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Simone Lappert im Gespräch über ihren neuen Roman ›Der Sprung‹

Dienstagmorgen in einer mittelgroßen Stadt. Manu, eine junge Frau in Gärtnerkleidung, steht auf dem Dach eines Mietshauses. Was geht in ihr vor? Will sie springen? 
In ihrem Roman Der Sprung, welcher heute erscheint, erzählt Simone Lappert davon, wie eine Handvoll Menschen auf diese Situation reagieren. Denn ob sie Manu nahestehen oder nur entfernt etwas mit ihr zu tun haben: Ihre Leben werden durch sie verändert.

Foto: © Ayse Yavas

Eine junge Frau steht auf einem Dach und weigert sich herunterzukommen – und hält damit eine ganze Stadt in Atem. Das ist die Ausgangslage Ihres Romans Der Sprung, in dem wir nach und nach verschiedene Figuren kennenlernen, die mit dieser Frau verbunden sind oder deren Leben sich durch dieses Ereignis ebenfalls verändert. Was hat Sie zu dem Roman inspiriert?

Simone Lappert: Der Roman greift fiktionalisierend auf ein Ereignis zurück, das ich vor ein paar Jahren mitbekommen habe und das mich sehr erschüttert und nachhaltig beschäftigt hat. Um die betroffenen Personen zu schützen und den erfundenen Figuren Freiraum für ein Eigenleben zu ermöglichen, habe ich jedoch nur die Grundkonstellation der Situation beibehalten: auf der einen Seite eine exponierte Person, die mehrere Stunden auf einem Dach zubringt, auf der anderen Seite Schaulustige und Einsatzkräfte, die zu einer Überforderungsdynamik beitragen und sich auf je eigene Weise mitschuldig oder eben auch mit-unschuldig an den Ereignissen machen.

Ich konnte damals mit einer Angehörigen sprechen und fand die Brutalität der Situation einschneidend: Ungefiltert hat sie in der Menge mitbekommen, was über eine geliebte Person gesagt wird, von »Spring doch«, bis »So jemanden sollte man erschießen«. Zunächst habe ich eine Kurzgeschichte darüber geschrieben, damals war es noch ein junger Mann, der auf dem Dach stand, und ich schrieb aus der Sicht seiner Schwester. Später hat es mich dann interessiert, diese Perspektive aufzubrechen, mit den Mitteln der Fiktion zu fragen, wer die Menschen sein könnten, die unten stehen, was in ihnen vorgeht. Nach und nach ist dann die Idee einer quasi stummen Protagonistin entstanden, die auf dem Dach Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist. Im Roman ist es eine junge Frau, Manu: eine notwendige Störerin, die sich querstellt im Alltag der anderen und sie so aus dem Tritt bringt, sie auf sich selbst zurückwirft. Die Frage danach, wie es als Gesellschaft um unsere Empathie bestellt ist, wie wir mit Menschen umgehen, die aus der Reihe tanzen, sich außerhalb einer gefühlten Norm verhalten, schwingt für mich unter dem Text mit. Wichtig war mir dabei von Anfang an, nicht vollkommen aufzulösen, was Manu in diese Situation getrieben hat, damit man sich als Leserin, als Leser nicht in die Beruhigung einer Erklärung zurückziehen kann.

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Es ist nicht zu leugnen: Das Thema Suizid begegnet einem mehrfach, eine zentrale Frage ist, ob Manu in den Tod springen will oder nicht, und dennoch ist Der Sprung kein Buch über den Tod, sondern über das Leben. Eine realistische Beschreibung der Herausforderungen, die uns das Leben stellt. 

Wie gelingt es Ihnen, dass sich kein deprimiertes Gefühl beim Lesen einstellt? Und gibt es eine Botschaft, die Sie uns mitteilen möchten?

Manu setzt mit ihrem Verhalten Geschichten in den anderen frei, indem sie sich querstellt im Alltagsgetriebe der Stadt. Die Menschen, die mit ihr zu tun haben, werden auf sich selbst zurückgeworfen, geraten ins Straucheln, kommen gezwungenermaßen in Bewegung. Diese Suchbewegungen und Rotationen haben vielleicht insofern etwas Hoffnungsvolles an sich, als sie das Gegenteil von Stillstand sind. Indem Manu ihren möglichen Freitod in den Raum stellt, zwingt sie die anderen, das Leben zu befragen.

Den Roman auf eine einzelne Botschaft zu reduzieren liegt mir fern, das würde die Charaktere zu Marionetten machen. Die Figuren, die Manu streifen, tragen ja alle ein Stück weit dieselben Emotionen in sich, die Manu auf dem Dach durchlebt. Und je näher man ihnen kommt, desto deutlicher wird, dass sie alle Abgründe in sich bergen. Finn, der Freund von Manu, macht seinem Unverständnis für die Schaulustigen an einer Stelle Luft, wo er sagt: »Die Verrückten sind immer die anderen, nicht wahr?« Er macht damit auf einen Trugschluss aufmerksam, der alle Figuren angeht, erinnert sie, dass Normalität ein fragiles, soziales Konstrukt und letztlich niemand von ihnen gefeit gegen Kontrollverlust ist. Unsere Geschichte und unsere Erfahrungen, oft auch unsere Ängste, beeinflussen das Bild, das wir uns von anderen oder einer Situation machen. Diesen Bildern gegenüber skeptisch zu sein und stattdessen Begegnung zuzulassen finde ich wichtig.

