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»Es war ein fiebriges Schreiben, ein Mysterium.«
Ein Interview mit Shelly Kupferberg - Teil 2

Isidor. Ein jüdisches Leben erzählt vom rasanten Aufstieg und brutalen Sturz des Wiener Urgroßonkels von Shelly Kupferberg.

Im zweiten Teil des Diogenes Interviews erfahren wir nun mehr über ihre spannende Spurensuche, die dem erzählenden Sachbuch vorausging. Welche Verbindung gab es beispielsweise zwischen Isidor und dem späteren Hollywood-Star Ilona Massey? Wie sehr ragen die Schatten der Vergangenheit bis ins Hier und Jetzt? Über all das und über die neue Erfahrung des literaturischen Schreibens spricht Shelly Kupferberg. Lest selbst!

Zu den kommenden Lesungen mit Shelly Kupferberg

Foto: Heike Steinweg / © Diogenes Verlag

Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?

Ich bin zunächst über das Österreichische Staatsarchiv fündig geworden. Die Nazis waren ja unglaublich gründlich, wenn es um Bürokratie ging ... Ich stieß sofort auf Isidors »Vermögenserklärung«, also die Auflistung seines kompletten damaligen Besitzes, die jeder Jude, jede Jüdin zu tätigen hatte. Anhand derer konnte ich bereits einiges rekonstruieren: wie und wo er wohnte, welche Kunst er bevorzugte, was sich alles in seinem Haushalt befand. In der Vermögenserklärung waren auch zwei Eheringe verzeichnet. Mein Großvater erzählte immer, Isidor habe lediglich »Mätressen« gehabt und sei unverheiratet gewesen. Das stimmte also nicht. Ich habe in alten Trau- und Scheidungsbüchern seine Exfrauen ausfindig gemacht. Im Archiv der Universität Wien entdeckte ich seine alten Studienbücher, die mir verrieten, auf welche Schulen er in Galizien gegangen war und wie sein späteres Studium verlief. Ich habe auch alte Kurlisten gefunden, aus denen hervorgeht, in welchen Orten und Hotels und in welcher Begleitung er Urlaub machte. Parallel zum Archivmaterial suchte ich nach seinem verschollenen Besitz. Viel konnte ich nicht aufspüren. Lediglich ein kleines Büchlein aus seiner ausufernden Sammlung. Das befand sich wiederum in Nürnberg in einer Bibliothek, deren Geschichte ich auch unbedingt erzählen wollte: die sogenannte »Stürmer- und Streicherbibliothek« des NSDAP-Funktionärs Julius Streicher, Gründer und Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes »Der Stürmer«.

In der Wohnung in Tel-Aviv, die einst meinen Großeltern gehörte und weiterhin im Familienbesitz ist, fand ich auf dem Hängeboden zudem zahlreiche Briefe und diverse persönliche und offizielle Dokumente und Fotos aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das war der Auslöser für das Schreiben, denn die Briefe meiner Familie aus mehreren Jahrzehnten, begonnen um 1920, eröffneten eine neue, eine persönliche Sicht auf vieles, auch das Leben Isidors in Wien.

Was war das Überraschendste, auf das Sie gestoßen sind?

In den Familienbriefen wurde kurz von Isidors letzter Geliebten berichtet – die wiederum ein weiteres Fenster in meiner Geschichte aufstieß. Da hieß es, sie wäre eine Schauspielerin und Sängerin gewesen, die später in die USA ging. Mehr stand da nicht, immerhin: Ihr Name wurde erwähnt. Also begann ich, nach ihr zu forschen, und staunte nicht schlecht, als ich die ganze Wahrheit über ihr Leben erfuhr. Sie wurde zu einem Hollywood-Star in den 30er-, 40er-Jahren. Darauf begann ich, ihr Leben zu recherchieren, denn auch Ilona stammte aus ärmlichsten Verhältnissen und hat sich ehrgeizig hochgearbeitet. Ich glaube, das verband die beiden in gewisser Weise. Und beide hatten durchaus leicht hochstaplerische Züge an den Tag gelegt – um ihrer Karriere willen. Das machte die beiden Figuren noch interessanter für mich.

Welche Aktualität verbirgt sich in dem Stoff bis heute?

Aktualität insofern, als vieles noch nicht erzählt ist. Und dass sich Geschichte anhand einzelner Menschen und Biografien noch einmal ganz anders darstellt, sie greifbar macht. Ich konnte im Laufe meiner Recherche sehr klar nachvollziehen, wie der Akt der Vernichtung sich anhand bürokratischer Prozesse manifestiert. Das weiß man alles, aber wenn man es anhand eines Lebens schwarz auf weiß vor Augen hat, wird es plastisch und berührt ganz anders. Und mir wurde auch hier wieder einmal bewusst, wie sehr die Schatten der Vergangenheit bis ins Hier und Jetzt ragen. Ich fand bei meinen Recherchen ganze Listen von Dingen, die in den Archiven und Depots von Museen lagern und von denen man annimmt, dass es sich um von den Nazis geraubte Dinge handelt. Wem sie gehörten und heute gehören könnten, bleibt ein großes Rätsel.

Sie sind freie Journalistin, Moderatorin und nun auch Autorin. Wie fühlt sich das an?

Der Schreibprozess war für mich unglaublich beeindruckend und beglückend. Besonders faszinierend fand ich es, in Wien zu recherchieren und gleichzeitig zu versuchen, mit den Augen Isidors und meines Großvaters durch die Stadt zu gehen. Was haben sie gesehen, wie haben sie empfunden? Vieles in Wien sieht ja noch genau so aus wie vor 100 oder mehr Jahren. Ich bin alle Wege abgelaufen, die die Figuren meines Buches zurückgelegt haben könnten. Und habe es glücklicherweise geschafft, in das Palais und die Wohnräume meines Urgroßonkels zu kommen, bin seinen Spuren gefolgt – bis hin zum Friedhof. Auf der Suche nach seinem Grab geschah dann etwas Sonderbares, das der Geschichte eine weitere Dimension gab: Es war ein wunderbarer Sommertag, ich war ganz allein auf diesem großen, schönen Jüdischen Friedhof und ließ meinen Gedanken freien Lauf. Wundersamerweise erwartete mich bereits jemand an Isidors Grab – ein Reh. In diesem Bild steckte so viel Poesie und Surreales. Für all diese Dinge Worte zu finden, dies alles in eine literarische Form zu bringen, war in der Tat eine neue Erfahrung für mich. Als Journalistin bin ich es gewohnt zu schreiben. Journalistische Texte fallen mir in der Regel sehr leicht. Allerdings ist das literarische Schreiben völlig anders. Eine Art anderer Bewusstseinszustand. Woher stammt das alles, was ich da aufgeschrieben und später gelesen hatte? Es war ein fiebriges Schreiben, ein Mysterium. Ich wusste vorher nicht, dass mir das Schreiben einen solchen Spaß bereitet und so viel aus mir hervorholt.

Das Interview führte Kerstin Beaujean, März 2022 © by Diogenes Verlag AG Zürich

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Ein jüdisches Leben

Shelly Kupferberg, geboren 1974 in Tel Aviv, ist in Westberlin aufgewachsen und hat Publizistik, Theater- und Musikwissenschaften studiert. Sie ist Journalistin und moderiert für Deutschlandfunk Kultur und RBB Kultur diverse Sendungen zu Kultur und Gesellschaft. Shelly Kupferberg lebt mit ihrer Familie in Berlin.

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