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Dürrenmatt und Varlin. Eine Künstlerfreundschaft

Auftakt unserer neuen Themenreihe »Schriftsteller und ihr Lieblingsbild« ist eine besondere Freundschaft: jene zwischen Friedrich Dürrenmatt und dem Maler Varlin. Die beiden waren sich nicht nur eine menschliche Bereicherung, sondern auch eine künstlerische Inspiration.

Varlin (Willy Guggenheim, 1900–1977) und Friedrich Dürrenmatt (1921–1990). (Foto links: © Familie Gantenbein)

Die Verbindungen zwischen der Literatur und der bildenden Kunst sind vielfältig. Besonders die Malerei war seit Anbeginn eine bedeutende Inspirationsquelle für Schriftsteller, genauso wie literarische Werke Ausganspunkt für so manches Gemälde waren.

Ganz deutlich ist diese Beeinflussung erkennbar, wenn sie einseitig und konkret ist:

Die Literaturgeschichte weist zahlreiche Romane auf, in denen Maler oder bestimmte Gemälde im Zentrum stehen. Nur schon in unserem eigenen Verlagsprogramm werden wir schnell fündig: In Der letzte Weynfeldt von Martin Suter spielt ein Gemälde von Félix Vallotton die Hauptrolle, in seinem Roman Allmen und die Dahlien wiederum wird Privatdetektiv Johann Friedrich von Allmen damit beauftragt, ein millionenschweres Dahliengemälde von Henri Fontin-Latour wiederzufinden. Lukas Hartmanns Bis ans Ende der Meere schildert die lange Seereise des Malers John Webber mit Captain James Cook, Die Frau auf der Treppe von Bernhard Schlink spielt auf Gerhard Richters Gemälde Ema (Akt auf einer Treppe) an, während John Vermeulen mit Der Garten der Lüste ein Buch über Leben und Werk des Hieronymus Bosch schrieb. Bei Hartmut Lange schließlich erwacht in der Novelle Der Blick aus dem Fenster ein Gemälde des Impressionisten Gustav Caillebotte quasi zum Leben. Nicht zu vergessen natürlich Oscar Wildes berühmter Roman Das Bildnis des Dorian Gray, auch wenn es hier ein fiktives Gemälde ist, das die Hauptrolle spielt.

Umgekehrt dienten literarische Figuren und Szenen schon oft als Vorlage für Gemälde: Zahlreich sind natürlich die Darstellungen aus der Bibel und aus der griechischen Mythologie (z.B. Rubens’ Medusa oder Das Floß der Medusa von Théodore Géricault). Doch auch Miguel de Cervantes’ Don Quijote wurde verewigt: in Öl von Honoré Daumier um 1868 auf seinem Pferd Rosinante. Arnold Böcklin malte 1883 Odysseus und Kalypso, Salvador Dalí 1944 Tristan und Isolde.

Odysseus und Kalypso von Arnold Böcklin, 1883.

Die Wechselwirkungen zwischen Literatur und Kunst können indes noch vielfältiger und subtiler sein. Besonders wenn sie im persönlichen Austausch zwischen Maler und Schriftsteller stattfinden. Auftakt unserer neuen Themenreihe »Schriftsteller und ihr Lieblingsbild« ist deshalb wie eingangs erwähnt eine besondere Freundschaft: jene zwischen Friedrich Dürrenmatt und dem Maler Varlin.

Der Kunstmaler Varlin, mit bürgerlichem Namen Willy Guggenheim (1900–1977), fand große Anerkennung als Portraitist. Neben seinen Verwandten, Freunden sowie – mit zunehmendem Ruhm – Prominenten galt sein Interesse aber immer auch Randexistenzen und Menschen aus der Unterschicht. Damit übte er keine Gesellschaftskritik, vielmehr wollte er dem gemeinsamen und absurden Drama des menschlichen Daseins Ausdruck verleihen. Darin ist er Dürrenmatt oder auch Hugo Loetscher nahe – zwei Freunde, die er mehrfach großformatig und eindrücklich portraitierte. Dürrenmatt wiederum hat mehrere Texte zum Werk von Varlin verfasst und kommt auch in den Stoffen auf seine Varlin-Bilder zu sprechen. Er sammelte diese bereits, noch ehe er den Maler kennenlernte.

