Wer wollte nicht auch schon immer mal hinter die Kulisse von Donna Leons Schreiben blicken?
Mit ihrem neuen Buch Backstage lädt uns die Bestsellerautorin in ihre Gedankenwelt ein, führt uns zu den Menschen, die sie und ihre Figuren inspirierten, und zu jenen, die ihr bei der Recherche geholfen haben. Ein ganz persönliches Näherkommen mit der Bestsellerautorin.

Foto: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag
»Die Charaktere aus der Feder guter Autoren sind wie echte Menschen, nur echter«, sagt Donna Leon. Darum wohl ist ihr Leben auch so reich an Figuren, echten und erfundenen. In Backstage tritt eine bunte Truppe auf, darunter auch Venedigs bekanntester Diamantenhändler.
Eine Leseprobe davon, wie Donna Leon ihre Begegnungen zu funkelnden Geschichten gestaltet.
Der Diamantenmann
S. 61 - 69
Die Recherche ist im Leben eines Schriftstellers mit das Wichtigste. Bei Sachbüchern ist das offenkundig, hier hangelt der Schreibende sich möglichst fehlerfrei von einer Tatsache zur nächsten: Anachronismen gilt es zu vermeiden, Astronomie und Geografie zu beachten sowie Rechtsvorschriften, Naturgesetze, historische Ereignisse und die Stammbäume der Herrscherfamilien bis hin zu Kind und Kegel.
Auch beim Schreiben von Romanen ist sorgfältige Recherche nötig. Ob der Butler oder die vierte Ehefrau Seiner Lordschaft die mit Strychnin versetzte Schokolade servieren – er darf das Gift nicht riechen (also kein Zyanid). Auch muss man Adern und Venen gut sortiert haben, bevor man sie durchschneidet.
Google und andere Quellen für »Fakten« (?) stellen Ereignisse oder Personen oft je nach Verfasser völlig unterschiedlich dar. (Man denke nur an die Einträge zu Karl Marx.)
Dann doch lieber ein vertrauenswürdiger und allgemein anerkannter Experte. Erfahrene Leute wissen, bei welchem Wind die Sardinen an die Meeresoberfläche kommen; wann man Kobaltoxid hinzufügen muss, um Glas blau zu färben; oder wie man das Alter eines Gemäldes bestimmt.
Vor Jahren schrieb ich ein Buch – Blutige Steine – über sogenannte Blut- oder Konfliktdiamanten. Sie wurden, und werden noch heute, an Orten abgebaut, wo statt dem Gesetz die Gier regiert – der Boden, auf dem eine Kriminalgeschichte gedeiht. Hunderte von bewaffneten Männern kämpfen um die Diamantenminen; Gold-, Smaragd- und Saphirminen sind nicht weniger umkämpft. Breitet man eine Karte Afrikas mit den Schürforten aus und legt eine zweite mit den Konfliktherden darüber, so decken sich die meisten Punkte.
Um beim Schreiben aus dem Vollen zu schöpfen – egal wie wenig Wissen am Ende einfließt –, brauchte ich den Diamantenmann, Upton Sinclair einen Wurstfabrikanten. Man benötigt einen Hühnerzüchter oder den allseits gefragten Experten für globale Erwärmung. Die Passagen im Roman, die sich aus solchen Gesprächen ergeben, müssen dabei nicht wahr sein, sie müssen sich nur wahr anhören.
Ein Freund von mir, selbst Juwelier, kannte einen Diamantenmann für mich, weil die beiden zusammen zur Schule gegangen waren. Mit Blutdiamanten handle er allerdings nicht. Nach einigen Telefonaten hieß es, Filippo würde mich empfangen.
Zwei Tage später läutete ich mit Stift und Notizbuch ausgerüstet an der angegebenen Adresse. Die Tür sah aus wie irgendeine Tür von irgendeinem Haus in irgendeiner Stadt und nicht wie die Tür, die zum Verkaufsraum des bekanntesten Diamantenhändlers im ganzen Veneto führte.
Ich betrachtete sie verwundert, da hörte ich das Schloss drehen, dann ein zweites und ein drittes. Die Tür schwang nach innen auf, und ich erblickte einen Mann, der aussah wie ein Onkel aus dem Bilderbuch: normalgroß, graubraunes, sich lichtendes Haar, dunkelbraune Augen, sanftes, fast zaghaftes Lächeln, sehr hübsche braune Karojacke und frisch polierte braune Schuhe. Filippo strahlte nichts als Freundlichkeit aus.
