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»In Osteuropa kam es zu einem epochalen Wandel« – Lukas Hartmann Bonus-Texte

Vor 25 Jahren fiel in Berlin die Mauer – wie haben Sie die Wende erlebt? In Lukas Hartmanns neuem Roman Auf beiden Seiten befragt die Hauptfigur, der Journalist Mario Sturzenegger, für eine Zeitschrift verschiedene Menschen aus Deutschland und der Schweiz nach ihren Erinnerungen an die Jahre 1989/1990.

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Diese Gespräche gehörten in einer früheren Version zum Roman, sind aber in der definitiven Fassung nicht mehr enthalten. Hier gibt es die so unterschiedlichen wie faszinierenden Porträts als exklusives Bonus-Material zu lesen.

Sie sind fiktive Texte, beruhen aber auf Interviews, die der Autor tatsächlich geführt hat. »Die Porträtskizzen«, erzählt Lukas Hartmann, »haben Stimmungen und einzelne Passagen des Romans beeinflusst und, gerade in ihrer Unterschiedlichkeit, mein eigenes Bild der Jahre 89/90 erweitert und bereichert. Ein großer Dank den Menschen, die mit mir gesprochen und ihre Erinnerungen geteilt haben.«

Lesen Sie hier Teil 2 der 5-teiligen Porträtserie.

Foto: By Sue Ream, [CC BY 3.0], via Wikimedia Commons

Lena T., damals 25, Sängerin und Dirigentin (Deutschland)

Ich war ʼ89 politisch wenig interessiert, vor allem mit mir selbst beschäftigt, mit der Verarbeitung meiner Kindheitsgeschichte. Ich trieb meine Karriere als Sängerin voran, dachte nicht in großen Zusammenhängen.

Das Einzige, was mir da wirklich unter die Haut ging, war die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, drei Jahre vorher. Ich war ein paar Kilometer von einem Atomkraftwerk entfernt aufgewachsen. Auch die »Frauenfrage« war mir punktuell näher, vor allem weil ich schon als Schülerin Emma gelesen hatte und in bestimmten progressiven Zirkeln unbedingt dazugehören wollte.

Aber die »große Politik«  hatte ich im Elternhaus immer nur als Zementierung von Positionen und Feindbildern erlebt. Willy Brandt galt als rotes Tuch, vor dem Kommunismus wurde dauernd gewarnt. Es gab keine Auseinandersetzung, die Meinungen waren gemacht. Das war alles sehr fern von mir, wir hatten auch keine Verwandte oder Bekannte in der DDR. Der Mauerfall beeindruckte mich zunächst nur wenig. Er löste in mir keine Emotionen aus. Dass er welthistorisch bedeutsam war, nahm ich bloß auf abstrakte Weise wahr.

Ein Jahr zuvor hatte ich Ostberlin kennengelernt. Ich reiste mit meinem Vokalensemble, übernachtete privat im tristen Plattenbauviertel in Marzahn. Alles grau, beklemmend, ein bemühter Kontakt mit der Gastfamilie. Im März ʼ90 wurde es möglich, dass die Ostberliner zum Gegenbesuch nach München kamen. Sie kassierten ihr Begrüßungsgeld, hungerten nach all dem Neuen, das sie nicht kannten. Seltsame Tage. 

Ich war gewillt, Solidarität von Mensch zu Mensch zu praktizieren, brachte ein Paar bei mir unter, in meiner winzigen Wohnung. Die Gäste hatten aber enorm hohe Ansprüche. Ich verfügte als Studentin über wenig Geld, und das passte nicht in ihr Weltbild. Sie bestanden darauf, dass ich ihnen im März unreife und teure Erdbeeren kaufte. Ich tat es, widerwillig. Nach all den Jahren des Darbens stehe ihnen ein wenig Luxus doch zu, sagten sie. Ich kam mir als Melkkuh vor und war erleichtert, als die Gäste weg waren.

Diesem ungebremsten Anspruchsdenken begegnete ich auch anderswo. Der Dirigent unseres Chors nahm ein Musikerpaar aus Ostberlin bei sich auf, nachdem es über Ungarn in den Westen geflohen war. Er ließ die beiden monatelang bei sich wohnen, tat alles für sie, fütterte sie durch, machte kostspielige Ausflüge mit ihnen, sorgte dafür, dass sie beruflich Fuß fassen konnten. Als sie sich dann eingelebt hatten, meldeten sie sich nicht mehr. Keine Spur von Dankbarkeit.  

Doch die Reisen in den Osten, die plötzlich möglich wurden, versöhnten mich dann doch mit der Wende. Ich traf in Bad Köstritz, dem Geburtsort von Heinrich Schütz, langbärtige Pioniere der Alten Musik, lernte ihre Neugier, ihren Idealismus und Wissensdurst schätzen, ich ließ mich von ihrer Aufbruchsstimmung anstecken. Ich trat dann mit dem Ensemble und als Solistin an vielen Orten auf, lernte viel aus dieser unglaublichen Mischung aus Verstaubtheit, Originalität, Ernst und Spaß.

