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Der Soundtrack zu Sasha Filipenkos ›Der ehemalige Sohn‹

Im Roman Der ehemalige Sohn beschreibt Sasha Filipenko die politische Starre in seinem Heimatland Belarus und das Aufbegehren der Jugend. Manchen Szenen verleiht er die passende Atmosphäre, indem er sie gleichsam mit Hintergrundmusik untermalt. Weil wir im deutschsprachigen Raum die zitierten Gedichte und Lieder nicht im Ohr haben, hat die Übersetzerin Ruth Altenhofer eine kommentierte Playlist zum Buch erstellt – von Joseph Brodsky bis zu Rock aus Belarus.

Foto: Lukas Lienhard / © Diogenes Verlag

Joseph Brodsky

(Im Roman Seiten 18 f. und 282)

Joseph Brodsky schrieb sein Gedicht Ne wychodi is komnaty / Geh nicht aus dem Zimmer 1970, wenige Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Gulag und kurz vor seiner Ausbürgerung aus der Sowjetunion 1972. Aufgrund seiner geistig autonomen Dichtkunst war der spätere Nobelpreisträger (1987) dem Regime ein Dorn im Auge und wurde des Parasitentums bezichtigt. Daher wurde ein großer Teil seiner Lyrik in Russland mit enormer Verzögerung publiziert, Geh nicht aus dem Zimmer z. B. erst 1994. Es handelt vom Rückzug aus der verlogenen und brutalen Realität in der Breschnew-Zeit, in der die Bedrohung schon auf dem Flur der Kommunalka beginnt. 

Nicht zuletzt ist Joseph Brodsky bekannt für den singenden Ton seiner Lesungen, und wie sein Gedicht Geh nicht aus dem Zimmer im Original klingt, hört man hier: Ne wychodi is komnaty / Geh nicht aus dem Zimmer, gelesen von Joseph Brodsky (undatierte Aufnahme)

Bild von Markus Winkler auf Pixabay

Robert Roschdestwenski

(Seite 87)

Der 1932 geborene Robert Roschdestwenski war in den 1970er-Jahren einer der beliebtesten Dichter der Sowjetunion, er war es auch, der für die Olympischen Spiele in Moskau 1980 die griechische Hymne ist Russische übersetzte. 

Monolog schenschtschiny / Monolog einer Frau, auch Oschidanije / Warten genannt, bildet sehr einfühlsam und vielschichtig die Gedanken und Gefühle einer Frau ab, die nach einer Kontaktanzeige am vereinbarten Treffpunkt auf einen Mann wartet. Sie kennt ihn noch gar nicht, bringt ihm jedoch all ihre Hoffnungen, Sehnsüchte und Bedürfnisse entgegen. 1985 wurde der Monolog im Boris-Pokrowski-Kammertheater als Monooper uraufgeführt – vertont von Mikael Tariwerdijew.  

Eine sehr berührende Interpretation gibt es von Alissa Freindlich.

Natallja Arsennjewa

(Seite 115 f.)

Natallja Arsennjewa (1903–1997) war eine belarussische Lyrikerin und Übersetzerin, deren Bedeutung für die nationale Identität der BelarussInnen heute umstritten ist. Zweifellos war sie eine Person, die mit ihrer schriftstellerischen, übersetzerischen und journalistischen Tätigkeit maßgeblich zum Erhalt der belarussischen Sprache und somit auch der nationalen Identität beigetragen hat. Jedoch ging diese ihre Intention damit einher, dass sie – im Widerstand gegen die repressive Sowjetmacht – mit der deutsch-faschistischen Besatzung kooperierte, indem sie für die 1941 bis 1944 in Minsk erscheinende profaschistische Belarussische Zeitung  schrieb. Noch dazu war sie ab 1922 mit Franzischak Kuschal verheiratet, damals Kapitän der polnischen Armee und im Zweiten Weltkrieg Befehlshaber der Weißruthenischen Heimwehr – der zwar ebenfalls die Idee verfolgte, Belarus zur Unabhängigkeit zu verhelfen, aber eben auf Seite der Nationalsozialisten.

Die Haltung des offiziellen Belarus gegenüber Natallja Arsennjewa ist widersprüchlich: Einerseits wird sie als Kollaborateurin verachtet, andererseits trägt ein seit 1993 jährlich unter staatlicher Schirmherrschaft durchgeführtes Festival der sakralen Musik in Mogiljow den Namen Mahutny Boscha / Allmächt’ger Gott, also den Titel des von ihr 1943 geschriebenen Gebets. In der Vertonung von Nikolaj Rawenski erlangte dieses Gebet zwar 1993 nicht den Status der Hymne der Republik Belarus, wurde aber auch von staatlicher Seite anstandslos als religiöse Hymne der belarussischen Christen akzeptiert.

