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»Vom Mut, den es braucht, positiv zu bleiben.« – Ein Interview mit Peter Zantingh

Amber singt bei einem Konzert gegen ihren Schmerz an; Quentin läuft Kilometer um Kilometer, um der Erinnerung zu entkommen, und Kristianne möchte die wahre Geschichte ihres Sohnes erzählen. Diese Leben und das von fünf weiteren Menschen überkreuzen sich durch Mattias’ unerwartetes Verschwinden auf schicksalhafte Weise. Wie Puzzlesteine fügen sich ihre Geschichten zu einem Abbild von Mattias und werden trotz aller Trauer zu Zeugen seiner Begeisterungsfähigkeit und seines unbeugsamen Mutes, sich dem Leben jeden Tag vorbehaltlos hinzugeben.

Wir haben mit Peter Zantingh über seinen neuen Roman gesprochen.

Foto: Maurice Haas / © Diogenes Verlag

Nach Mattias ist Ihr dritter Roman, aber Ihr erster, der auch auf Deutsch erscheint. Worum geht es in diesem Roman?

Peter Zantingh: Im Mittelpunkt des Romans steht Mattias, ein junger Mann in den Dreißigern, der von einem Tag auf den andern nicht mehr da ist. Erzählt wird dabei aber eigentlich die Geschichte von acht anderen Menschen, deren Leben wegen Mattias‘ Tod eine andere Richtung einschlagen. Manche von ihnen standen Mattias sehr nah, andere kannten ihn kaum. Jeder hat seine eigene Geschichte. Und indem man all diese Geschichten liest, erhält man als Leser Antworten auf die Fragen, wer Mattias war und was mit ihm passiert ist.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es ein Buch über Trauer ist. Jemand ist gestorben, und die Hinterbliebenen müssen einen Weg finden, damit umzugehen. Aber ich finde, es ist viel mehr als das. Es ist ein Buch, in dem alle Aspekte und Konsequenzen behandelt werden, die das plötzliche Verschwinden eines Menschen auf das Leben derjenigen, die zurückbleiben, haben kann. Und das ist so viel mehr als das, was man in einem Lexikon unter der Definition von Trauer liest. Das sind zum Beispiel zwei Menschen, die sich begegnen, und die sich unter anderen Umständen niemals getroffen hätten. Es ist die angespannte Beziehung eines älteren Paars, die auf die Probe gestellt wird. Es sind Menschen, die ihre Leben neu bewerten müssen. Und es ist vor allem reiner Zufall.

Obwohl Tod und Verlust im Mittelpunkt Ihres Romans stehen, hat er trotzdem etwas Hoffnungsvolles. Was wollen Sie dem Leser dadurch mitgeben?

Das Buch handelt vom Mut, den es braucht, positiv zu bleiben. Es ist manchmal einfacher, pessimistisch zu sein. Es braucht sehr viel Mut, um auch in dunklen Zeiten, oder eben gerade in dunklen Zeiten, an der Hoffnung festzuhalten und an das Positive zu glauben. Mattias war jemand, der diesen Mut besaß, und durch seinen Tod sehen sich die Menschen, die zurückbleiben, mit Fragen konfrontiert, auf die sie alle ihre ganz eigenen Antworten finden müssen: Worin kann ich trotz allem Schönheit sehen? Und welchen Fußabdruck würde ich zurücklassen, wenn mein Leben heute zu Ende wäre?

In welchem Moment kam Ihnen die Idee für den Roman?

Im Herbst 2015 habe ich in Dublin am Flughafen auf meinen Heimflug gewartet. Ich hatte aus beruflichen Gründen eine Technologiekonferenz besucht. Es war ein Sonntag um die Mittagszeit. Ich saß auf einem dieser futuristischen Plastikstühle im Wartebereich des Gates und sah nach draußen, wo unsere Maschine fast bereit war für das Boarding. Und dann dachte ich: Was, wenn das Flugzeug abstürzt?

Seltsamerweise war das Erste, was mir dabei in den Sinn kam, dass ich am nächsten Morgen einen Arzttermin hatte. Wenn das Flugzeug abstürzen würde, könnte ich diesen Termin nicht wahrnehmen und der Arzt würde auf jemanden warten, der nie kommen würde. Mein Fehlen, so dachte ich, würde sein Leben beeinflussen, obwohl er mich kaum kannte. Was würde er tun? Direkt zum nächsten Patienten übergehen? Oder eine Weile auf mich warten, während er allein in seinem Büro saß? Oder für ein paar Minuten nach draußen gehen? Welche kleine Wendung sein Tag auch immer nehmen würde, der Grund dafür wäre mein Fehlen.

Und das wäre ja nicht die einzige Konsequenz: Meine Fußballmannschaft hätte keinen Linksverteidiger mehr, die Bücher in meinem Zuhause müssten neue Besitzer finden. Es gäbe unzählige solcher kleiner Effekte.

Diese Überlegungen brachten mich auf die Frage, die letztlich zu diesem Buch führte: Was bleibt von einem, wenn man nicht mehr da ist? Welche Leerräume entstehen in Raum und Zeit, und wer oder was wird diese wieder füllen?

Nach Mattias
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Woher kommen Ihre Figuren? Und gibt es Figuren im Roman, die Ihnen besonders nahestehen?

