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Die Balkan-Flüchtlinge

Im Zuge der aktuellen Flüchtlingsbewegung kommen auch viele Asylsuchende aus dem Balkan nach Westeuropa. Wir sprachen mit der deutsch-serbischen Autorin Jelena Volic über die Hintergründe.

Flüchtlinge an der Grenze von Griechenland zu Mazedonien (Foto: Bundesministerium für Europa, Integration und Äusseres (Arbeitsbesuch Mazedonien) [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons)

Der Bundestag hat Mitte Oktober mit großer Mehrheit einem Gesetzespaket zur Verschärfung des Asylrechts und der verbesserten Integration von Flüchtlingen zugestimmt. Bereits am 24. Oktober 2015 traten die wesentlichen Neuregelungen in Kraft.

Während Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien seit November 2014 als sichere Herkunftsstaaten gelten, werden neu auch Albanien, Kosovo und Montenegro zu solchen gezählt. Die Asylverfahren der Staatsangehörigen dieser Länder können so weiter beschleunigt, bzw. die Asylbewerber von dort schneller abgewiesen werden.

Flüchtlingshilfsorganisationen befürchten, die Einstufung als sicheres Herkunftsland führe leichtfertig zur Ablehnung von Asylanträgen, die möglicherweise doch Berechtigung hätten. Gerade Roma-Familien, die im ersten Quartal des Jahres 2015 einen Drittel der Balkan-Flüchtlinge ausmachten, leiden Nichtregierungsorganisationen zufolge häufig unter starker Diskriminierung, Gewalt und Vertreibung.

Die meisten Flüchtlinge vom Westbalkan geben folgende Gründe für ihr Kommen an: die Hoffnung auf Arbeit, ein besseres Leben und mehr Bildungschancen für ihre Kinder (Quelle: tagesschau.de).

 

Frau Volic, Sie leben sowohl in Belgrad als auch in Berlin. Sie haben also beide Seiten vor Augen. Ist das für Sie vielleicht sogar ein Konflikt?

Ich glaube schon, dass ich ein etwas schizophrenes Leben führe. Ich konnte mich nie für eine Heimat,  für eine Wahrheit entscheiden. Das Leben in nur einem Land ist bequem, ruhig und »normal«. Ich lebe »dazwischen«. Der Blick, die Perspektive aus einem »Dazwischenraum« ist breiter und klarer. Das ist eigentlich eine Frage der Zugehörigkeit. Ich gehöre nirgendwohin. Man ist buchstäblich permanent ein Ausländer, ein von außen Kommender, der nicht »von uns« ist. Ich nehme nichts für selbstverständlich – mein Leben besteht nicht aus Reflexen. Wenn ich morgens einkaufen gehe, muss ich mir erst mal bewusst machen wo ich eigentlich bin – aha! Belgrad, dann schalte ich meine serbische Seele ein, oder – aha! Berlin, also muss ich meine eingedeutschte Ratio herauskramen.    
Doch: Es ist ein Konflikt, aber ich könnte ohne diesen Konflikt nicht wirklich leben.

Foto: Nathan Beck / © Diogenes Verlag

Wie erleben Sie die Situation in Serbien und in den angrenzenden Ländern?

Die ganze südosteuropäische Welt hat mit denselben Problemen zu kämpfen. Alle Staaten in Südosteuropa sind dabei, sich zu modernisieren, sich an die veränderte Welt anzupassen. Alle Länder (von Nationen mag ich nicht sprechen – eigentlich ist der Begriff »Nation« auf dem Balkan lächerlich und falsch) sind aus der »Demokratisierungsphase« geschwächt und »besiegt« herausgekommen. Es ist heute eine erniedrigte und identitätslose Welt. Sowohl kulturell, als auch politisch ist der Balkan ein Rekonvaleszent. Der Balkan war jahrelang der Inbegriff des Schlimmen und Rückständigen. (Diese schlimme menschliche Angewohnheit, alles in schwarz oder weiß, gut oder böse zu unterteilen, Angst vor dem Bösen zu haben und neidisch auf das Gute zu sein!) Es ist kein Wunder, dass die Menschen auf dem Balkan irgendwann angefangen haben, sich tatsächlich so zu fühlen – böse, schmutzig, zurückgeblieben, unfähig. Immer noch glaubt heute keiner in der EU an die Fortschrittsmöglichkeiten dieser Region: »Da kommen die Schmarotzer!« Man sieht in der Erweiterung nur mit größter Skepsis eine Chance: »Vielleicht bringen uns die neuen Länder was Gutes, vielleicht können sie etwas, was wir verlernt, vergessen, oder noch nie gelernt haben.« Man hat Angst vor dem Balkan. Und der Balkan hat Angst vor sich selbst.  Gleichzeitig gibt es dort eine enorme Energie und ein unendliches Potential, besonders bei der jungen Generation. Die jungen Menschen in diesen Ländern sind außerordentlich kreativ und politisch sehr reif. Natürlich, nicht alle, aber erstaunlich viele.  

Worin liegen für Sie die Fluchtursachen?

