, die an den Enden nach unten zeigten. Sie hätte unaufhörlich geweint. Meine Großmutter schien einen geheimen Wassertank in ihrem Körper zu haben. Aus ihm speisten sich ihre Tränenbäche. Vielleicht war ihr Gesicht so faltig, weil das ganze Wasser unkontrolliert herausfloss und nichts zurückließ außer Trockenheit.
    Am Tag, als meine Mutter starb, fiel ich auseinander. Übrig blieb eine Buchstabenfolge, die einmal mein Name ge-wesen war.

Meine Mutter nannte mich Billie. B-i-l-l-i-e.
    Dabei berührten sich ihre Lippen kurz und sacht. Meinen richtigen Namen hörte ich zum ersten Mal, als ich sieben war. Am ersten Schultag rief die Klassenlehrerin alle Kinder einzeln auf. Ich blieb übrig, gemeinsam mit einem Namen, der mir fremd war.
    Billie ist eine Abkürzung für Erzsébet«, sagte meine Mutter. Ihre Aussprache war perfekt. Ich verstand zwar Ungarisch, aber alles, was ich hörte, war Ärschebett.
    »Warum wurde ich nicht gleich Billie getauft?«
    »Deine Großmutter war dagegen«, seufzte meine Mutter. Ich kannte meine Großmutter nicht, aber dass sie nichts gut fand, was meine Mutter mochte, hatte ich schon herausgefunden.
    »Warum war sie dagegen?«, wollte ich wissen.
    »Der Name Billie kommt nicht in der Bibel vor«, sagte meine Mutter.
    Kommt Marika denn in der Bibel vor?«
    Meine Mutter schüttelte den Kopf. Dann sagte sie: »Nicht direkt. Aber Marika bedeutet Gottesgeschenk. Das ist jedenfalls eine Bedeutung.«
    »Das heißt, es gibt noch eine andere?«
    Meine Mutter grinste so breit, dass ich ihren goldenen Backenzahn sehen konnte.
   »Die Widerspenstige. Aber daran hat deine Großmutter nicht gedacht.«

 

 

Paradise Garden
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Paradise Garden

Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023

Die 14-jährige Billie verbringt die meiste Zeit in ihrer Hochhaussiedlung. Am Monatsende reicht das Geld nur für Nudeln mit Ketchup, doch ihre Mutter Marika bringt mit Fantasie und einem großen Herzen Billies Welt zum Leuchten. Dann reist unerwünscht die Großmutter aus Ungarn an, und Billie verliert viel mehr als nur den bunten Alltag mit ihrer Mutter. Als sie Marika keine Fragen mehr stellen kann, fährt Billie im alten Nissan allein los – sie muss den ihr unbekannten Vater finden und herausbekommen, warum sie so oft vom Meer träumt, obwohl sie noch nie da war.


Hardcover Leinen
352 Seiten
erschienen am 23. August 2023

978-3-257-07250-1
€ (D) 23.00 / sFr 31.00* / € (A) 23.70
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