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»Die Geschichte wiederholt sich.«
Ein Interview mit Sasha Filipenko

 

In Ihrem neuen Roman Kremulator geht es um Pjotr Nesterenko, den Direktor des Moskauer Krematoriums in der Stalin-Zeit. Wie kam es zu dieser Idee?
Sasha Filipenko: Ich hatte von diesem Pjotr Iljitsch Nesterenko in groben Zügen gehört, ahnte aber nicht, was für ein erstaunliches Leben er hatte. Dank der Menschenrechtsorganisation »Memorial«, die mittlerweile in Russland zerschlagen wurde, bekam ich Zugang zu der Akte des Verfahrens gegen Nesterenko nach seiner Verhaftung 1941 durch den sowjetischen Geheimdienst und konnte die Verhöre lesen. Die haben mich sehr beeindruckt, obwohl der Fall an sich nur einer von unzähligen anderen zu dieser Zeit war. Aber wenn man liest und begreift, was rundherum passiert ist, dann ist das sehr eindrücklich. Was mich an Nesterenkos Leben am meisten fasziniert, sind die vielen Situationen, in denen er sich entscheiden musste. Und dass er diese Wahl nicht immer richtig traf. Darüber wollte ich schreiben.

Wie haben Sie für den Roman recherchiert?
Sasha Filipenko: So wie bei meinem Roman Rote Kreuze habe ich auch hier Material gesammelt und eine Rekonstruktion vorgenommen. Es war zunächst unmöglich, etwas über den Ermittler Perepeliza zu finden, der die Verhöre mit Nesterenko führt, denn sein Vor- und Vatersname wurden in der Verfahrensakte nie angeführt. Also habe ich alle Ermittler namens Perepeliza in der ganzen Sowjetunion zusammengesucht, das waren sehr viele, und dann versucht herauszufinden, wer wofür zuständig gewesen war. Irgendwann habe ich einen gefunden, der mit Spionen zu tun hatte – da wusste ich endlich, das musste der Mensch gewesen sein, der mit Nesterenko geprochen hatte. Ich habe mehrere Jahre lang enorme Kraft in diese Recherche gesteckt, mein ganzes Geld hineingesteckt, ich war viel unterwegs und bin auf den Spuren von Nesterenko nach Istanbul gereist, nach Paris, nach Saratow, nach Kiew, bin also seinen ganzen Lebensweg abgefahren. Und natürlich verbrachte ich viel Zeit auf dem Donskoi-Friedhof, wo sich das Krematorium befunden hatte. In der Kirche markiert eine Platte die Stelle, an der der Ofen stand, an dem meine Hauptfigur die ganze Zeit gearbeitet hat.

 

Was war die größte Herausforderung bei der Arbeit am Buch?
Sasha Filipenko: Der russische Staat hindert einen auch heute noch nach Möglichkeit daran, mit solchen historischen Dokumenten zu arbeiten: Manche Seiten von Nesterenkos Akte sind in speziellen Kuverts verschlossen, etwa der Bericht, wie er in Paris für den sowjetischen Geheimdienst angeworben wurde. Man stößt also beim Lesen auf Schranken. Wir wissen, dass es vor zehn Jahren andere Teile der Akte waren, die in Kuverts versteckt wurden, das heißt, es gibt im Archiv eine Person, die je nach politischer Situation andere Seiten in diese Kuverts steckt. Fotografieren ist in russischen Archiven verboten, nur handschriftliche Notizen sind erlaubt, auch das macht die Sache schwieriger. Der Staat verhindert mehr und mehr die historische Aufarbeitung, offenbar besteht mittlerweile ein Erinnerungsverbot.

 

Was bedeutet Ihnen dieser Roman?
Sasha Filipenko: Mir war es wichtig, dieses Buch zu schreiben, weil sich jetzt die Geschichte wiederholt. Wieder stehen die Menschen in Russland und Belarus vor der Wahl, müssen sich zwischen Gut und Böse entscheiden, und auch jetzt werden Spuren von Verbrechen und Massengräbern verwischt. Wir sehen, dass Russland in der Ukraine genau so vorgeht wie damals. Davon wollte ich erzählen, und auch davon, wie diese Mechanismen des Bösen funktionieren, wie die Staatsmacht die Spuren ihrer Verbrechen verschwinden ließ, weil sie auch heute die Spuren ihrer Verbrechen verwischt. All das wollte ich anhand von Nesterenkos Lebensgeschichte erzählen.

 

Wie ist das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion im Roman?
Sasha Filipenko: Ich habe lange nach der Sprache gesucht, in der ich über Nesterenko erzählen wollte, weil es weder eine zu pathetische noch eine zu traurige Geschichte werden sollte. Nesterenko ist im Roman ein komplexer, eigensinniger Mensch, einer mit Sinn für Humor, der über das Geschehen ständig witzelt. Was er wirklich für ein Mensch war, wie er gesprochen und was er gedacht hat, weiß ich natürlich nicht, seine Tagebücher habe ich mir ausgedacht. Dennoch sind sie nicht rein fiktiv, sondern eine Rekonstruktion, weil alles aus seinen Aufzeichnungen, aus Dokumenten, aus Briefen oder seinen Gesprächen mit anderen Menschen stammt. Das heißt, wenn Nesterenko in meinem Buch einen Ort beschreibt, dann sah dieser Ort damals auch tatsächlich so aus, ich setze nur Nesterenkos Stimme ein, um es zu erzählen. Viele der Fragen und Antworten stehen genau so in der Verhörakte. Auch alle erwähnten Figuren sind historisch – mit einer Ausnahme: Die einzige frei erfundene Figur ist die Schauspielerin Vera, die Nesterenko sein Leben lang liebt.

 

In Russland ist das Buch bereits erschienen. Wie waren die Reaktionen?
Ich wollte Parallelen zwischen der sowjetischen Staatsmacht und dem faschistischen Deutschland unter Hitler aufzeigen, was im heutigen Russland aber strafrechtlich verfolgt wird. Deswegen konnte ich mein Buch zu manchen Preisen nicht einreichen. In den Jurys gingen die Meinungen auseinander. Jene, die sich gegen den Krieg in der Ukraine positioniert haben, haben mein Buch sehr gelobt, während jene, die Putin und den Krieg in der Ukraine unterstützen, es verrissen und mich als Verräter bezeichnet haben. In diesem Sinne hat das Buch in Russland trotz aller aktuellen Probleme des Buchmarkts ein eher glückliches Los: Ich bekomme zum Beispiel auf Instagram ständig Rückmeldungen von Menschen, die mein Buch bewegt hat. Ich würde mir wünschen, dass so viele Menschen wie möglich es lesen, ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen und schockiert darüber sind, dass darin so gut wie nichts erfunden ist.


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Kremulator

Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satireshow und als Fernsehmoderator. Sein Roman Die Jagd war ein Spiegel-Bestseller. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fußballfan und wohnte bis 2020 in St. Petersburg. Er musste mit seiner Familie Russland verlassen und lebt in der Schweiz.

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