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»Undercover in einer Schuhfabrik«
Ein Interview mit Spencer Wise

In seinem Debütroman Im Reich der Schuhe erzählt Spencer Wise vom alltäglichen Wahnsinn einer Familiendynastie zwischen den Kulturen. Eine bissige und herrlich amüsante Geschichte über Traditionen und Aufbruch, Schuhe und Liebe. Der Autor spricht im Diogenes-Interview über den Roman, die Bedeutung von Tragik und Komik sowie seine Erfahrungen in einer Schuhfabrik in Südchina.

Foto: © Molly Hamil

Im Reich der Schuhe ist Ihr Debütroman. Worum geht es in dem Buch?

Spencer Wise: Der Roman spielt im Südwesten des heutigen China und beginnt damit, dass Alex Cohen – ein junger amerikanischer Jude und unfreiwillig die rechte Hand seines neurotischen dominanten Vaters – die Leitung der familieneigenen Schuhfabrik übernimmt. Alex verliebt sich gegen den Willen seines Vaters in die Arbeiterin Ivy, die sich als heimliche Organisatorin für eine prodemokratische Partei entpuppt.

Das Buch handelt von zwei Außenseitern mit unterschiedlichen Hintergründen und aus verschiedenen sozialen Klassen, die beide nach ihrem Platz in der Welt suchen. Es ist aber auch ein Buch über Väter und Söhne sowie eines über Globalisierung und über Amerikas komplizierte Rolle in der modernen Welt.

Wie der Protagonist Ihres Romans stammen auch Sie aus einer jüdisch-amerikanischen Familie von Schuhmachern. Wann kam Ihnen die Idee, dass dies Stoff für einen Roman sein könnte? Und ist die Handlung autobiographisch?

Ich bin der letzte Nachkomme einer langen Reihe von Schuhmachern, deren Geschichte bis in ein Shtetl im heutigen Litauen zurückreicht. Das Buch setzt sich mit diesem Erbe auseinander. Und damit, wie meine Familie zunächst im frühen 20. Jahrhundert entwurzelt wurde und dann noch einmal später im 20. Jahrhundert, als mein Vater seine Fabrik in Amerika schloss und in verschiedenen europäischen und asiatischen Ländern outzusourcen begann, bis er schließlich in China Fuß fasste. Mit diesem Outsourcing gingen einige Probleme und Spannungen einher – das war eine der Inspirationsquellen für mein Buch.

Es ist ein zutiefst persönlicher Roman, aber kein autobiographischer. Meine Familie hat über fünf Generationen hinweg Schuhe entworfen und hergestellt, die letzten 30 Jahre in China, doch ich habe nie versucht, das Geschäft meines Vaters zu übernehmen. Und keine der Szenen aus dem Buch ist mir je widerfahren.

Als ich in Amerika auf Lesereise war, waren die Zuschauer immer sehr enttäuscht zu hören, dass ich nie eine Affäre mit einer chinesischen Fabrikarbeiterin hatte. »Zu schade«, sagten sie dann stirnrunzelnd. Manchmal saß meine Frau in der ersten Reihe, und ich winkte ihr lächelnd zu. Aber ich nehme es als Kompliment, dass es »autobiographisch« für die Leser scheint. Ich habe hart daran gearbeitet, Charaktere zu erschaffen, die sich real anfühlen.

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Im Reich der Schuhe

Wie haben Sie für den Roman recherchiert?

Im Sommer 2014 habe ich undercover als Qualitätsinspekteur in einer Schuhfabrik in Guangzhou gearbeitet. Das Buch ist also ein authentischer Einblick aus erster Hand. Ich habe auf dem Fabrikgelände unter Managern und Arbeitern gelebt, viel über das Schuhbusiness gelernt und die Arbeiter mit Hilfe von Dolmetschern befragt. Ich schloss sogar ein paar enge Freundschaften mit den jüngeren Aufsehern, die mir nicht nur die internen Abläufe in der Fabrik gezeigt haben, sondern mich in einigen Fällen sogar großzügig zu ihren Familien nach Hause einluden. Die Chinesen, die ich kennengelernt habe, waren außerordentlich stolz auf ihre Kultur und ihre Traditionen, und ich glaube, sie wollten diese unbedingt mit mir teilen. Außerdem verbrachte ich ein halbes Jahr damit, alles über China zu lesen, was ich finden konnte. Wie die jüdische Kultur ist auch die chinesische eine sehr alte.