Zugleich gab es noch immer diese Tristesse, das Wohnen in einfachsten, nach Kohle stinkenden Zimmern in ehemaligen Jugendherbergen und Internaten, kochend heiße Heizungen, die man nie abstellen konnte, schlimmes Kantinenessen. Auch dies gehört für mich zur Stimmung der ersten Zeit nach der Wende.

Foto: © Ralph Hattenbauer (CC BY-ND 2.0 DE)

Der ganz bestimmte Gesichtsausdruck vieler Menschen im Osten hat mich oft beschäftigt, dieser unsichere Blick, irgendwie nicht offen, dazu verhärmte, welke Züge, die ungesunde Gesichtshaut schon bei den jungen Leuten. Ich sah es sofort, wenn jemand aus dem Osten kam. Das tat mir leid, und gleichzeitig waren mir, außerhalb der Musikerszene, viele von ihnen sehr fremd.

Nach 2000 reiste ich mit meinem Partner und meiner Mutter in deren Heimat, ins Sudetenland, aus dem sie 1945 als Vierjährige vertrieben wurde. Das Rätselhafte dieser Fluchtgeschichte wurde für mich endlich fassbar. Die neu gewonnene Reisefreiheit war auf diese Weise nicht nur »erlösend« für den Osten, sondern ebenso für die andere Seite. Sie ermöglichte mir, mich meiner Familiengeschichte anzunähern. Und heute sehe ich, wie stark meine eigene, auch die berufliche Entwicklung mit den politischen Vorgängen verwoben ist.

 

Georg S., damals 44, Medienwissenschafter, Journalist (Schweiz, Deutschland)

Aus meiner heutigen Sicht ging das kurze 20. Jahrhundert, das erst wirklich 1914 begann, schon 1989 zu Ende. Es war ein Jahrhundert der Weltkriege und der Diktaturen. Ich verfolgte ab 1985 mit großem Interesse die Reformpolitik Gorbatschows, konnte es kaum glauben, dass der Volksdeputiertenkongress 1987 in Moskau alle Probleme offen ansprach. Ich kaufte oft die deutsche Ausgabe von Moskowskie Novosti, lernte später dessen Chefredaktor, Jegor Jakolew, kennen, der unbeugsam auf Recherche setzte.

Die Vorgänge im Ostblock hielten mich in Bann, ich bekam mit, dass auch die Demonstranten in Bukarest die Parole der DDR-Opposition, »Wir sind das Volk!« skandierten. Die Vorgänge in Rumänien – der Tod  Ceausescus, die letzten Gefechte der Securitate – elektrisierten mich noch beinahe mehr als der Mauerfall.

Demonstranten in Rumänien 1989 (Foto: © Denoel Paris and other photographers - “1989 Libertate Roumanie” by Denoel Paris (ISBN 2-207-23695-1), CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5734581)

Meine Bilanz Ende 1989: In Osteuropa kam es zu einem epochalen Wandel, hingegen wurde in China unter Deng Xiaoping, dem Anhänger der Marktwirtschaft, jegliche Freiheitsregung brutal unterdrückt. Und ebenso wichtig war im Februar ʼ90, dass in Südafrika Nelson Mandela freikam und daraufhin, Schritt für Schritt, die Apartheid abgeschafft wurde.

1990 kam der Perestroika-Prozess ins Stocken. Gleichzeitig brachen Konflikte in verschiedenen Sowjetrepubliken aus, namentlich in Litauen, die die zentrifugalen Kräfte des Riesenreichs deutlich machten. Eine Woche war ich damals in Ungarn, wo – undenkbar noch vor kurzer Zeit – freie Wahlen mit einem Mehrparteiensystem stattfanden.

Im Lauf des Jahrs verlagerte sich der Fokus der Medien von Osteuropa immer stärker in den Nahen Osten, weil Saddam Hussein mit der Besetzung Kuweits die internationale Gemeinschaft provozierte. Ich war ein entschiedener Gegner des drohenden Kriegs, marschierte bei Anti-Kriegs-Demonstrationen mit. Als Bushs Ultimatum an Saddam ablief, begann ich an Schwindelgefühlen leiden, ich erwartete das Schlimmste, das dann zum Glück nicht eintraf, zumindest nicht in der Dimension eines neuen Weltkriegs.

Die Zeitenwende von 1989/90 erfasste auch die Schweiz. Von nahem, als leitender Journalist, erlebte ich mit, wie die Schweizer Justizministerin über die undurchsichtigen Geschäfte ihres Mannes stolperte und unter stärkstem Druck zurücktrat. Die parlamentarische Untersuchungskommission, die dieser Affäre wegen eingesetzt wurde, deckte auf, dass der Nachrichtendienst, gestützt von Politikern, einem geradezu pathologischen Überwachungswahn erlegen war und jahrelang Hunderttausende unbescholtener Bürger(innen) fichiert hatte, die verdächtigt wurden, mit dem Kommunismus zu sympathisieren. Später stellte sich heraus, dass, initiiert von den gleichen Köpfen, eine geheime – und nicht demokratisch legitimierte – Widerstandsorganisation, die P-26, sich auf eine sowjetische Invasion vorbereitet hatte. Meine Fiche, die ich natürlich anforderte, war lang; sie listete meinen Einsatz für Militärdienstverweigerer auf, meine Vorträge über eine Reise in die Sowjetunion und benannte ausführlich mein Beziehungsnetz.

