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»Ich wollte, dass das Buch sich wie eine Art ›Mixtape‹ anfühlt, mit zehn höchst unterschiedlichen Songs.«

Benedict Wells. Foto: © Bogenberger / autorenfotos

Heute erscheint Die Wahrheit über das Lügen: Woher kam nach vier Romanen die Lust, kurze Geschichten zu schreiben?

Benedict Wells: Die kam nach und nach. Ich wollte mich zunächst auf die Romane konzentrieren, arbeitete aber ab und zu an einzelnen Stories. Vor zwei Jahren schrieb ich dann Das Franchise: Ein gescheiterter Drehbuchautor der Gegenwart, der auf eine Being John Malkovich-hafte Weise im New Hollywood des Jahres 1973 landet und nun vier Jahre Zeit hat, George Lucas die Idee zu Star Wars zu stehlen. Als ich diese Geschichte fertig hatte, war mir klar, dass ich unbedingt einen Erzählband machen möchte. Denn ich hatte noch ein paar andere Ideen, die ich immer schon schreiben wollte, die aber für einen Roman zu kurz oder abseitig waren.

Was hat es mit den anderen Geschichten auf sich?

Sie entstanden alle im Laufe der letzten zehn Jahren und sind nicht nur deshalb sehr verschieden. Manche Erzählungen sind klassisch oder haben den Tonfall von Vom Ende der Einsamkeit, eine ist sogar eine unveröffentlichte Geschichte daraus über die Jugend des Vaters. Andere Stories gehen in eine komplett andere Richtung, bis hin zu einem Märchen oder einer makabren Erzählung wie Ping Pong. So weiß man nie, was einen als Nächstes erwartet. Ich wollte, dass das Buch sich wie eine Art »Mixtape«-Album anfühlt, mit zehn höchst unterschiedlichen Songs.

Foto via piexels.com (CC0 Creative Commons)

Inwieweit sind Stories im Vergleich zu Romanen ein anderes Schreiben?

Das sind tatsächlich riesige Unterschiede, mit Vor- und Nachteilen. Kurzgeschichten sind erheblich freier. Man kann an einem interessanten Punkt ein- oder aussteigen und muss sich keine allzu großen Gedanken um Nebenfiguren, Familiengeschichten oder Hintergründe machen. Außerdem kann man in einem Erzählband eine größere Palette des Schreibens und der eigenen Interessen abbilden, nicht nur einen Ausschnitt davon. Ein Roman ist oft nur eine einzelne Facette oder Farbe, die man dann auf hunderten von Seiten ausarbeitet. Dafür kann man dort ganz anders in die Tiefe gehen und sich stärker in die Charaktere einfühlen, mit denen man oft Jahre zusammenlebt.

Deshalb war es mir auch wichtig, dass Die Wahrheit über das Lügen nicht groß als Nachfolger von Vom Ende der Einsamkeit oder sogar als halber Roman vermarktet wird. Diese Erwartungen wären falsch, für mich war dieser Band das Gegenteil: eine Spielwiese für zwischendurch. Ich wollte verschiedene Richtungen ausprobieren und etwas schreiben, das man mit großem Spaß lesen kann, das hoffentlich immer wieder überrascht und manchmal auch berührt.

 

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Die Wahrheit über das Lügen

Zehn Geschichten aus zehn Jahren

 

Wer ist Ihr größtes Vorbild, was das Erzählen von Geschichten angeht?

Bevor ich den Erzählband schrieb, hatte ich nur wenige Kurzgeschichten gelesen, um mich nicht zu sehr beeinflussen zu lassen. Ich kannte ein paar von Hemingway, Cheever und Mansfield, kaum mehr. Wobei die beiden letztgenannten mich stark inspirierten. Als ich dann fertig war, habe ich ein halbes Jahr wie besessen Short Stories verschlungen. Ein Streifzug durch Erzählbände von etwa Munro, Maupassant, Salinger, Dahl, Updike, Poe, Carver, Čechov und vielen anderen. Ich wollte sehen, wie unterschiedlich man dieses Genre interpretieren kann, und für das nächste Mal lernen. Lucia Berlin und Jorge Luis Borges fand ich großartig, auch Philip K. Dick und W. Somerset Maugham. Aber nach allem würde ich sagen, dass meine Lieblingsautoren auch hier F. Scott Fitzgerald und Carson McCullers waren. Ich fühle mich der Stimme in ihren Geschichten immer unglaublich nah. McCullers’ Anthologie Wunderkind ragt für mich heraus, ihre Texte zeigen, was möglich ist.

 

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Wunderkind und andere Meistererzählungen

Das heißt, Sie bleiben dem Genre treu?

Im Moment stehen die kommenden Romane im Vordergrund, aber ja, auf jeden Fall. Und während dieser Band neben klassischen Erzählungen wie Hunderttausend oft auch spielerisch ist, würde ich es beim nächsten Mal noch stärker mit literarischen Stories und vielleicht auch Novellen versuchen. Doch dafür war es wichtig, erst mal den Fuß in die Tür zur kriegen, nun werde ich versuchen, zu wachsen.

Ihr Buch heißt Die Wahrheit über das Lügen – was würden Sie sagen: Ist Lügen im Alltag manchmal eine durchaus vertretbare Option?

Schwierig, das hängt davon ab, wie die Lüge motiviert ist. Beim Schreiben würde ich jedenfalls nie bewusst lügen, aber ein bisschen flunkern ist okay; diese fünf Prozent Versöhnung mit den Dingen, die mir in der Wirklichkeit vielleicht fehlen.

Benedict Wells. Foto: © Bogenberger / autorenfotos

Zu Die Wahrheit über das Lügen werden Sie drei Lesungen in Berlin, München und Zürich machen, aber keine ausführliche Tour?