Mein Vater hat mir bei den Recherchen geholfen und sich gefreut, all sein Wissen über Schuhe mit mir zu teilen. Aber mein Vater ist ganz anders als der von Alex im Roman. Er ist ein weichherziger Mann, der niemals wollte, dass ich in das Familiengeschäft einsteige, weil es eine brutale, unvorhersehbare Arbeit ist. Er hat mich wirklich ermutigt, meinen eigenen Weg zu finden.

Im Reich der Schuhe handelt u.a. von den beiden mächtigsten Ländern der Welt: die USA und China. Können Sie etwas über die Rolle von Kapitalismus und Globalisierung im Roman sagen?

Nun ja, es ist eine Liebesgeschichte und eine Vater-Sohn-Geschichte. Aber der Roman enthüllt auch eine Welt, die wir westlichen Menschen in den meisten Fällen zwar nicht sehen möchten, die wir aber brauchen, wenn wir uns weiterhin den komfortablen Lebensstil erhalten wollen, den wir gewohnt sind.

Die Welt, auf die ich in China traf, ist äußerst komplex. Mich erstaunte die Unzufriedenheit der Jungen mit der chinesischen Regierung, ihre Wut über das korrupte, heuchlerische System und die wachsende Einkommenskluft zwischen ihnen und den Superreichen. Viele Menschen sind auch sehr traurig darüber, wie das mittlerweile ultrakapitalistische China die einstmals hochgeschätzten kulturellen Traditionen untergraben hat. Bescheidene wirtschaftliche Gewinne können das Bedürfnis nach echter Unabhängigkeit, Gerechtigkeit und Redefreiheit nicht stillen. Bürger fühlen sich unerwünscht, als Außenseiter in ihrem eigenen Land. All dies verläuft meines Erachtens parallel zu dem, was auch im Westen geschah.

Die Modeindustrie und die sogenannte Fast-Fashion stehen heutzutage stark in der Kritik. Die teils katastrophalen Zustände in den Fabriken, in denen für große westliche Modemarken produziert wird, sind hinlänglich bekannt. Ist Ihr Roman ein Versuch, etwas daran zu ändern?

Ich glaube, ich wollte die Aufmerksamkeit auf die Probleme und dieses moderne Dilemma lenken, aber mein Buch schlägt keine Veränderung auf politischer Ebene oder so etwas vor. Ich habe wirklich versucht, eine Geschichte über Alex und Ivy zu erzählen, zwei unwahrscheinliche Liebende am Scheideweg eines großen kulturellen Moments.

Aber Alex und Ivy hoffen auf jeden Fall, dass sich die Dinge ändern können, und sie sind bereit, dafür zu arbeiten. Manche Leute lesen das als Naivität, aber das ist ein gefährlicher Zynismus, der den Status quo bewahrt. Doch es gibt Hoffnung in dem Buch, dass sich die Dinge in eine humanere und egalitärere Richtung bewegen.

Bild von Pexels auf Pixabay.

Gibt es Parallelen zwischen der jüdischen und der chinesischen Kultur?

Ja, sicher, aber ich hasse es, zu verallgemeinern. Die Charaktere in diesem Buch sollen nicht für alle jüdischen oder chinesischen Menschen stehen. Alex und Ivy sind einzigartige Individuen. Ich denke, das ist wichtig. Denn in beiden Kulturen gibt es eine enorme Vielfalt. Ein witziges Beispiel: Ich habe lange Zeit in Brooklyn gelebt, und die chassidischen Juden in meiner Nachbarschaft haben immer wieder versucht, mich zu meiner eigenen Religion zu bekehren. Für sie war ich nicht wirklich jüdisch. Viel weniger komisch ist, dass ich in China einen enormen Rassismus gesehen habe. In der U-Bahn saßen alle dunkelhäutigen Wanderarbeiter abgesondert auf der einen Seite des U-Bahn-Waggons, während alle helleren, noblen Stadtbewohner auf der anderen Seite saßen. Sie sehen nicht gleich aus, haben nicht die gleiche Kultur oder Sprache oder sonst etwas. Aber sie sind alle Chinesen.

