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»Bleiben wir Freunde, obwohl – oder gerade weil?«
Ein Interview mit Christoph Poschenrieder

Inspiriert von den Geschehnissen rund um den Münchner Parkhausmord, hat Christoph Poschenrieder einen Roman über die Macht der Freundschaft und des Zweifels verfasst: Ein Leben lang.

Der neue Roman des Autors von Mauersegler ist am 23. Februar erschienen. Im Diogenes-Interview spricht er über die Beweggründe, sich dieses Stoffes anzunehmen und wir erfahren, wie es ihm gelungen ist, 

Foto: © Daniela Agostini / Diogenes Verlag

Ihr neuer Roman Ein Leben lang ist inspiriert von einem Gerichtsfall, der in Deutschland vor etwa 15 Jahren für großes Aufsehen sorgte: dem sogenannten Münchner Parkhausmord. Warum hat dieser Stoff Ihr Interesse geweckt und wieso haben Sie dem Thema gerade jetzt einen Roman gewidmet?

Christoph Poschenrieder: Anders als meinetwegen Parmesan reifen Romanthemen nach eigenen Gesetzen. Meine Frau Daniela Agostini ist Dokumentarfilmerin, vor über zehn Jahren drehte sie eine Doku über den Freundeskreis des »Parkhausmörders«, also wie die Freunde und Freundinnen des Angeklagten den Prozess und das Urteil erlebten. Ich dachte mir damals: Guter Stoff für einen Roman. Aber nicht als Krimi mit Kommissar und sauberer Auflösung am Ende und alle gehen beruhigt schlafen. Sondern eher: Was macht denn das mit einer Gruppe? Welche Mechanismen wirken da? Ist das Sprengstoff oder Klebstoff? Was hält sie zusammen, was treibt sie auseinander?

Aufgrund der Nähe meiner Frau zu dem Freundeskreis habe ich das Projekt immer wieder hinausgeschoben. Manchmal braucht es einfach eine Distanz zu den Dingen. Der Blick verändert sich mit der Zeit, und das gilt für alle Beteiligten.

Waren die echten Freunde aus dem Prozess um den Parkhausmord München auch Vorbild für die Charaktere in Ihrer Geschichte?

Christoph Poschenrieder: Überhaupt nicht. Wenn es da Übereinstimmungen geben sollte, dann sind die wirklich nur zufällig – oder gut erfunden.

Der Roman entzieht sich einer exakten geografischen und zeitlichen Verortung. Weshalb?

Christoph Poschenrieder: Es geht mir nicht um die exakte Nacherzählung eines »wahren Falls« oder eine späte Aufklärung à la »So war es wirklich«. Verbrechen, Morde werden verübt, und für viele Menschen wird eine Situation, die sie bloß aus Krimis kennen, zur bitteren Realität, mit ihr all das Unfassbare, das Unvorstellbare, Undenkbare. Sie sind plötzlich gezwungen, Stellung zu beziehen. Sie müssen Bindungen festigen oder lösen, sich rechtfertigen und vieles hinterfragen. Zeit und Ort sind für einen Roman, der so etwas beschreibt, nicht nötig. Es passiert überall und jederzeit, und es kann jeden treffen. Und die allermeisten werden überrascht sein: Wie, er, sie? Das kann doch nicht sein!

Nach Das Sandkorn und Mauersegler nehmen Sie sich nun abermals des Themas Gemeinschaft an. Die Geschichte liest sich wie ein Krimi, beinhaltet auch Elemente eines Gerichtsdramas, vor allem ist es aber ein Roman über die Kraft der Freundschaft. Hat das Verfassen des Romans Ihr Verständnis davon verändert?

Christoph Poschenrieder: Nicht verändert, eher erweitert. Die wenigsten unter uns erleben es, dass eine Freundschaft derart geprüft wird. Dann muss man sich fragen: Bleiben wir Freunde – obwohl oder gerade weil? Oder lassen wir’s besser? Freundschaft ist ja nicht gleich Knechtschaft. Ich muss niemandem blind ins Verderben folgen, und wenn ich das Gefühl habe, dass mein Vertrauen grob missbraucht worden ist, dann darf ich eine Freundschaft aufkündigen. Ich darf aber auch sagen: Wir haben hier eine Extremsituation, der hat Scheiße gebaut, er braucht mich nun mehr denn je. Freundschaft ist ein anderes Wort für Freiheit.

Der Roman setzt sich aus Äußerungen verschiedener Figuren zusammen, einer Journalistin, der Freund:innen, des Angeklagten, des Anwalts. Sie sprechen nicht mit-, sondern übereinander. Was war der Beweggrund für diese Perspektive, und welche Rolle spielt dabei der Angeklagte?

Christoph Poschenrieder: Im Roman sind seit der Tat viele Jahre vergangen. Die Freunde sind nicht mehr so eng wie früher. Die Erinnerungen können nicht mehr so präzise sein wie früher. Mit dem zeitlichen Abstand sind vielleicht die Zweifel gewachsen, der Druck der Gruppe geringer oder gar nicht mehr vorhanden. Widersprüche tauchen auf, die damals, unter dem Eindruck der Ermittlungen und des Prozesses, übertüncht wurden. Es gibt keinen Grund mehr, als geschlossene Einheit aufzutreten. Jede einzelne Figur hat ihr persönliches Verhältnis zu dem Verurteilten: Sie sprechen über denselben Menschen, aber jede, jeder sieht ein anderes Gesicht, hat eine eigene Geschichte mit dieser Person.