Man blickt in den Alltag von Menschen und erfährt zunächst nur durch Andeutungen, wie sie in ihre Lebenssituation gelangt sind, manches bleibt eine Leerstelle. Der Frau auf dem Dach begegnet der Lesende nur durch die Außenperspektive der anderen Figuren.

Lernt man denn sein Gegenüber nie ganz kennen, weiß nie komplett, was in ihm oder gar teilweise in einem selbst vorgeht? Und gibt es eine Figur im Buch, an der Ihnen besonders gelegen ist?

Ich finde die Vorstellung trügerisch und irgendwie auch traurig, jemanden ganz und gar zu kennen. Das würde ja die Abwesenheit von Weiterentwicklung und Überraschung bedeuten. Starre Bilder verhindern doch eher die Begegnung, das Fragen, Zuhören, Offensein. Es sind ja oft gerade die Selbstbezogenheit und die Voreingenommenheit, welche den Figuren in Der Sprung im Weg stehen und eine echte Begegnung verunmöglichen.

Figuren zu erschreiben hat auch etwas mit Begegnung zu tun, es gleicht ein wenig dem Kennenlernen von Menschen im echten Leben. Je mehr Zeit ich mit ihnen verbringe, desto näher komme ich ihnen, als desto komplexer erweisen sie sich. Am schönsten ist es, wenn die Figuren beginnen, ein Eigenleben zu entwickeln, wenn sie die Pläne durchkreuzen, die ich für sie gemacht habe, wenn sie mich überraschen. Es ist mir wichtig, sie nicht von oben herab zu beschreiben, selbst wenn mir nicht sympathisch ist, was sie tun. Ich versuche vielmehr, mich in sie hineinzuschreiben, ihren inneren Ambivalenzen nahe zu kommen. Deshalb kann ich auch keine Lieblingsfigur nennen, für mich haben sie alle dasselbe Gewicht, jede von ihnen ist wichtig. Was mich freut: Viele Leserinnen und Leser haben mir ihre Lieblingsfiguren genannt, und es waren immer andere, jede kam mehrmals vor.

Erschreckend ist der Voyeurismus, die Sensationsgier der Schaulustigen auf dem Marktplatz, die auf den Sprung lauern, mitfilmen, blöde Kommentare zurufen. Was empfinden Menschen beim Unglück anderer, warum bleiben sie stehen und gaffen? Und ist der Voyeurismus in Zeiten, in denen man via Handykamera alles zu einem inszenier- und teilbaren Erlebnis machen möchte, schlimmer geworden?

Das ist ja leider kein Einzelfall. Ich denke, diese Reaktionen haben oft auch etwas mit Abgrenzung zu tun, so seltsam das klingt. Möglicherweise ist das Rufen und Filmen in solchen Situationen eine Art Vergewisserung,  auf der »richtigen«, der »normalen« oder auch der unversehrten Seite zu sein, was dann vermutlich auch die Hemmschwelle senkt, entsprechende Videos und Fotos im Netz zu veröffentlichen und auf Klicks zu hoffen, die wiederum auf höchst fragwürdige Weise mit Status verknüpft sind – einer Form von Status, die es so vor zehn, fünfzehn Jahren noch nicht gab.

Foto via pixabay.com

Ihre Sprache ist sehr poetisch, es finden sich viele sinnliche Beschreibungen von Alltagsempfindungen, zum Bespiel das Kauen eines Eiswürfels oder wie sich ein Kuss anfühlt. Eine Figur bittet: »Gib mir noch zwei Minuten. Lass uns zwei Minuten an was Schönes denken.« 

Machen wir dies zu selten in unserer täglichen Routine? Kleine Auszeiten nehmen und den schönen Nebensächlichkeiten Bedeutung schenken?

Der Körper meiner Figuren, ihre sinnliche Wahrnehmung, ist mir beim Schreiben sehr wichtig, einer der essenziellen Schlüssel zur Glaubwürdigkeit. Einige Jahre lang habe ich unter einem Profisaxophonisten gewohnt, der jeden Morgen um die gleiche Zeit zu üben begonnen hat, immer, indem er zuerst Tonleitern spielte. Das Beobachten, gerade auch die sinnliche Wahrnehmung, sind für mich so etwas wie die Tonleitern einer Schriftstellerin, etwas, das ich möglichst täglich »übe«. Außerdem spielt Serendipität eine große Rolle in meinem Arbeiten, ein sehr schönes Wort, das den Prozess beschreibt, in dem man etwas findet, ohne danach gesucht zu haben, eine Art glücklicher Zufall. Das ist in unserer beschleunigten, algorithmisierten Welt gar nicht mehr so einfach, in der es schon fast einem Statussymbol gleichkommt, gehetzt, überarbeitet und ständig online zu sein. Es entsteht nichts Neues und Überraschendes, wenn wir diese digitalisierten Selbstbestätigungsblasen nicht immer wieder verlassen, um mal kurz genau nur da zu sein, wo wir sind, und vielleicht dem Wind in den Brombeerblättern zuzuhören. Im Internet, zum Beispiel, hatte ich noch nie eine gute Idee. Im Wald schon.