In seinen Jugendjahren noch unentschieden, ob er selber Maler oder Schriftsteller werden sollte, entscheidet sich Dürrenmatt schließlich für die Schriftstellerei. Wobei ihm die Malerei und Zeichnung weiterhin als wichtige persönliche Anregungsquelle dienen. Denn zur künstlerischen und psychischen Bewältigung seiner literarischen Stoffe benötigte Dürrenmatt stets auch die gezeichnete oder gemalte Umsetzung derselben. »Ich male aus dem gleichen Grund, wie ich schreibe: weil ich denke.«

Es war »eine unkonventionelle Freundschaft zwischen zwei Künstlern (…), die ihr Leben einer Kunst verschrieben und heimlich vom Talent des anderen träumten«, schreibt Janine Perret Sgualdo, die ehemalige Leiterin des Centre Dürrenmatt in Neuchâtel, im Geleitwort zum Ausstellungskatalog Varlin – Dürrenmatt: Horizontal. Als Dürrenmatt gemäß Hugo Loetscher dem Freund aber einmal eines seiner wenigen eigenen Ölbilder zeigte, meinte Varlin trocken: »So was sollte ein erwachsener Mensch nicht malen.«

Varlin: Portrait Friedrich Dürrenmatt, 1962.

Wie fand das Kennenlernen dieser beiden Koryphäen der damaligen Zürcher Kulturszene statt? Ausgerechnet auf der Herrentoilette des Zürcher Restaurants Kronenhalle sollen sie, nach einer von Loetscher überlieferten Anekdote, erstmals miteinander ins Gespräch gekommen sein. Ob es sich genau so ereignet hat? Laut Aufzeichnungen Dürrenmatts fand das erste Zusammentreffen tatsächlich in der Kronenhalle statt im Januar 1961 oder 1962. Es ist der Beginn einer äußerst herzlichen und intensiven Freundschaft.

Varlin schätzt Dürrenmatt sehr als Schriftsteller und wird zu seinem künstlerischen Alter Ego. Beide fühlen sich einer Kunst jenseits akademischer Prägung und vollendeter Formen verpflichtet. Loetscher spricht von einer »kreativen Verwandtschaft, die über alles Persönliche hinausgeht.«

Das vornehmlich im Graubündner Bondo ab den 1960er-Jahren entstandene Spätwerk Varlins wird allgemein als der Höhepunkt seines Schaffens betrachtet. 1964 malt er zwei großformatige Tafeln für die Expo in Lausanne: imposante, von Einsamkeit, Wahnsinn und Ironie durchdrungene Gruppenbildnisse Die Heilsarmee [Die geistige Freude] und Die Völlerei [Die Sinnesfreude].

›Die Heilsarmee‹ von Varlin, 1964.

Dürrenmatt erwirbt die Heilsarmee im Jahr 1965. Die lebensgroßen, Psalmen singenden Personen in ihren dunklen Uniformen sind im expressiven Stil der 60er-Jahre gemalt. Von dem Bild fasziniert hat der Dramatiker die Heilsarmee in sein Stück Der Meteor einbezogen, das im Januar 1966 in Zürich Premiere feierte. Viele Jahre hing es raumgreifend, über zwei Meter hoch und fünf Meter lang, im Arbeitszimmer des Schriftstellers in Neuchâtel.

»In meinem Arbeitszimmer
Hängt deine Heilsarmee
Zwei Guitarren, eine Trompete, eine Fahne
Neun Menschen
Gläubiger als ich«,

heißt es in einem Gedicht über seine Varlin-Sammlung.

Friedrich Dürrenmatt 1984 mit seiner zweiten Frau Charlotte Kerr Dürrenmatt, im Hintergrund ›Die Heilsarmee‹. Sie gehöre zu ihm wie sein Schreibtisch, sagte sie einmal. (Foto: Sabine Wunderlin).

