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»Ein Liebesgedicht an das Kalifornien der 1980er-Jahre«
Ein Gespräch mit Tamar Halpern

»Ich bin vierzehn und Mitglied eines geheimen Rudels bissiger Wölfe.« 
Ein erster Satz, ein erster Eindruck, und wir sind mittendrin. Mittendrin in der Geschichte, die die Autorin Tamar Halpern in ihrem Debütroman California Girl erzählt, und in der sie Teenager Timey zu Wort kommen lässt. Im Kalifornien der 1980er Jahre probiert sich Timey aus und rebelliert, immer angetrieben von jugendlichem Übermut und dem Gefühl grenzenloser Freiheit. 

Im Diogenes-Interview gibt die Autorin Einblicke in ihre eigenen Erinnerungen an ein Erwachsenwerden im Kalifornien der 80er-Jahre und spricht darüber, wie viel autobiografischer Anteil in ihrer jugendlichen Protagonistin steckt.

California Girl jetzt verfügbar in deutscher Übersetzung von Sophie Zeitz.

Foto: © Vital Sinkevich | Unsplash

Worum geht es in Ihrem Roman?
Tamar Halpern: California Girl erzählt von einem Teenager-Mädchen in den 1980er-Jahren, das nach der Scheidung ihrer Eltern sowohl in Südkalifornien (Surfkultur, falsche Brüste, Homophobie, Pornos, Rock 'n' Roll, Drogen) als auch in Nordkalifornien (intellektuelles Streben, freie Liebe, Homosexualität, Punk, Drogen) lebt. Sie hat Sex, erlebt die Aufhebung der Rassentrennung an den Schulen, das Unbehagen in der Vorstadt, Kleinkriminalität und Rassismus. Alles das wird vor dem Hintergrund ihrer gebildeten Bohème-Familie erzählt, während sie selbst versucht zu verstehen, wer sie ist und mit wem sie sich identifizieren oder wogegen sie rebellieren soll. Es ist ein Liebesgedicht an das Kalifornien der 1980er-Jahre und an den Moment, in dem wir die Schwelle von unschuldig zu nicht mehr unschuldig übertreten.

Ort der Handlung ist die Vorstadt von L.A. Wie prägt es ein Teenager-Leben, in der Vorstadt aufzuwachsen?
Tamar Halpern: In den 1980er-Jahren wuchs die letzte Generation amerikanischer Teenager heran, die sich austoben, rebellieren und verschiedene Rollen ausprobieren konnte, ohne dass ihre Fehler digital aufgezeichnet wurden. Das galt vor allem für die Vorstädte, wo Eltern, die in Arbeiterfamilien aufgewachsen waren, zu Mittelklasse-Verkäufern von Whirlpools, Wasserbetten und Wohnmobilen wurden. Mit dem Geld konnte man sich weitläufige Vorstadthäuser und cremefarbene Cadillacs leisten, es bedeutete aber auch, dass viele Kinder ohne Aufsicht waren, weil ihre Eltern mit Arbeit beschäftigt waren oder die Früchte dieser Arbeit genossen. Ich bin selbst so aufgewachsen und habe deshalb Fußnoten zu Themen wie Geburtenkontrolle, Swinger-Kultur, Scheidungsraten, Anrufbeantworter und »Just Say No« eingefügt, um zu verdeutlichen, dass die 80er-Jahre sowohl in sozialer als auch in politischer Hinsicht ein Freiwildstaat waren. Die Hauptfigur verliert ihre Unschuld im Schatten des Unschuldsverlusts in ihrem eigenen Land.

Welche Erinnerungen haben Sie an die 80er-Jahre?
Tamar Halpern: Ich erinnere mich an eine Welt voller leuchtender Farben und weiter Möglichkeiten. Es gab Raum zum Denken, zum Fühlen, zum Staunen, für die eigene Traurigkeit. Bücher, Musik und Drogen beflügelten uns. Alles wartete darauf, entdeckt zu werden, wie reife Früchte an einem Ast. Es war nur eine Frage der Straße, die man nahm. Oder in welchen Plattenladen man ging. Autos waren wichtig, nicht nur, um dorthin zu kommen, wohin man wollte, sondern auch, weil sie die eigene Persönlichkeit widerspiegelten. Warst du hart? Reich? Unbekümmert? Oldtimer oder praktisch? Es gab eine Menge frittiertes Essen und Videospiele. Für einen Vierteldollar bekam man zwischen zwei und zwölf Minuten puren, unverfälschten Spaß. Lipgloss, der wie Kaugummi schmeckte. Sassoon und Jordache-Jeans. Fedrig gestuftes Haar. Die Zähne waren schiefer und damit origineller, wie die von Cher damals.