Auch die Natur spielt eine große Rolle in Der Sprung. Zwei Personen sind regelrechte Pflanzenmenschen, die aus der Natur Kraft schöpfen. Sie selbst leben in der Stadt, mittlerweile in Zürich. Was bedeutet Natur für Sie?

Ich bin in einem kleinen Dorf am Waldrand aufgewachsen, der Wald war lange mein zweites Wohnzimmer: Hütten bauen, herumtollen, am Abend mit verdreckten Hosen nach Hause kommen, für mich hat die Natur immer dazugehört. Umso spannender fand ich später die Stadt, als Teenager war Basel New York für mich, Kinos, Theater, Museen, ich habe das förmlich aufgesaugt. Das Gute an Städten wie Basel oder Zürich ist, dass man beides haben kann, schnell im Wald oder am Wasser ist, denn ohne Zugang zur Natur würde ich verkümmern. 

Während der Arbeit am Roman habe ich viel recherchiert, u.a. habe ich mich mit einem Biologen getroffen, der mit mir durch die Stadt gegangen ist und mir viel über die urbane Pflanzenwelt erzählt hat. Dabei hat er mir einen ganz wunderbaren Begriff erklärt, die »Hypothese der mittleren Störungsintensität«. Wir standen vor einer kleinen Grünfläche am Straßenrand, und er erklärte mir, wenn es zu oft regne, wenn zu oft über die Fläche getrampelt werde, man sie zu oft umgrabe und verletze, bleibe die Pflanzendiversität gering. Das Gleiche passiere aber, wenn es zu wenig regne, die Fläche nie betreten, nie angestochen oder umgegraben werde. Nur wenn es immer mal wieder regne, immer mal wieder jemand darüber gehe, die Erde ein bisschen angestochen, aufgerührt und umgegraben, eben »gestört« werde, dann entstehe die größtmögliche Diversität, entwickle sich das Fleckchen am besten weiter. Ich fand das eine sehr schöne Metapher aufs Leben und auch auf die Figur von Manu in Der Sprung: Gänzlich ungestört bleiben wir unter unseren Möglichkeiten.

Foto: © Ayse Yavas

Sie haben lange an Ihrem zweiten Roman gearbeitet, 2014 war Ihr Debüt Wurfschatten erschienen. Brauchte es eine gewisse Lebenserfahrung, um den Sprung schreiben zu können? Und wie fühlt es sich an, nun, da das Buch fertig ist und auf Leserinnen und Leser trifft? Werden Sie auf Lesereise gehen?

Ich schreibe generell sehr langsam, das hat auch damit zu tun, dass ich stark mit den Ohren schreibe, der Klang eines Wortes und der Rhythmus eines Satzes tragen für mich wesentlich zur Gestaltung des Inhalts bei. Wurfschatten war in gewisser Weise ein sehr persönliches Buch, mit dem ich mich auch freigeschrieben habe für andere Themen. Es ist ein seltsamer und gleichzeitig schöner Moment, nach fünf Jahren aus der Schreibtischeinsamkeit in die vielen bevorstehenden Begegnungen hineinzustolpern, das Buch in der Hand zu halten und es gleichzeitig auch aus der Hand geben und loslassen zu müssen. Ich freue mich aber schon sehr darauf, mit den Leserinnen und Lesern in Kontakt zu treten und mit dem Roman unterwegs zu sein durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Die Dreidimensionalität des lauten Lesens gehört für mich zum Schreibprozess dazu, weshalb Lesungen für mich auch eine Möglichkeit sind, den Text so zu vermitteln, wie ich ihn höre. Gerade bin ich dabei, mit einem Musiker ein Bühnenprogramm zu entwickeln, und bin voller Vorfreude.

 

Das Interview mit Simone Lappert führte Kerstin Beaujean, Juli 2019 © Diogenes Verlag AG Zürich

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Simone Lappert, geboren 1985 in Aarau in der Schweiz, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. 2014 erschien ihr Debütroman Wurfschatten, der auf der Shortlist des aspekte-Preises stand. Sie wurde mit dem Wartholz-Preis als beste Newcomerin ausgezeichnet, ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel und Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt Babelsprech.International. Sie lebt und arbeitet in Basel und Zürich.

Der Sprung ist am 28. August 2019 erschienen und ist auch als eBook erhältlich.