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Schmerz

Christoph Poschenrieder denkt nach über: Brandblasen, dem Leser wehtun, Wunderkerzen.

Foto: © Daniela Agostini / Diogenes Verlag

Zuletzt geheult: als ich meinen Hund begrub, ein Jahr her. Jüngster Schmerz: gerade eben, beim Tippen. Supraspinatus, Schulter links. Ein anatomisches Fehlkonstrukt; Nerv, Sehne und Blutgefäße in einer Engstelle zwischen Muskel und Knochen. Aber aushaltbar. Man muss diesem Schmerz mit Haltung begegnen: Schultern zurück und nach unten. Aber auch jedem anderen Schmerz muss man mit Haltung begegnen, Männer sowieso. Diese Haltung ist meist: Ignorieren. Oder so tun, als ob. Wie der schwarze Ritter in Monty Pythons Film Ritter der Kokosnuss: Arm ab? Ach, ist doch nur eine Fleischwunde! Vielleicht ein bisschen viel britisches Understatement.

Sicher gibt es Schmerzen, die einen in die Knie zwingen, die einen erbärmlich machen und brechen. Haltung kann man da getrost vergessen. Dabei hat die Natur das Schmerzempfinden der Kreatur zu deren Schutz eingerichtet. Lieber ein paar Brandblasen ertragen, als die Hand auf der Herdplatte vergessen. Dennoch ist es rätselhaft, warum Schmerzen diese zermalmende Intensität erreichen können.

Reden wir nicht vom körperlichen, sondern vom Schmerz der Seele, des unglücklichen Daseins, und wie man – möglichst – Haltung bewahrt. Nicht über Schmerzen im Plural, sondern den Schmerz im Singular. Denn der ist für einen Schriftsteller von eminenter Bedeutung. Ich denke an Mendel Singer, die Hauptfigur in Joseph Roths Roman Hiob. Das Unglück, das dieser fromme Jude erleidet, der Schmerz, der ihm zugemutet wird, ist ungeheuer. Der Mann verliert alles, was ihm lieb ist. Warum bin ich so gestraft?, denkt Mendel. Wo ist die Sünde? Wo steckt die Sünde? Aber er findet nichts, der rechtschaffene Mendel. Er hält sich gerade in seinem bodenlosen Sturz, er rebelliert gegen seinen Gott; und es ist ihm nach Erdulden und Kampf sogar ein Hauch von einem Happy End gegönnt.

Es ist eine Geschichte, die jedem mitfühlenden Menschen die Tränen in die Augen treiben muss. Gerade weil Mendel Singer eine so jämmerliche, erbarmungswürdige Figur ist. Die wahren Helden sind Menschen, die Schmerz ertragen können; jedenfalls mehr als unsereins. Weiß der Teufel, wo die Belohnung dafür wartet; vielleicht im Jenseits, aber ich würde nicht darauf wetten. Der Jude Joseph Roth muss viel über den Schmerz nachgedacht haben. Gefühlt hat er, der unter elenden Umständen 1939 im Pariser Exil starb, ihn sicher auch. An einer Stelle im Hiob steht: »Seine Majestät, der Schmerz, dachte der Doktor, ist in den alten Juden gefahren.« Dem König Schmerz sind wir alle Untertan.

Jede Lebensgeschichte ist eine Leidensgeschichte, sagt Arthur Schopenhauer, der Schmerzensmann der Philosophie. Das bedeutet, dass Schmerz nicht Ausnahme ist, sondern Normalzustand, die Condition humaine im eigentlichen Sinne: Alles Leben ist Leiden. Was leichter zu verstehen und zu akzeptieren ist, wenn man dieses Leiden als das Erleiden der Zustände, das Hinnehmenmüssen der Dinge erkennt, die man nicht ändern kann oder will. Dieses Leiden hat immerhin den Vorteil, gerecht verteilt zu sein. Es trifft auch die vor Not und Sorgen geborgenen Menschen, sagt Schopenhauer. Und zwar in Form der Langeweile – ein nicht gering zu achtendes Übel: Sie malt zuletzt wahre Verzweiflung auf das Gesicht.

Woher kommt der Schmerz? Aus dem Begehren, von den ewig unstillbaren Begierden, den unerfüllten Wünschen. Da hilft es nicht, wenn das eine oder andere Erhoffte in Erfüllung geht. Der Mensch ist unzufrieden, sagte sich Mendel. Eben hat er ein Wunder erlebt, schon will er das nächste sehen. 