Ich möchte also nur betonen, dass in guter literarischer Fiktion alles, was wir über das Menschsein erfahren, aus individuellen Erfahrungen hervorgehen muss, nicht aus verallgemeinerbaren Typen. Es ist das Denken in Typen, das zu allen Arten von Demagogie, Dämonisierung und Vorurteilen führt, wie man gerade in Amerika nach dem Vorbild unseres berüchtigten Noch-Präsidenten häufig sieht.

Der Roman behandelt zwar ernste Themen, zeichnet sich aber dennoch durch einen humorvollen Ton aus und ist an vielen Stellen sehr witzig. Gehört für Sie zu jeder guten Geschichte Humor?

Ich glaube nicht, dass alles lustig sein muss, nein, aber ich würde sagen, ich bin ein wenig misstrauisch, wenn eine Geschichte gar keinen Humor beinhaltet. Denn überall dort, wo Humor fehlt, kann es zu Sentimentalität oder Propaganda kommen. Ich mag eine Mischung aus komisch und tragisch. Ein kurzes Beispiel: Beim Jewish Book Council in New York hatten wir Autoren zwei Minuten Zeit, den geladenen Gästen unsere Bücher vorzustellen. Eine alte Frau stand auf und beschrieb ihre Memoiren über den Verlust ihrer ganzen Familie in Auschwitz, und zwei Minuten später sprang die nächste Frau auf und sprach über ihr Rezeptbuch für quadratische Torten, von dem sie versprach, es würde uns helfen, uns von der Tyrannei der runden Torten zu befreien. Beide Autorinnen sprachen mit der gleichen Dringlichkeit, als ob ihre Themen auch nur annähernd vergleichbar wären. Und das ist die menschliche Natur. Das Herz zerbricht einem in Millionen Stücke wegen dieser alte Dame, und dann muss man sich etwas über quadratische Kuchen anhören, aber man kann nicht lachen oder aufstehen und sagen: »Komm schon, hör auf, bitte.« Man muss es ertragen. Das Tragische und Komische, Seite an Seite.

China hat auch viel von dieser Art dunklem Humor. Weil sie sich selbst so ernst nehmen (wie es jede kommunistische Regierung tun muss), was eine Million amüsanter Ironien hervorruft.

Jedenfalls versucht mein Buch so etwas in der Art. Es ist lustig und ernst und oft beides gleichzeitig. Meine Familie ist auch sehr lustig, wenn auch nicht absichtlich. Sie denken, sie seien ernst, dabei sind sie absurd. Also habe ich versucht, etwas von dem Humor aus diesen Beziehungen zu nehmen und es auf die Figuren in dem Buch zu übertragen.

Die aktuellen Corona-Pandemie hat uns deutlicher denn je vor Augen geführt, wie abhängig die westliche Welt vom chinesischen Export ist. Glauben Sie, dass sich in Zukunft etwas daran ändern wird, wo und wie Produkte unseres täglichen Bedarfs hergestellt werden?

Wenn der Kapitalismus funktioniert, dann läuft es so, richtig? Billige Arbeit und offene Grenzen. Das ist leider das Ziel. Und sobald die Arbeitskosten steigen, geht man woandershin. Das ist die harte Wahrheit.

Fabriken folgen den billigen Arbeitskräften, sobald die Länder über die grundlegende Herstellung von Exportgütern wie Schuhen und Textilien hinauswachsen und zu komplexerer Elektronik übergehen. Genau das ist in China in den letzten zehn Jahren geschehen. Die Löhne stiegen. Nun ist also der Großteil der Schuhproduktion nach Indien, Bangladesch und Vietnam verlagert worden, und die Geschichte wiederholt sich.

Ohne eine andere Wirtschaftsphilosophie sehe ich keinen Ausweg, nein. Nicht solange wir wollen, dass Zauberkisten von Amazon, die jeden Gegenstand enthalten, von dem wir nur träumen können, aus den Wolken herabschweben und vor unserer Haustür landen.

Auch psychologisch gesehen mögen wir Outsourcing, weil es uns davor schützt, all die unangenehmen Dinge zu sehen, von denen mein Buch handelt. Es ist besser für unser Gewissen, wenn Päckchen vom Himmel fallen.

(Die Interviewfragen stellte Stephanie Uhlig, © by Diogenes Verlag AG Zürich)

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