Seit Natallja Arsennjewas patriotisches Gebet auch im Zuge der Proteste ab August 2020 gesungen wurde, unter anderem vom Chor der Belarussischen Staatlichen Philharmonie, sehen Lukaschenko-Anhänger in ihrer Biographie einmal mehr eine willkommene Gelegenheit, die Protestierenden mitsamt ihrer Symbolik als faschistisch zu verunglimpfen.

Mahutny Boscha / Allmächt’ger Gott, gesungen vom Chor der Belarussischen Staatlichen Philharmonie, 15. August 2020

N.R.M.

(Seiten 125, 168 f.)

N.R.M. ist die Abkürzung für Nesaleschnaja Respublika Mroja / Unabhängige Republik der Träume und seit 1994 der Name einer Minsker Grunge-Punk-Band, die aufgrund ihrer politischen Texte (auf Belarussisch) beim Regime aneckte und immer wieder für ihre Konzerte keine Genehmigung bekam. Bandleader Ljawon Wolski schrieb schon in den Achtzigern Songs, vor denen die sowjetische Jugend geschützt werden musste, und gilt seit 30 Jahren als Ikone der Alternativkultur, auch für die heutige Jugend.

Der Song Try tscharapachi / Drei Schildkröten (im Roman wird das gleichnamige Album aus dem Jahr 2000 – ein Meilenstein der belarussischen alternativen Musik – als eines erwähnt, das nicht im staatlichen Radio läuft) ist 2020 einer der wichtigsten Protestsongs:

N.R.M.:  Try tscharapachi / Drei Schildkröten, 2000

Im Roman Der ehemalige Sohn kommen Ausschnitte aus zwei Songs von N.R.M. vor. In Chudsawet / Künstlerischer Rat geht es – eigentlich genau wie bei Brodsky – um eine Abkehr von der Außenwelt und Flucht in die Phantasie: Denk dir eine Welt, wie sie dir gefällt.

N.R.M.: Chudsawet / Künstlerischer Rat, 2000

Tojo, schto josz pamisch nami /Was da ist zwischen uns beiden besingt die Liebe als etwas, das unabhängig von allen menschlichen Überzeugungen und Zwängen über allem steht.

N.R.M.: Tojo, schto josz pamisch nami /Was da ist zwischen uns beiden, 2006

Buchcover von Sasha Filipenkos neuem Roman

Ljapis Trubezkoj

(Seite 227)

Die 1990 in der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) gegründete Ska-Punk-Band Ljapis Trubezkoj gab es bis 2014, sie hatte ihre Fans im gesamten russischsprachigen Raum. Allerdings wurde sie 2011, nachdem Frontmann Sergej Michalok die Niederschlagung der Proteste im Dezember 2010 kritisiert hatte, auf die »schwarze Liste« der staatlichen Zensur gesetzt. Michalok verließ nach einer Anklage wegen Beleidigung des Präsidenten das Land und lebt mittlerweile in der Ukraine.

Der im Roman zitierte Song Graj / Spiel erschien 2011 im Album Wesjolyje kartinki / Lustige Bildchen, das eine Reaktion auf die Niederschlagung der Proteste im Dezember 2010 und die anschließende Unterdrückung von Opposition und Kulturszene war.

Ljapis Trubezkoj: Graj / Spiel, 2011

Wesjolyje rebjata und Pesnjary

(Seiten 159 und 237)

Die Ensembles Wesjolyje rebjata / Lustige Burschen und Pesnjary / Die Sänger gelten beide als sowjetische Antwort auf The Beatles, die mit ihrem Song Girl 1967 auf einer Schallplatte der Firma Melodija vertreten und damit auch in der Sowjetunion flächendeckend bekannt und populär waren. In einer Zeit, in der sich der Osten gern mit dem Westen maß, entstanden russische und englische Coverversionen von Beatles-Songs, aber auch sowjetische Eigenkreationen, die sich stilistisch an die Beatles anlehnten.

Sa poltschassa do wesny / Eine halbe Stunde vor Frühling ist eine Romanze aus dem Jahr 1976, die auch heute noch gern gespielt und gecovert wird – ein richtiger Evergreen. Erstmals wurde das Lied 1976 von den Pesnjary gespielt, die 1969 in Minsk gegründet wurden und deren Solosänger Wladimir Muljawin Volkskünstler sowohl der BSSR (1979) als auch der UdSSR (1991) war.    