Nach den über hundert Veranstaltungen mit Vom Ende der Einsamkeit brauchte ich eine Pause. An manchen Abenden ging es bis zwei oder drei Uhr nachts. Doch es war mir gerade bei diesem Buch sehr wichtig, mir für jeden Zeit zu nehmen, und ich habe auch wahnsinnig viel zurückbekommen. Umso wichtiger war es aber, nun nicht weiterzumachen, bis man nur noch halbherzig an die Sache rangeht. Deshalb ziehe ich mich im Moment zurück und mache fast nichts Öffentliches oder Mediales. Ich möchte lieber in Ruhe schreiben und alles für den nächsten Roman tun.

Ihr letzter Roman Vom Ende der Einsamkeit war ein großer Erfolg – mehr als eineinhalb Jahre auf der Bestsellerliste. Waren Sie überwältigt, wie hat es sich angefühlt?

Zunächst surreal. Vor der Veröffentlichung war ich so angespannt wie nie. Zum einen, weil ich sieben Jahre daran geschrieben hatte und das Buch sehr persönlich war. Zum anderen, weil es keinerlei Schutzschilde gab. Ich wollte mich nicht wegducken beim Schreiben, sondern dass jemand, der früh seine Eltern verloren oder anderes durchgemacht hatte, sich beim Lesen ernst genommen fühlt. Deshalb habe ich auf Ironie verzichtet, doch das macht einen auch angreifbar.

Ein Buch wie Becks letzter Sommer, mit seinem zu Beginn leicht abgefuckten Protagonisten, ist schon deshalb besser geschützt, weil es sich weniger ernst nimmt und eine Art Sarkasmuslegierung hat. Vom Ende der Einsamkeit fehlte so etwas bewusst, und ich war nicht sicher, ob jemand so eine eher melancholische Geschichte überhaupt lesen will. Dass es dann nicht nur so gut lief, sondern auch dieses tolle Feedback von Leserinnen und Lesern gab, war überwältigend. Natürlich spielt man nach außen die Erwartungen runter, während man insgeheim vor sich hin träumt – aber der Erfolg des Buchs überstieg meine geheimen Träume. Gleichzeitig war ich nonstop auf Tour, erst im Inland, dann im Ausland, so dass ich kaum zum Reflektieren kam, weil ich noch zu tief drinsteckte. Erst jetzt sickert nach und nach in mein Bewusstsein, was mir da eigentlich Tolles passiert ist, und ich verspüre vor allem Dankbarkeit, mich zumindest in den nächsten Jahren ausschließlich dem Schreiben widmen zu dürfen.

Benedict Wells signiert auf der Frankfurter Buchmesse 2016. Foto: © Archiv Diogenes Verlag

Was bedeutet eigentlich Lesen für Sie ganz persönlich?

Es hat mich oft gerettet, ein Gefühl, das man nicht allein ist. Und ich mag die Vorstellung, dass ein Film oder ein Song bereits komplett fertig ist, während ein Roman eher als ein schwarzweißer Architekturplan für die Phantasie daherkommt. Die Farben und Emotionen entstehen erst in einem selbst, und sie unterscheiden sich stark, je nachdem, wer das Buch gerade in der Hand hält. Ich habe ja nie studiert, auch nicht Schreiben, vielmehr war das Lesen mein Studium. Habe ich einen Roman geliebt, las ich ihn oft mehrmals und habe überlegt, wie er funktioniert. Wieso schildert ein herausragender Autor wie Ishiguro auch scheinbar unbedeutende kleine Anekdoten, wie arbeitet er überhaupt mit Erinnerungen? Wie gelingen Mulisch in seinem Meisterwerk Das Attentat seine Zeitsprünge? Wie erschaffen McCullers, Irving oder Franzen diese starken Figuren? Solche Fragen liebe ich beim Lesen. Meine Antworten darauf müssen gar nicht stimmen, aber sie inspirieren mich.

Und das Schreiben?

Es klärt für mich vieles, bündelt wirre instinktive Gedanken und zwingt sie in die Form einer Geschichte bzw. überhaupt in Worte. Oft bin ich überrascht, was da nach einem stundenlangen Getippe plötzlich auf dem Bildschirm steht. Manchmal empfinde ich es als zu hart oder fremd. Und dann wird mir klar, dass ich zwar bewusst noch nie so gedacht habe, aber immer schon so gefühlt haben muss. Eine Art Dialog mit dem unsichtbaren Ich.

 

Woran arbeiten Sie nun, da Ihr Geschichtenband abgeschlossen ist?

Nach der Abgabe von Vom Ende der Einsamkeit fühlte ich mich erleichtert. Dieses Buch musste ich unbedingt schreiben, danach verspürte ich vor allem Freiheit. Und so habe ich überlegt, was ich eigentlich – frei von allen Erwartungen von außen – schon immer erzählen wollte. Der nächste Roman spielt im Jahr 1985 in einem Kaff in Missouri. Ein langer Sommer, es geht um das erste Mal Freundschaft, das erste Mal Liebe, das erste Mal Tod und Erwachsenwerden. Aber auch um ein altes Kino und die Geheimnisse dieses Orts. Einfach das pure Gefühl, sechzehn zu sein und einen Sommer lang an der Schwelle von etwas Großem zu stehen ... Die Geschichte ist inspiriert von den Eighties- und Coming-of-Age-Filmen von John Hughes wie Breakfast Club und Ferris macht blau, aber auch Stand by Me. Es mag komisch klingen, aber ich habe beim Schreiben noch nie ein derartiges Glück empfunden wie mit dieser