Warenkorb
x

Ihr Warenkorb ist leer, wir freuen uns auf Ihre Bestellung

x

Dieser Titel kann aktuell leider nicht bestellt werden.
Bei Fragen wenden Sie sich gerne an webshop@diogenes.notexisting@nodomain.comch

Filter

  • Neuste Beiträge
  • Archiv
  • Monat
  • Foto/ Video/ Audio

Otto Jägersberg neu entdeckt

Vor 50 Jahren erstmals erschienen, ist Weihrauch und Pumpernickel nun endlich wieder zu lesen: Otto Jägersberg war mit diesem Buch der erste neuentdeckte deutsche Autor im Diogenes Verlag. Der Coming-of-Age-Roman aus Westfalen ist ein rasantes Debüt, das bei seinem Erscheinen 1964 Furore machte.

Die Erstausgabe von 1964 mit einer Coverillustration von Daniel Keel und das heutige Buchcover von Weihrauch und Pumpernickel.

Werfen wir einen Blick zurück: 1962 kam Otto Jägersberg als Mitarbeiter von V. O. Stomps in die Eremiten Presse, in der auch sein erstes Buch erscheinen sollte, ein Gedichtband mit dem Titel Fahrradklingeln für Valentina Tereschkowa. Auf der Buchmesse hatte Jägersberg einen Blindband ausgestellt und hoffte auf Vorbestellungen. Doch die blieben aus, und so erschien das Buch nicht.

Auf der nächsten Buchmesse, 1963, findet Jägersberg indessen einen Verleger für seinen ersten Roman. Und der Diogenes Verlag findet, was er schon lange gesucht hat: einen talentierten deutschen Autor.

Für den Almanach Die Begegnung der Buchhandlung Elwert & Meurer in Berlin haben Daniel Keel und Otto Jägersberg 1967 jeweils ihre verklärten Erinnerungen an ihr erstes Treffen aufgeschrieben.

Daniel Keel:

»Unser Vertreter Andreas Kissling brachte mir im Auftrag unserer Berliner Vertreterin Ursula Sobottka ein lockeres Bündel maschinenbeschriebener Blätter. ›Das müssen Sie lesen – und zwar schnell, jetzt gleich, dort hinter der Wurstbude, da ist es ruhiger …‹ Nun kannte ich Kisslings unschlagbaren Enthusiasmus seit zehn Jahren.

Nachts, im Hotel, las ich ein paar Seiten. Was ich las, gefiel mir, aber das Manuskript strotzte von Tippfehlern, ich war müde vom Herumstehen und schlief bald ein. Ich träumte von einem deutschen Autor mit Schnurrbart, so wie andere Verlage sie auch hatten.

Am nächsten Morgen, das Fernsehen war gerade an unserem Stand, erschien Kissling in Begleitung eines sehr jungen Mannes. Er war das erträumte, allerdings leicht schwankende Naturtalent mit Schnurrbart. Sein Name sei Otto Jägersberg, und er habe diese Sache tatsächlich geschrieben, aber in Wahrheit sei er nur Buchhändler.

Ich reichte ihm die Flasche mit Birnenschnaps und beruhigte ihn. Auch Hermann Hesse und Heinrich Böll seien Buchhändler gewesen, sagte ich. Darauf nahm er einen oder mehrere Schluck Birnenschnaps und ließ sich an meiner Stelle für den Diogenes Verlag vom Fernsehen interviewen. Was er sagte, vor allem wie er es sagte, versetzte uns in Erstaunen. Das Manuskript habe ich auf der Heimreise gelesen. Ich schrieb dem Autor, dass wir es gerne drucken würden. Er hatte nichts dagegen.«

»Bist ein Graf ohne Schloss«, meinte Andreas Kissling zu Otto Jägersberg. Aber mit einem Verlag: Otto Jägersberg während eines Buchhändlerabends bei Ursula Sobottka in Berlin, 1961, und rechts mit Daniel Keel in Baden-Baden, ca. 1972 (Foto: © Anna Keel, Ursula Sobottka / Diogenes Verlag).

Otto Jägersberg:

»Ich war Chefbuchhalter, Direktor der Werbung und Leiter der Auslieferung des größten Verlags in Stierstadt. Auf der Frankfurter Buchmesse hatte ich die Interessen des Verlags zu vertreten. Ich war völlig ausgelastet. Wie das da so geht: Du und Sie da, mal ein Bier, Lizenzverträge mit albanischen Verlegern, zwischendurch Bratwurst, Maiglöckchen für Flensburger Jungbuchhändlerinnen und noch ein Bier.

Eine Berliner Dame traf ich, die mir etwas abnahm, was ich vor Jahren geschrieben hatte, und wegging, aber nicht nach Berlin, nur um einige Ecken rum, in so eine dunkle Koje, wo sie liegenließ, was sie mir abgenommen hatte, und dann nach Berlin fuhr.