Pesnjary: Sa poltschassa do wesny / Eine halbe Stunde vor Frühling, 1976

Sogar Ljapis Trubezkoj machten 1997 eine Coverversion:

 Ljapis Trubezkoj: Sa poltschassa do wesny / Eine halbe Stunde vor Frühling, 2002

Die Gruppe Wesjolyje rebjata publizierte 1970 eine Platte mit Ob-La-Di, Ob-La-Da, einer russischen Version von Drive my car und zwei eigenen Songs, einer davon Aljoschkas Liebe.

Wesjolyje rebjata: Aljoschkina ljubow / Aljoschkas Liebe, 1970

Franzisks Generation kennt das Lied aber am ehesten in der Version der Popgruppe Iwanuschki International, an denen um die Jahrtausendwende niemand vorbeikam. Ihr zweites Album (Twoi pisma / Deine Briefe, 1997) enthält eine Coverversion des alten Hits.

Iwanuschki International, Aljoschkina ljubow / Aljoschkas Liebe, 1997  

Viktor Zoi

(Seite 259 f.)

Die Band Kino war eine der Kultbands der sowjetischen Achtzigerjahre. Ihr Frontmann Viktor Zoi kam 1990 im Alter von 28 Jahren bei einem Autounfall ums Leben und wird noch heute wie ein Heiliger verehrt. 

Der berühmteste Song der unverwechselbaren Post-Punk-Band ist wohl Chotschu peremen! / Ich will Veränderungen!, die »Perestroika-Hymne« aus dem Jahr 1986. Im August 2020 spielten kurz vor den Präsidentschaftswahlen in Minsk zwei DJs den Song bei einer Veranstaltung, die der Staat organisiert hatte, um eine Kundgebung der oppositionellen Kandidatin Swetlana Tichanowskaja zu vereiteln, und gingen dafür zehn Tage in Haft.

Kino: Chotschu peremen! / Ich will Veränderungen!, 1986

Den Titel Petschal / Tristesse handelt wie viele Kino-Songs von einem dumpfen, schwer greifbaren und doch erdrückenden Überdruss – und bringt damit Zisks Lebensgefühl auf den Punkt. Das Album Posledni geroj / Der letzte Held wurde 1989 in Moskau aufgenommen und in Frankreich unter dem Titel Le Dernier Des Héros herausgegeben.  

Viktor Zoi: Petschal / Tristesse, 1989

Bild von Free-Photos auf Pixabay

Jacek Kaczmarksi und Andrej Chadanowitsch

(Seite 307)

Nasch klass / Unsere Klasse ist ursprünglich ein Lied des polnischen Liedermachers Jacek Kaczmarski, der in den 80er- und 90er-Jahren Protestlieder schrieb und als »Stimme der Solidarność« bezeichnet wurde. Sein großes Vorbild war der sowjetische Musiker Wladimir Wyssozki – am Anfang von Kaczmarskis Karriere stand eine eigene Version von Wyssozkis Ochota na wolkow / Wolfsjagd. 

Der Funke von Kaczmarskis Musik war schon 1996 auf den belarussischen Lyriker, Übersetzer und Musiker Andrej Chadanowitsch übergesprungen. Bei den Protesten 2010 gab es eine Situation – kurz bevor die Spezialeinheiten in Aktion traten –, die nach Chadanowitschs Gefühl ein Lied verlangte: eines zum Mitsingen, das Mut macht und drei Minuten lang die Angst vergessen lässt. Er stimmte Mury / Mauern an – zwei Strophen plus Refrain, dann musste er rennen.

Mury / Mauern, gesungen von Andrej Chadanowitsch

Dieses Lied hat Chadanowitsch von Kaczmarski, der wiederum die Melodie von Lluís Llach i Grande hat, der 1968 mit L’Estaca eine Hymne der Befreiung von politischer Unterdrückung geschaffen hat. Und Chadanowitschs belarussische Version der »Mauern« ist – da hatte er den richtigen Riecher – tatsächlich auch 2020 eins der wichtigsten Protestlieder geworden.

Das Lied Nasch klass / Unsere Klasse (ebenfalls eine Übersetzung eines Lieds von Jacek Kaczmarksi) ist eine Aufzählung einer ganzen Schulklasse, was aus jedem einzelnen Kind geworden ist. Der eine schlitzt sich die Pulsadern aus, der andere wird Chirurg, jedenfalls leben die meisten über die ganze Welt verstreut.  Mit einem Zitat daraus beschließt Sasha Filipenko seinen Roman Der ehemalige Sohn, ein Abschiedssong für die jungen Leute von Belarus, die in der Heimat keine Zukunft mehr für sich sehen, die zu ehemaligen Söhnen und Töchtern ihres Landes geworden sind.

Nasch klass / Unsere Klasse, gesungen von Andrej Chadanowitsch

 

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