In den Manuskripten zum Kapitel Querfahrt in den Stoffen findet sich ein längerer Absatz über die Heilsarmee (im publizierten Kapitel Querfahrt ist die Passage gestrichen):

Die »Guitar-Brigade« der Heilsarmee besteht aus neun Salutisten: sechs Frauen und drei Männer. Sie tragen die schwarz-preußischblauen Heilsarmee-Kleider und -Hüte mit etwas Rot am Kragen und Epauletten, Uniformen, die sie jetzt nicht mehr tragen. Einmal waren diese Kostüme modern, soldatisch, sexy sogar, dann wurden sie antiquiert, kultisch wie Mönchskutten usw. Jetzt sind sie geändert worden, modisch, Steward- und Stewardessen-Anzügen angenähert, bitte anschnallen, Kapitän Jesus heißt sie an Bord unseres Jumbo-Jets willkommen. Aber der Bart des Weihnachtsmanns lässt sich nicht zurechtstutzen, das Überzeugende ist verloren gegangen, der Anruch von Heiligkeit, der ihnen anhaftete, wenn sie in den Klötzli-Keller herunterstiegen. Ich sehe mich noch am langen Stammtisch sitzen, vor mir einen Halben La Côte, und sie singen, und alles singt mit: Lasst den Sonnenschein herein, lasst ihn rein … Erinnerungen, die ich habe, die zu den Erinnerungen stossen, die in Varlin wach wurden, als er die »Guitar-Brigade« malte. Nun stehen Rosemarie Wehrli, Paul Ochsner, Liesette Schudel und Lea Berger mir gegenüber, statt Varlin sitze ich auf dem Kanapee vor dem Fenster. Die Salutistinnen betrachten mich eindringlich, kerzengerade, sie kennen mich, nur Paul Ochsner ist erschöpft, umklammert krampfhaft die bordeauxrote Fahne. Während die Frauen noch an meine Bekehrung glauben und nie davon ablassen werden, mich stumm aufzufordern, hat sich in den Blick des Fahnenträgers schon ein leiser Vorwurf geschlichen. Er ahnt, dass ich nicht zu retten bin. Die anderen vier schauen durch mich hindurch oder an mir vorbei. Frau Rösli Schütz hält ihre Gitarre, als wolle sie mit ihr einen Gewehrgriff üben. Marie Haller ist die Unheimlichste, in welche Abgründe sie blickt, denke ich oft nach und erbleiche, irgendwo muss das Böse in meinem Arbeitszimmer lauern. Emil Hottinger trägt eine rote Uniform und übt mit seiner Posaune Jüngstes Gericht. Herr Gut wendet sich meinen Marc-, Lie-, Barack-, Kognak-, Pflümli- und Kirschflaschen auf dem Lautsprecher zu. Es ist ein statisches Bild, der schwarze Hintergrund um die Salutisten milchig aufgehellt, die Gesichter wie bleiche Monde, Bewegung liegt nur in den Händen, die manchmal wie flatternde Nachtvögel wirken. Auf den ersten Blick stehen die Salutisten in einer Reihe, doch verteilen sie sich im Bild und damit auch in meinem Arbeitszimmer, die linke Gruppe ist in den Vordergrund gerückt. Wird es dunkel, ist mein Arbeitszimmer erleuchtet, werden die Salutisten von den Fenstern widergespiegelt. Sie stehen dann auf der Terrasse vor den Bäumen, und ich bin von achtzehn Salutisten umgeben. Dass ich ihre Namen nannte, geschah aus Hilflosigkeit. Ich kenne nichts weiter von ihnen und lebe dennoch mit ihnen, sie stehen seit 1965 in meinem Zimmer, es scheint mir, als kennen sie mich durch und durch.«

Foto: DCM

Kurz vor Varlins Tod 1977 besuchte Dürrenmatt den Freund ein letztes Mal in Bondo und zeichnete ihn auf seinem Sterbebett.