Erste Risse im festgefügten Bild der konservativen Schweiz begannen sich zu zeigen. Ich erinnere mich sehr genau an die Abstimmung zur Volksinitiative, die die Abschaffung der Schweizer Armee, einer nationalen heiligen Kuh, forderte. Eine radikale Splittergruppe hatte sie eingereicht, man räumte ihr nicht die geringste Chance ein. Am Abstimmungssonntag, nur zwei Wochen nach dem Mauerfall, leistete ich Militärdienst. Ich begleitete die einrückenden Soldaten im Zug, sah die schockierten Gesichter der Offiziere in der 1. Klasse, war Zeuge des Jubels der Soldaten in der 2., als sie hörten, dass 35 % für die Initiative gestimmt hatten. Unglaublich. Ich schaute voraus und nahm an, dass der Kampf für eine offenere Haltung der Schweiz jahrelang dauern würde.

 

Agathe Z., damals 35, Psychologin, Berufsberaterin (Schweiz)

In meinem Tagebuch von 1989 beschäftige ich mich vor allem mit einem Thema: der Partnersuche und der Auseinandersetzung mit der – unfreiwilligen – Lebensform als Single.

Im April ʼ89 verliebte ich mich, es begann eine aufregende Zeit, die in eine verlässliche Beziehung mündete. Von den äußeren Geschehnissen nahm ich vor allem wahr, was in China und auf dem Tiananmen-Platz geschah.

Dass hier, ausgerechnet auf dem Platz des »himmlischen Friedens«, ein Volksaufstand brutal niedergeschlagen wurde, ging mir unter die Haut. Ich war nämlich im vorigen Jahr dort gewesen, war sechs Wochen durch China gereist, hatte dazu eine Woche bei einer Familie in Hongkong verbracht. War beeindruckt von der Gastfamilie, die auf wenigen Quadratmetern mit zwei erwachsenen Töchtern wohnte und für mich einen Schlafplatz im Kajütenbett frei hielt.

In einer südlichen Provinz erlebte ich, dass sich die Leute nach mir umdrehten. Ich gehörte zum Strom von Hunderten anderer Radfahrer, es gab nur wenige Autos. Auf dem Rad wurde ich dauernd von jüngeren Leuten angesprochen, die ihr Schulenglisch erproben wollten. Die meisten bekannten, dass sie sich am liebsten nach dem Westen absetzen würden. War ich zu Fuß unterwegs, wurde ich seltener angesprochen und dann von anderen scharf beobachtet.

Einige Wochen war ich zu zweit mit einer Freundin unterwegs. Wir hatten Kontakt mit einer jungen Bibliothekarin aus Peking, die persönlichen Fragen auswich, auf die Politik kamen wir gar nicht zu reden. Der Briefwechsel mit einem anderen Zufallsbekannten versandete bald nach meiner Rückkehr; seine Briefe waren kurz und unpersönlich. Auf solche Weise stieß ich immer wieder an die Grenzen des freien Austauschs. Das freieste Gespräch fand tatsächlich auf dem Fahrrad statt, auf einer Strecke von hundert oder fünfhundert Metern.

Was mich aufrüttelte, war die Konfrontation mit den Arbeitsbedingungen, zum Beispiel in der Kleiderproduktion. So zu arbeiten kam mir vor wie Käfighaltung bei minimalem Lohn, von Freizeit ganz zu schweigen.

Mit der Transsibirischen Eisenbahn fuhr ich über Moskau zurück in die Schweiz.

Als ich dann von den Demonstrationen hörte, hoffte ich vergeblich, dass es zum großen freiheitlichen Aufbruch kommen würde. Die Hoffnungen flackerten wieder auf beim Fall der Berliner Mauer. Kurz darauf machte ich eine Studienreise nach Berlin, da merkte ich, wie schwierig die Zusammenführung zwischen Ost und West war. Die Arroganz der westlichen Fachleute, die ihre Kollegen aus dem Osten als unfähig und rückständig beschrieben, schockierte mich.

Nach der Chinareise ließen mich viele Fragen nicht los. Ich gewichtete das Privileg, in einem freien Land zu leben, stärker als vorher, fragte mich aber dennoch, wie »frei« wir wirklich sind. Zum Beispiel bei der Berufswahl: Ist nicht jede Biographie bestimmt von Rahmenbedingungen, die dazu verleiten, sich anzupassen oder auszubrechen? Ich will heute immer deutlicher nicht das »weg von etwas« in den Vordergrund stellen, sondern das »hin zu etwas«, zu dem, was wichtig, sinnvoll, erstrebenswert ist. Und dies im privaten und im beruflichen Umfeld.

Foto: © Bernard van Dierendonck

Auf beiden Seiten von Lukas Hartmann ist am 25.3.2015 erschienen. Auch als E-Book.

Ein Interview mit Lukas Hartmann zu seinem neuen Roman gibt es hier.

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