 

»Wir sind nun einmal mit jeder Faser unseres Leibes, in jeder Sekunde unseres Lebens bedürftig. Weshalb der Schmerz uns jederzeit ergreifen kann. Wir sind niemals sicher.«

 

Wir sind nun einmal mit jeder Faser unseres Leibes, in jeder Sekunde unseres Lebens bedürftig. Weshalb der Schmerz, in leichteren und schwereren Formen, uns jederzeit ergreifen kann. Wir sind niemals sicher, am Horizont sieht Schopenhauer stets die dunkle, unbemerkte Nebelgestalt. In einer Konsumgesellschaft zu leben macht die Sache auch nicht einfacher. Die Bedürfniserzeugungsindustrie nimmt uns in die Mangel, kaum dass wir sprechen können, und sie hält den Griff bis zu der Frage, ob Vati nicht doch den Eichensarg bevorzugt hätte. Mindestens.

Nicht schön, für uns. Für die Hersteller begehr(enswer)ter Konsumgüter und für Romanschreiber jedoch ideal, geradezu eine Conditio sine qua non. Jeder erfüllte Wunsch, jedes für den Moment befriedigte Bedürfnis katapultiert den Menschen auf eine Höhe, von der man nur durch Fall wieder herabkann, schreibt Schopenhauer im vierten Buch seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung, und jeder plötzliche übermäßige Schmerz ist eben nur der Fall von so einer Höhe.

»Fallhöhe«: Danach lässt sich das dramatische Potenzial einer Romanheldin oder eines Romanhelden abschätzen. Die glückliche Familie auf den ersten zehn Seiten ist die beste Garantie für ein mittleres Massaker auf Seite 120. Ich habe viel mit Helden zu tun: als Leser, wenn ich sie bewundere oder bemitleide, und in meinen Büchern, denn auch jede epische Erzählung ist eine Leidensgeschichte. Ich bin der, der ihnen, den Helden und Heldinnen, all das einbrockt, der ihnen die großen Hoffnungen eingibt, aber die Auswege verstellt und die Schläge verpasst. »Die Schicksalsschläge« und die anderen. Also interessiert mich an den Figuren, die ich zeichne: Was fehlt ihnen, was begehren sie? Ihr besonderer Schmerz, dieses Samenkorn, muss begossen und gedüngt und unter fortwährendem Zupfen zu einer blühenden Pflanze gezogen werden.

Das macht nicht immer Spaß. Ich möchte gern glauben, dass Joseph Roth seinen Hiob unter Tränen geschrieben hat; es wäre allerdings etwas unprofessionell. Mit Leidenschaft, sicher, und ein wenig Rührung beim Wiederlesen. Manche Kollegen berichten von einer Art Trennungsschmerz auf den letzten Seiten. Aber so ist das nun einmal mit der epischen Dichtung. Sie führt ihren Helden durch tausend Schwierigkeiten und Gefahren bis zum Ziel: Sobald es erreicht ist, lässt sie schnell den Vorhang fallen. Glück, meint Schopenhauer, ist nicht darstellbar. Jedenfalls langweilig.

Aber im Grunde sind es nicht die Figuren, die leiden. Sie tun das stellvertretend, denn eigentlich meine ich den Leser. Dem Leser Schmerz zuzufügen, darum geht es. Wenn er nicht mitleidet mit den Figuren, habe ich versagt. Wenn es beim Lesen nicht wenigstens ein bisschen wehtut, habe ich versagt. Ich kann ersatzweise ein paar Witze erzählen, doch Witze sind wie Wunderkerzen – im Nu spröde, dürre, kalte Asche. Was ich will, ist: ein Stück Kohle anzünden. Es soll die Glut halten, noch lange nachdem der letzte Satz gelesen ist.

Erstmals erschienen in DAS MAGAZIN 3 9/2015.

 

Christoph Poschenrieder, geboren 1964 bei Boston, studierte an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München. Danach besuchte er die Journalistenschule an der Columbia University, New York. Seit 1993 arbeitet er als freier Journalist und Autor von Dokumentarfilmen. Heute konzentriert er sich auf das literarische Schreiben. Sein Debüt Die Welt ist im Kopf mit dem jungen Schopenhauer als Hauptfigur erhielt hymnische Besprechungen und war auch international erfolgreich. Mit Das Sandkorn war er 2014 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Christoph Poschenrieder lebt in München.

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