Foto: © Andrea Leopardi | Unsplash

Es ist Ihr Debütroman, nachdem Sie zuvor schon für Film und Fernsehen geschrieben haben. Wie unterschied sich die Arbeit am Buch davon?
Tamar Halpern: Eine Protagonistin, die die Welt um sich herum berühren, schmecken und riechen kann, während sich ihr Inneres frei in jede Richtung bewegte – das war ein spektakulärer Bruch mit den Regeln von Film und Fernsehen. Das Eindringen in die Privatsphäre, das mir als Autorin erlaubt war, die Art und Weise, wie ich ihren Schmutz und ihre Diamanten nach Belieben durchsieben konnte – für mich war das der Himmel. Ich habe einfach drauflosgeschrieben.

Der Stil des Buchs ist außergewöhnlich. Es ist die Stimme von Timey, die einen unglaublichen Sog entwickelt. Wie gelang es Ihnen, sich sprachlich so authentisch einzufühlen in die jugendliche Protagonistin?
Tamar Halpern: Ich habe mein Teenager-Ich heraufbeschworen, das immer noch auf der Lauer liegt und Probleme verursacht, wenn sie versucht ist, sich mit jemandem zu prügeln, oder die Liebe auf einer tieferen Ebene verstehen will, und ich habe ihr gesagt, sie solle sich nackt ausziehen und auf die Buchseiten stellen.

Timey ist ein Scheidungskind. Warum war das wichtig für den Roman?
Tamar Halpern: Im Kalifornien der 1980er-Jahre war die Scheidung eine unausweichliche Tatsache, zumindest in den Städten. Sie prägte eine ganze Generation und veränderte unsere Vorstellung davon, was Liebe bedeutet. Timey braucht diese physische Unterbrechung in ihrem Leben, damit sie an zwei Orten und in zwei Persönlichkeiten leben kann. Timey sollte gegen möglichst vieles ankämpfen und damit fertig werden müssen.

Was bedeutet Zuhause für Sie?
Tamar Halpern: Der größte Teil dieses Buches wurde geschrieben, während mein Mann und ich 35 Mal in Los Angeles umzogen. Sieben Jahre lang packten wir ein und aus, beluden seinen 55er Chevy-Truck und fuhren zur nächsten vorübergehenden Bleibe, während wir glaubten, dass der Bau unseres Hauses in Los Angeles einfacher sein würde, als er tatsächlich war. Und jetzt, nachdem wir in so vielen Häusern anderer Leute gelebt und uns angeschaut haben, was Zuhause für sie bedeutet, formt sich für uns langsam eine Definition davon. Aber ich weiß noch nicht, was es ist.

Haben Sie schon weitere Buchideen, von denen Sie uns etwas verraten können?
Tamar Halpern: In meinen späten Teenagerjahren und frühen 20ern lebte ich im Süden Arizonas. Ich habe dort eine Menge Dinge erlebt, die mir immer noch den Atem rauben. Der süße Duft von Kreosot, der sich nach einem Monsunregen entfaltet. Das Geräusch von Kojoten bei der Jagd. Die Leute, mit denen ich Koks schnupfte und irgendwelche Jobs machte und das helle Sonnenlicht um jeden Preis mied, weil es uns unsere zerstörten Träume vor Augen führte. Die Spuren dieses Wüstenlebens sind für immer in mir. Deshalb schreibe ich eine Sammlung miteinander verbundener Kurzgeschichten, ähnlich wie der Indie-Film Slacker, die von dieser Zeit und diesem Ort inspiriert sind.

Was inspiriert Sie sonst noch? Musik, Kunst, Literatur, Filme etc.?
Tamar Halpern: Alles inspiriert mich: Essen, Musik, Reisen, brillante Gespräche, vor allem Kunst. Wenn mich etwas nicht inspiriert, dann macht es mich traurig. Und Traurigkeit kann selbst zu einer Form der Inspiration werden. Durch ihren unbändigen Enthusiasmus hat meine Mutter mir beigebracht, wie verrückt nach allem zu greifen, was mir Freude bereitet und was ich in meinen Mund, meine Augen und meine Ohren stopfen kann.


Interview mit Tamar Halpern von Stephanie Uhlig, Mai 2023
Aus dem amerikanischen Englisch von Stephanie Uhlig
© by Diogenes Verlag AG Zürich


Tamar Halpern ist Filmemacherin und Autorin. Sie hat Rundfunkjournalismus und Filmproduktion studiert; ihre Dokumentarfilme sind preisgekrönt. Halpern lehrt Regie und Drehbuch und ist Gründerin des Start-ups CitySearch. Sie lebt in Los Angeles.

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