Dass der Angeklagte/Verurteilte aus dem Gefängnis heraus hier mitredet, ist ein literarischer Kunstgriff – das kann man mögen oder nicht. Aber er ist – neben dem Mordopfer – der einzige Garant für die Wahrheit des Falles – falls er wirklich der Täter war: Ansonsten ist er genauso ahnungslos wie alle anderen.

Im Zweifel für den Angeklagten. Wie liest sich dieses Prinzip vor dem Hintergrund der Romanhandlung?

Christoph Poschenrieder: Dieser Grundsatz besteht weiter, Roman hin oder her. Es geht dabei übrigens um einen »vernünftigen« Zweifel, nicht um ein diffuses Gefühl, einen unbestimmten Verdacht. Klar, Zweifel kann man haben, aber dann müssen die eben geprüft und gegen die vorliegenden Fakten und die eigene Lebenserfahrung abgewogen werden. Juristen sagen: Es ist »lebensfremd«, dies oder jenes anzunehmen oder anzuzweifeln. In meinem Roman sieht man, wie das Gericht die Zweifel Stück für Stück ausräumt und zu seiner »zweifelsfreien« Auffassung kommt, auf der das Urteil beruht, sonst ginge es ja auch nicht. Die Verteidigung bezweifelt das natürlich …

Ein Leben lang – wie ist dieser Titel zu verstehen?

Christoph Poschenrieder: Freundschaften dauern – idealerweise – ein Leben lang, und man kann zu »lebenslang« verurteilt werden, was aber nicht wortwörtlich zu verstehen ist, weil viele nach 15 Jahren rauskommen. Natürlich sind auch Freundschaften nicht unzerstörbar, obwohl ich glaube, die meisten gehen an schnöder Vernachlässigung zugrunde, ganz unspektakulär; es braucht nicht unbedingt so eine Katastrophe wie im Roman beschrieben. Wenn ich mich in meinem Freundeskreis umsehe, glaube ich aber, dass da ein paar lebenslange Freundschaften dabei sind. Zum Beispiel mein ältester Freund, den ich seit der 2. Klasse kenne: Wir treffen uns selten, aber es ist dann immer wie – na ja, wie immer. Ganz vertraut, ganz entspannt, ganz normal. Das gleiche Gefühl wie vor 50 Jahren, als wir in derselben Schulbank saßen. Freundschaft ist so unglaublich wertvoll.

Das Vertrauen in den Rechtsstaat wurde bei einigen der Romanfiguren grundlegend erschüttert. Nachdem Sie sich ausführlich damit auseinandergesetzt haben, wie steht es um Ihr Vertrauen?

Ich habe allerhand gelernt über den Umgang mit Recht und Gesetz, die spröde Sprache des Rechts, die so exakt zu sein versucht und oft so blutleer klingt. Wie interpretierbar ein Indiz sein kann, wie aus vielen Indizien ein Bild entsteht, und dass die Wahrheitssuche schwierig, aber unbedingt notwendig ist, denn Abkürzungen gibt es dabei nicht. Jedenfalls habe ich in unser Rechtssystem durchaus Vertrauen, warum auch nicht? Es ist professionell, nicht unfehlbar, aber immer noch besser als das Geschworenensystem, das zum Beispiel in den USA über Schuld und Unschuld eines Angeklagten entscheidet. Viel zu emotional, viel zu viel Theater; kann man in ungezählten Hollywood-Gerichtsdramen sehen.

Welche Rolle spielt die kritische Öffentlichkeit in einem solchen Prozess?

Für die Urteilsfindung sollte sie überhaupt keine Rolle spielen. Verhandelt wird vor Gericht und nur dort. Die Öffentlichkeit – in Form der Medien und anwesender Bürger – beobachtet, nimmt aber keinen Einfluss. Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Richter, auch die Laienrichter, die Schöffen, die Teil von deutschen Strafgerichten sind, auch die sind Menschen, die sich mehr oder minder gut von der medialen Öffentlichkeit abschotten können oder wollen. Es ist unmöglich abzuschätzen, was die Berichterstattung in spektakulären Fällen bei diesen Leuten auslöst.

Gerade Boulevardmedien können Stimmung machen, die spielen oft mit dem, was man einmal das »gesunde Volksempfinden« nannte, schüren Empörung über Urteile, die angeblich keiner »da draußen« versteht. Da muss man eben genauer hinschauen, auch auf den Gesetzestext. Das ist mühsam, das erzeugt keine Schlagzeilen, ist aber unbedingt notwendig.

Zuletzt die Frage, die sich unweigerlich stellt: Schuldig oder unschuldig?

Das ist genau die Frage, die ich niemals beantworten werde. Weil ich es nicht weiß, vor allem aber, weil es für diesen Roman keine Rolle spielt. Am Ende geht es darum, wer die bessere Geschichte hat, die eine oder die andere Seite. Das sollen die Leserinnen und Leser selbst nachvollziehen und beurteilen.

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Ein Leben lang

Christoph Poschenrieder, geboren 1964 bei Boston, studierte Philosophie in München und Journalismus in New York. Seit 1993 arbeitet er als freier Journalist und Autor von Dokumentarfilmen. Heute konzentriert er sich auf das literarische Schreiben. Sein Debüt Die Welt ist im Kopf wurde vom Feuilleton gefeiert und war auch international erfolgreich. Mit Das Sandkorn war er 2014 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Christoph Poschenrieder lebt in München.

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