Er trat zurück und bat mich hinein. Ohne ein weiteres Wort führte er mich an einer makellosen Küche vorbei sowie an einer Tür, hinter der das Bad sein musste, blieb vor dem nächsten Raum stehen, machte Licht und ließ mir den Vortritt.
Ich sah vier Stühle, je zwei auf beiden Längsseiten eines Holztischs, und etwas, das aussah wie ein doppeltüriger Kühlschrank, einer von diesen stählernen SUVs, wie man sie aus amerikanischen Küchen kennt. Das Ding erwies sich als Tresor. Es hatte diese zwei runden Metallknöpfe, an denen man noch dreht, da springen schon die schweren Jungs durchs Fenster und befehlen einem, sich auf den Boden zu werfen.
Filippo riss mich aus meinen Gedanken. Ob ich gerne einen Kaffee hätte? Ich lehnte vorsorglich ab, damit er nur ja nicht dächte, ich würde mit den schweren Jungs unter einer Decke stecken. Allmählich wurde ich ruhiger und sah mich um. Kahle Wände, keine Bilder, einzig eine sehr helle Deckenlampe genau über dem Tisch.
»Lino hat mir erzählt, Sie interessieren sich für Diamanten«, begann Filippo lächelnd. »Ich weiß, Sie möchten sich kundig machen … nicht kaufen.«
Damit begann mein Diamantenunterricht. Ich hatte bereits einiges über die Herkunft der Steine gelesen, wie sie durch kilometertiefe Schlote urplötzlich nach oben gedrückt werden, nachdem sie Hunderte von Millionen Jahren im Erdinneren feststeckten. Und ich wusste auch, wo die meisten gefunden wurden: neben Afrika in Russland, Kanada und Australien.
Filippo nannte mir Zahlen und erklärte, dass die Schleifer zuweilen Jahre für die Entscheidung brauchten, wie ein Stein am besten zu bearbeiten sei. Je länger er sprach, desto mehr geriet er in Fahrt.
»Ich zeige Ihnen einige Exemplare«, sagte er und wandte sich dem Safe zu. Ich kehrte ihm den Rücken zu und vertiefte mich in meine Notizen.
Ein sanftes Geräusch, und er sagte lachend: »Sie können jetzt wieder hersehen.«
Auf dem Tisch zwischen uns lag ein schwarzes Samtetui, so groß wie ein Geschirrtuch. Filippo klappte es auf und entnahm den Schlitzen in den Seiten sieben oder acht Plastiktütchen mit Druckverschluss. Die Tüten waren so klein wie Zigarettenschachteln, einige noch kleiner. Jede enthielt nur einen Stein. Er zog eine Schublade auf, holte ein schwarzes Samttuch von der Größe des Etuis hervor, faltete es auseinander und strich es glatt. Er wählte drei Tütchen aus, ließ die Diamanten nacheinander auf das Tuch rollen und forderte mich auf, ihre Farbe zu bestimmen.
Ich umklammerte die Sitzfläche meines Stuhls und beugte mich vor. »Keine Farbe?«, fragte ich zögernd und zeigte auf den Stein links außen.
Er nickte. »Und der nächste?«
»Blau«, sagte ich, nachdem ich mich tiefer über den Stein gebeugt hatte, »aber nur, falls das möglich ist.«
Er nickte. »Und der dritte?«
»Grün?«
»Nein. Ein anderes Blau.«
»Haben Sie die einfachsten ausgesucht?«, fragte ich.
»Ja.«
»Zwei von drei«, sagte ich.
»Nicht schlecht.«
Ich lehnte mich zurück und legte die Hände in den Schoß. Filippo verschloss die drei Steine wieder in ihren Tütchen und steckte sie in ihre Fächer zurück, dann nahm er andere heraus.
In der nächsten halben Stunde zeigte er mir, mit Verlaub, seine Kronjuwelen. Er rollte die Steine auf den Samt, wobei er sie höchstens mit der leeren Spitze eines Druckbleistifts berührte, den er in der Innentasche seiner Jacke stecken hatte.
Nur ein einziges Mal kam er auf den Wert zu sprechen, während er vier Diamanten in einer Reihe anordnete.
»Was glauben Sie, welches der kostbarste ist?«, fragte er und reichte mir den Stift, damit ich die Steine, wenn ich wollte, wenden oder verschieben konnte. Ich drehte einen Stein nach dem anderen ein wenig, aber für mich sahen sie alle gleich aus.
Mit einem Lächeln gab ich ihm den Stift zurück. »Keine Ahnung«, erklärte ich.