Am Wurststand sah ich einen Mann, der Wurst aß neben einer Dame, der Mann aß die Wurst mit den Fingern und sah ungesund, aber fröhlich aus, er wischte seine fettigen Finger auf einem Umschlag ab, in dem das war, was die Berliner Dame mir abgenommen hatte.

An den Bücherstand des Verlags, dessen Interessen ich wahrzunehmen hatte, traten zwei ungewöhnlich blasse Jugendliche, die mich mitnahmen, nur einige Ecken rum, in so eine dunkle Koje. Der Mann war da, der so fröhlich Wurst gegessen hatte, er gab mir die Hand und zu trinken, schwieg und sah unverständlich fröhlich aus.

Er trank weniger als ich, dafür war er auch unrasiert. Seinem Schweigen war zu entnehmen, dass er das, was die Berliner Dame mir abgenommen hatte, zu einem Handelsobjekt machen wollte. Später erfuhr ich, dass der Mann Schweizer Bürger ist und dass Schweizer eine andere Sprache sprechen.«

Links: Otto Jägersberg erzählt im Verlag den Inhalt seines Romans ›Nette Leute‹, 1967 (Foto: © Klaus Hennch). Mitte: Anzeige im ›Börsenblatt für den deutschen Buchhandel‹, 1964. Rechts: Rudolf C. Bettschart und Otto Jägersberg am Kehrausball in der Rämistraße, 1970 (Foto: © Eric Bachmann).

Unter dem Titel Weihrauch und Pumpernickel. Ein westpfählisches Sittenbild erscheint im Jahr 1964 das erste Buch von Otto Jägersberg im Diogenes Verlag. Die Nachfrage nach dem Leseexemplar ist bei den Buchhändlern und Kritikern so groß, dass sogar nachgedruckt werden muss – so etwas hat der Verlag noch nie erlebt.

Auch die Kritikerreaktionen sind ungewöhnlich positiv und zahlreich. Die Kritik begrüßt den erst 22-jährigen Autor als ein »Naturtalent«, das »der sogenannten Moderne einen Streich spielt« (Helmuth de Haas, Welt der Literatur).

Illustre Autoren wie Alfred Andersch, Carl Zuckmayer, Erich Kästner und Arno Schmidt erweisen Jägersberg ihre Reverenz: »Das ist nun wirklich ein guter junger Schriftsteller, frech und gottesfürchtig. Leute, bei denen man nicht lachen muss, sondern lachen kann, sind ja äußerst selten« (Alfred Andersch). »Das Buch des jungen Autors hat viele Vorzüge: zahlreiche prächtige Sonderlinge, ironische Zeitnähe und deftige Sprachkraft« (Erich Kästner). »Die Gattung des Heimatromans – früher durch große Erzähler (ich nenne nur Gotthelf) – zur Dichtung erhoben, wird hier von einem jungen Talent neu belebt und mitten in die ›moderne Literatur‹ gestellt« (Carl Zuckmayer).

Arno Schmidt über Weihrauch und Pumpernickel, in einem Brief an Daniel Keel, 1964.

Bei so viel Zuspruch kann das Buch nur ein Erfolg werden. Und siehe da, der erste Roman eines deutschsprachigen Autors bei Diogenes wird gelesen und gekauft – 7200 Exemplare allein in vier Monaten.

Von Martin Walser erhält Keel im Dezember 1967 einen Brief: »Ich habe in der letzten Nacht Ihr jüngstes Gewächs gefressen und will noch mit vollem Magen gratulieren. Der kann wirklich was, und wenn er tatsächlich erst 22 ist und Sie gut auf ihn aufpassen, dass er Ihnen bleibt, dann haben Sie (was Sie längst verdienen) einen Autor fürs Leben.« Diese Voraussage stimmt.

1967 und 1983 erscheinen die Romane Nette Leute und Der Herr der Regeln, außerdem zwei Erzählbände, ein Gedichtband sowie Reportagen und Drehbücher, denn Otto Jägersberg hat früh Fernsehspiele geschrieben und realisiert sowie Dokumentarfilme gedreht. Weitere Bücher vom ›ersten deutschen Autor‹ sind bei Diogenes in Vorbereitung.

Jägersberg bleibt als deutschsprachiger Autor nicht lange allein: 1965 kann der Verlag verkünden: »Mit den wichtigsten Stücken von Karl Wittlinger, den Gedichten von Hermann Kükelhaus, Erzählungen von Hans Horalek und dem ersten Roman von Otto Jägersberg hat der Diogenes Verlag Grundsteine zu einem vielseitigen Programm mit deutschen Autoren gelegt.«

Otto Jägersberg heute. Foto: © Margrit Müller

Weihrauch und Pumpernickel von Otto Jägesberg wurde am 29.4.2015 neu aufgelegt. Gleichzeitig neu erschienen ist der Gedichtband Keine zehn Pferde.