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›Mit dir steht die Welt nicht still‹ von Melissa Müller – die Hintergründe zum Buch

Bei der Recherche zu einer Klassenkameradin von Anne Frank wurde die Autorin Melissa Müller auf eine außergewöhnliche Liebesgeschichte aufmerksam – eine Verbundenheit, die zwei Menschen nach der Shoah zurück ins Leben holte. In Mit dir steht die Welt nicht still.
Eine Liebe nach dem Holocaust
 porträtiert sie Nanette Blitz und John F. Konig, deren Zuneigung füreinander sich anfangs in einem Briefwechsel über Kontinente hinweg entfaltete. 

Die erhaltenen Briefe und Fotos der beiden Zeitzeugen hat Melissa Müller in einem beeindruckenden Bilderdossier zum Buch gesammelt. Im folgenden Interview verrät sie unter anderem, was sie bei ihrer Recherche und dem Schreiben dieser Doppelbiografie als besonders herausfordernd empfand.

Melissa Müller im Interview

Wie sind Sie auf Nanette Blitz und John F. Konig und ihre berührende Liebes- und Lebensgeschichte gestoßen?

Ich schrieb Nanette zum ersten Mal während meiner Recherchen zu einer Biografie der Anne Frank und befragte sie als Zeitzeugin. Nanette war mit Anne in einer Klasse. Nach Erscheinen meines Buchs lernte ich Nanette und John, vermittelt durch ihre älteste Tochter, persönlich kennen, über mehrere Jahre trafen wir uns immer wieder; ein Einander-Näherkommen auf Raten, geradezu zögerlich.

Es war John, der mir schließlich die Briefe zu lesen gab, insgesamt 500 handgeschriebene Seiten, die Nanne (so wurde sie meistens genannt) und er über fast zwei Jahre ausgetauscht hatten. Sie in London, er in São Paulo. Schüchterne Annäherungen zweier Vollwaisen Anfang zwanzig – sie kannten sich, bevor John nach Brasilien auswanderte, ja erst seit sechs Wochen –, ergreifende Geständnisse, hinreißende Liebeserklärungen und an vielen Stellen auch sehr lustig. Zugleich sind die Briefe spannende Zeitdokumente – man erfährt viel über die frühen Fünfzigerjahre diesseits und jenseits des Atlantiks. Ich nahm mir, mit Zustimmung der beiden, vor, Auszüge aus diesen Briefen zum Herzen oder zum roten Faden eines Buchs über ihre Liebe zu machen.

Wie gingen Sie bei der Recherche vor? Und was war dabei die größte Herausforderung?

Ich habe viele Gespräche mit den beiden geführt, sowohl Einzelgespräche, denn die beiden haben sehr unterschiedliche Erfahrungen in ihre Beziehung mitgebracht, als auch – seltener – mit den beiden gemeinsam. Die persönlichen Erinnerungen, genauso die Unzuverlässigkeit der Erinnerungen, sind für das Buch sehr wichtig. Viele, auch ganz zentrale, Teile beider Familiengeschichten habe ich jedoch in Archiven recherchiert, sowohl im großteils noch ungeordneten Familienarchiv, um das sich inzwischen die Kinder von Nanne und John kümmern, als auch in historischen Archiven, unter anderem in Amsterdam, Nannes Geburtsstadt. Im Lauf meiner Recherchen verstand ich (zum Beispiel) immer besser, warum Nanne manchmal so abweisend reagierte, wenn sie von ihren Eltern, besonders von ihrem Vater erzählen sollte. Sie war zerrissen zwischen ihrer kindlichen Liebe und Bewunderung für ihn und der Versuchung, über manche seiner Entscheidungen zu urteilen. Darüber differenziert und gerecht zu erzählen war eine der großen Herausforderungen für mich, aber ich fand es wichtig, denn es war eine Last, die sie in ihre Beziehung mit John und in ihr Familienleben mitnahm.

Die Arbeit an Biografien, wie der zu Anne Frank (Das Mädchen Anne Frank, 1998, vollständig überarbeitete Neuauflage 2013), prägt Ihr Schaffen. Wie finden Sie jeweils den richtigen Ton, diese Geschichten zu erzählen?