Er schob die Diamanten in ihre Tütchen zurück. Als alle in Sicherheit waren, fragte er, ohne die Steine aus den Augen zu lassen: »Was glauben Sie, wie groß ist die Preisspanne zwischen dem günstigsten und dem wertvollsten?«
Ich betrachtete die Diamanten, die wieder in ihren Tütchen waren und immer noch alle gleich aussahen. »Keine Ahnung«, wiederholte ich.
»Wollen Sie raten, welche zwei der günstigste und der wertvollste sind?«, versuchte er mir zu helfen.
»Ich will es gar nicht wissen«, sagte ich. »Aber ich vermute, Sie wollen es mir sagen.«
Er lachte so laut, dass ich fürchtete, die Diamanten könnten vom Tisch fallen.
»Möglich«, lautete seine kryptische Antwort.
Er zeigte mir noch viele andere, bevor ich merkte, dass fast zwei Stunden vergangen waren und es Zeit war zu gehen. Ich klappte mein Notizbuch zu, erhob mich und versicherte, viel gelernt zu haben.
Über den Tisch hinweg reichte ich ihm die Hand. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, Filippo«, sagte ich, ihn unwillkürlich duzend, was ich sonst nie mache bei Leuten, die ich gerade erst kennengelernt habe.
»Das Vergnügen war ganz meinerseits«, erklärte er und erhob sich ebenfalls. Er verschloss beide Tresortüren und drehte an den Knöpfen, ein Ritual, an dem er sichtlich Freude fand. Dann sagte er, widerstrebend oder traurig: »Bei Diamanten werde ich selten nach etwas anderem gefragt als dem Preis.« Und noch trauriger: »Sogar mein Sohn – es ist alles, was er wissen will. Er interessiert sich nicht für sie, nur für den Wert.«
»Und was wird dann aus all dem?«, wagte ich zu fragen und wies nach dem Safe.
Er hob die Schultern. »Ich nehme an, er wird das alles verkaufen. Er hat sie nie so geliebt wie ich.«
»Das tut mir leid.« Mehr brachte ich nicht hervor.
»So ist es nun mal«, meinte er betont beiläufig.
Ich nickte und ging auf den Flur hinaus. Er begleitete mich bis an die Haustür.
»Es war mir ein großes Vergnügen«, sagte ich. Und um ihm eine Freude zu machen: »Ich hatte keine Ahnung, dass sie so schön sind.«
»Ja, das sind sie.«
Filippo machte sich an den Schlössern zu schaffen und öffnete die Tür.
Ich streckte noch einmal die Hand aus und wiederholte meinen Dank.
Während wir einander die Hand schüttelten, hätte ich ihm am liebsten zwei Wangenküsse gegeben. Ich machte ein paar Schritte in Richtung Vaporetto, drehte mich an der ersten Ecke um und wollte winken. Er war bereits im Haus verschwunden.
Zwei Jahre später fiel Filippo raffinierten Juwelendieben zum Opfer, zwei Männern, die rein »zufällig « im Zug seine Frau kennengelernt hatten und daraufhin monatelang Umgang mit ihm pflegten. Sie gaben sich als Diamantenhändler aus, legten außergewöhnlich viel Wissen und Geschmack an den Tag und ließen sich seine teuersten Steine zeigen. Da er Vertrauen gefasst hatte, breitete er mehrfach das schwarze Etui vor ihnen aus. Und sie lobten seine Kennerschaft.
Bei ihrem letzten Besuch – so habe ich es jedenfalls gehört – lenkten sie ihn genau die halbe Sekunde ab, die genügte, das schwarze Etui gegen ein Duplikat auszutauschen, um alsdann zu verschwinden. Die Diamanten sind nie wiederaufgetaucht.
Ein Jahr darauf starb Filippo. Woran, weiß ich nicht. Die italienischen Gesetze sorgen dafür, dass die Familie alles erbt, also werden die restlichen Diamanten dem Sohn gehören. Ich habe nie versucht, mehr herauszufinden.
Backstage
»Die Charaktere aus der Feder guter Autoren sind wie echte Menschen, nur echter«, sagt Donna Leon. Darum wohl ist ihr Leben auch so reich an Figuren, echten und erfundenen. In Backstage tritt eine bunte Truppe auf: das Rock-Genie Frank Zappa, Venedigs bekanntester Diamantenhändler, eine tollkühne Sexworkerin, ein cleverer Komponist, tragische Helden, bewunderte Kollegen und Kolleginnen. Donna Leon gestaltet diese Begegnungen zu funkelnden Geschichten.
Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin und Dozentin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die Brunetti-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.