In den riesigen Unterschieden, die es in einer eigentlich klein gewordenen Welt gibt. Diejenigen, die in Armut leben, wollen es besser haben. Sie versuchen, für sich selbst und für ihre Kinder Aufstiegsmöglichkeiten zu schaffen. Das ist so menschlich! Dieser Drang ist unaufhaltsam. Das müssen wir alle verstehen. Man kann nicht mehr länger über die immer größer werdenden Ungerechtigkeiten dieser Welt hinwegsehen. Der Teil der Welt, wo es Nahrung und Wohlstand in Fülle gibt, wird zum Ziel der Sehnsüchte und Träume. Menschen setzen ihr Leben aufs Spiel, um der Misere zu entkommen. Und Armut ist genauso tödlich wie Krieg.

Flüchtlinge am Wiener Westbahnhof vor der Fahrt Richtung Deutschland am 5. September 2015 (Foto: © Bwag/CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons).

Sie selbst sind in verschiedenen Gremien, mit dem Ziel, die Beziehungen zwischen Deutschland und Serbien zu verbessern. Wo kann man da konkret ansetzen?

Da, wo die wichtigsten Kämpfe ausgefochten werden: bei der Bildung und den Arbeitsmöglichkeiten für die nachkommenden Generationen. Serbien ist regelrecht ausgeblutet: Jeder, der etwas kann, weiß oder gelernt hat, verlässt Serbien. Man spricht so oft darüber, wie viel die Scheinasylanten Deutschland kosten. Man rechnet aber nicht aus, wie viele bestens ausgebildete Serben, Albaner, Makedonier, Bosnier, Montenegriner nach Deutschland gekommen sind und sofort in den Arbeitsprozess eingegliedert wurden. Deutschland hat für ihre Ausbildung keinen Cent ausgegeben. Wir müssen dafür Sorge tragen und entsprechende Umstände schaffen, dass die jungen qualifizierten Menschen in Serbien bleiben wollen, ja mehr noch, dass junge Deutsche gerne nach Serbien kommen, um dort ein Business zu starten.  

Wie empfinden Sie es, dass Länder wie das Kosovo oder Albanien als »sichere Herkunftsländer« eingestuft werden? Und was bedeutet das für die Menschen dieser Länder?

Der Begriff »sicheres Herkunftsland« dient der deutschen Innenpolitik! Natürlich sind die betroffenen Länder »sicher« in dem Sinn, dass es dort keinen Krieg mehr gibt. Man versucht, die Flüchtlinge aus diesen Ländern damit zur Rückkehr zu bewegen. Das erklärt bzw. beantwortet aber nicht im Geringsten ihre Auswanderungsgründe. Für die Roma-Bevölkerung gibt es keine »sicheren Herkunftsländer«, sie sind überall diskriminiert, weil sie Parias in allen Gesellschaften sind. Die Roma sind weniger eine Volksgruppe als ein sozialer Stand. Die sind die Ärmsten, die »Unberührbaren«. Wenn sie es schaffen, aus der Armut herauszukommen – dann sind sie keine Roma mehr, in den meisten Fällen. Es geht eigentlich darum, das Problem der Roma zu lösen, ihnen aus der Armut herauszuhelfen. Und das kann nur auf europäischer Ebene geschehen. Die Roma sind die einzige »Volksgruppe« in Europa ohne ein »Mutterland«. 
Was die Kosovo-Albaner betrifft, sie fliehen vor der Armut, vor Korruption und Nationalismus … Sie sind auch Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben. Man sollte sich überlegen, wie dem neuen Staat Kosovo vernünftig geholfen werden kann. Und da kann ich nur sagen: Bildung, Bildung, Bildung!  

Was ist entscheidend, im Blick auf die Zukunft? Worin besteht für Sie die größte Herausforderung bei dem Flüchtlingsproblem?

Die größte Herausforderung ist eigentlich unsere Bereitschaft zu teilen. Sind wir fähig, die neuen Umstände zu verstehen, oder werden wir im Selbstbetrug unsere Augen verschließen und auf die schnellen Lösungen setzen.  Ist die europäische Kultur in der Lage, Vielfalt zu ertragen, ohne dabei ihre eigene Errungenschaften aufzugeben? Ganz große Themen stehen zur Debatte. Die Flüchtlingskrise wird nicht zu Ende gehen, wie alle hoffen. Es werden große Veränderungen auf uns zukommen. Werden wir diese Veränderungen selber gestalten und lenken können? Oder werden wir von dem Geschehen einfach planlos überrollt? Darüber sollten wir uns unterhalten.

 

Jelena Volic, geboren in Belgrad, studierte Allgemeine Literaturwissenschaft und Germanistik in Belgrad, Münster und Berlin. Sie ist Mitarbeiterin in diversen Foren, die sich mit Serbien im europäischen Einigungsprozess befassen und Expertin für deutsch-serbische Beziehungen. In Belgrad lehrt sie Neuere deutsche Literatur und Kulturgeschichte. Gemeinsam mit Christian Schünemann schreibt sie die Krimireihe um die Belgrader Kriminologin Milena Lukin. Der zweite Fall, Pfingstrosenrot, erscheint am 24.2.2016.

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