In diesem besonderen Fall erzähle ich die Geschichte, oder Biografie, einer großen Liebe, also die Doppelbiografie zweier Liebender. Beide bringen einen schweren Rucksack mit Erfahrungen und Erinnerungen in die Beziehung mit. An Nanne bleibt ihr mit Vergangenheit gefüllter Rucksack wie eine Ermahnung hängen, nur ja nicht zu vergessen, was geschehen ist. Trotzdem gelingt es den beiden, einander zu vertrauen, bedingungslos Ja zueinander zu sagen, ein erfülltes Leben miteinander zu führen, sich ihre Liebe zu bewahren und sie an ihre Kinder und Kindeskinder weiterzugeben. Ohne Humor wäre ihnen das womöglich nicht gelungen. Beide konnten über sich selbst lachen, John noch besser als Nanette. Dieser Humor sollte im Buch mitschwingen oder wenigstens immer wieder anklingen.

Im Rahmen Ihrer Recherche zu Mit dir steht die Welt nicht still haben Sie auch mit den Kindern von Nanette und John und deren Nachkommen gesprochen – was hat Sie daran besonders beeindruckt?

Als »A World of Their Own« sprachen die Kinder untereinander über die Liebe ihrer Eltern und assoziierten sie, augenzwinkernd, mit einer Soap Opera. Ich sah von außen über Jahre eine kosmopolitische Vorzeigefamilie, die in einer vermeintlich heilen Welt lebte, sich jedoch in Unausgesprochenem zu verlieren drohte.

Tatsächlich kämpften die drei Kinder, jedes auf seine Weise, um die Anerkennung und Liebe ihrer traumatisierten Mutter und lernten erst, als sie selbst Eltern wurden, in schmerzhaften Auseinandersetzungen, Verletzungen beim Namen zu nennen und offen aufeinander zuzugehen – nur um festzustellen, wie groß die Liebe tatsächlich ist, die die Generationen miteinander verbindet.

In Mit dir steht die Welt nicht still verweben Sie auf faszinierende Weise den Briefwechsel zwischen Nanne und John mit erzählenden, biografischen Passagen. Wie haben Sie die einzigartige Struktur und Sprache für Ihre Erzählteile gefunden?

Die Briefe, die ausschließlich für den jeweils anderen bestimmt waren, berühren in ihrer Unverstelltheit und Unmittelbarkeit. Nanette und John haben beim Schreiben keinen Moment daran gedacht, dass sie jemals veröffentlicht werden könnten. Beim Übersetzen der Briefe ging es mir vor allem auch darum, der Zeit, in der sie geschrieben wurden, und ihren Tonlagen treu zu bleiben.

Beim Strukturieren der biografischen Passagen hatte ich Nanettes Bemerkung im Kopf, dass ihr Gedächtnis nicht linear arbeite, ihre Erinnerungen nicht chronologisch verliefen, sondern in Flashbacks kämen, manchmal mit schönen Bildern, die sich aber nur mit Mühe zu einem Ganzen zusammensetzen ließen, oft wie Heimsuchungen, mit denen sie zu kämpfen habe und fertigwerden müsse. Die Leser und Leserinnen sollen ihre Zerrissenheit und ihren inneren Kampf um ihr Glück nachfühlen können. John machte es ihnen (und mir) leichter: Er war ein zwar leiser, aber begnadeter Anekdotenerzähler und wusste, wie man Pointen setzt.

 

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Mit dir steht die Welt nicht still

Eine Liebe nach dem Holocaust
Mit einem Bildteil

London, 1951. Für Nanette ist es eine Zufallsbegegnung, für John ist es Liebe auf den ersten Blick. Doch John steht kurz vor seiner Auswanderung nach Brasilien. Ginge es nach ihm, würde er seinen Plan ändern, aber Nanette, die mit Anne Frank befreundet war und als Einzige ihrer Familie Bergen-Belsen überlebt hat, fürchtet sich vor dem Glück. Als sie einander Brief um Brief schreiben, gesteht sie sich langsam ein, dass sie mit ihm zurück ins Leben finden kann. Ein Buch über die rettende Kraft der Liebe.


Hardcover Leinen
336 Seiten
erschienen am 23. April 2025

978-3-257-07291-4
€ (D) 25.00 / sFr 34.00* / € (A) 25.70
* unverb. Preisempfehlung
Auch erhältlich als

 

Melissa Müller, geboren in Wien, ist Autorin und Drehbuchautorin. Ihre Biografie ›Das Mädchen Anne Frank‹ wurde in 25 Sprachen übersetzt und die Verfilmung mit mehreren Emmys ausgezeichnet. ›Bis zur letzten Stunde. Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben‹ in Zusammenarbeit mit Traudl Junge stand mehr als ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste und diente als Vorlage für den Oscar-nominierten Film ›Der Untergang‹. Im Diogenes Verlag veröffentlichte sie 2023 gemeinsam mit Monika Czernin ›Picassos Friseur. Die Geschichte einer Freundschaft‹.