Ich habe zwanzig Wochen unbezahlten Urlaub genommen, um dieses Buch zu schreiben. Zuerst habe ich mich mit Karteikarten, Stiften und farbigen Textmarkern hingesetzt und angefangen ein paar Charakteristika und Attribute für meine Figuren zu notieren. Einige davon hatte ich mir schon zuvor überlegt, manche kamen mir spontan in den Sinn. So schrieb ich zum Beispiel auf eine Karte: »Jemand ist blind.« Und auf eine andere: »Jemand verkauft ein Haus.« Oder: »Jemand spielt Cello.« Auf anderen Karten notierte ich Ideen für Orte, Handlungsstränge oder einfach Teile von Songtexten, die mich inspirierten.

Danach brachte ich alles zusammen. Ich bündelte die Karten, von denen ich dachte, dass sie einen guten Charakter ergeben würden. Ich schrieb noch mehr Karten mit weiteren Merkmalen, wenn ich feststellte, dass die Figuren langsam Gestalt annahmen. Am Ende überlegte ich mir Namen für alle. Ich hatte zwölf Figuren, als ich mit Schreiben begann, neun davon finden sich letztlich in dem Buch.

Während des Schreibprozesses war es wichtig, eine Strategie zu finden, um die Beziehungen zwischen diesen Figuren und natürlich auch zu Mattias zu organisieren. Deshalb habe ich angefangen, Pläne zu zeichnen – wie eine Art Galaxie.

Die Figur, mit der ich am meisten Mühe hatte, ist Amber, Mattias‘ Freundin. In früheren Versionen des Buchs hat sie als Figur einfach nicht funktioniert. Vielleicht lag es daran, dass sie diejenige ist, die Mattias am besten kannte. Ein paar Wochen vor dem Abgabetermin für das Buch schloss ich mich deshalb ein ganzes Wochenende in meinem Arbeitszimmer ein; doch auch dieser Versuch blieb erfolglos. Aber am darauffolgenden Wochenende sah ich die Lösung plötzlich vor mir, ich schnappte mir meinen Laptop und überarbeitete das erste Kapitel komplett. Und ja, was soll ich sagen ... Ich liebe Amber. Sie ist mir so ans Herz gewachsen. Als ich das Cover für die deutsche Ausgabe des Buches gesehen habe, mit dem Bild dieser jungen Frau: Ich habe in ihr sofort Amber gesehen. Das hat mich wirklich bewegt.

Warum schreiben Sie? Sie arbeiten auch als Journalist. Inwiefern hängt das mit Ihrer Arbeit als Autor zusammen?

Es gibt mehr Gemeinsamkeiten zwischen beidem, als man denken könnte. Wenn ich einen langen Artikel für die Zeitung oder das beiliegende Wochenendmagazin schreibe, kann ich literarische Elemente wie Szenen, Dialoge, Charaktere und Plot nutzen, um das Interesse des Lesers zu gewinnen. In beiden Fällen – beim Schreiben von Artikeln wie auch beim Schreiben von Romanen – ist es mein Ziel, dass sich der Leser nach dem Lesen der letzten Zeile von Grund auf anders fühlt als bei der ersten.

Wie würden Sie Ihren Stil beschreiben?

Manchmal sage ich mir: Dieses Mal schreibe ich ein wirklich dickes Buch, das mindestens 500 Seiten und drei Jahrzehnte umfasst. Aber schlussendlich stehe ich mit einer kurzen Geschichte da, die auf ungefähr 200 Seiten Platz findet. Die erste Version von Nach Mattias hatte 75.000 Wörter. Die endgültige Version umfasst nun noch knapp 50.000. Daher würde ich sagen, mein Stil ist, dass ich nicht mehr Wörter benutze, als unbedingt nötig sind, um meine Geschichte zu erzählen. Ich mag es, wenn es gelingt, ein ganzes Bild, einen Gedanken oder ein Gefühl in nur einem einzigen Satz oder höchsten ein paar Sätzen auszudrücken. Sehr oft besteht mein Schreiben darin, Wörter zu streichen, die nicht zwingend nötig sind, um mit wenigen Worten möglichst effektiv zu sein. Es ist deshalb gut möglich, dass ich dieses dicke Buch niemals schreiben werde...
 


Im Roman spielt Musik eine zentrale Rolle. Welche Musik inspiriert Sie? Und hören sie auch beim Schreiben Musik?

Ich bin mit der Musik meines Vaters aufgewachsen: Beatles, Rolling Stones, Pink Floyd, Dire Straits und Neil Young. Mit siebzehn fing ich an, in einem Musikladen zu jobben, wo ich auch während meines Studiums noch Teilzeit arbeitete. Dort habe ich viel über Musik und meinen eigenen Geschmack gelernt. Es gibt für mich nichts Schöneres, als einen Song zu finden, den ich so sehr liebe, dass ich in ihm Erinnerungen einschließen kann und dabei weiß, dass sie da für den Rest meines Lebens sicher sind.

Wenn ich Bücher schreibe, höre ich deshalb sehr viel Musik. Manchmal benutze ich ein Gefühl oder einen kleinen Textausschnitt, um mich zu inspirieren. So ist zum Beispiel die Passage im ersten Kapitel von Nach Mattias, in der es darum geht, dass Trauer wie ein Schatten ist, inspiriert von einem Song von Sufjan Stevens: John My Beloved (»There's only a shadow of me; in a manner of speaking I’m dead«).

Zu all meinen Büchern erstelle ich auch immer eine Playlist mit Songs, die mich beim Schreiben begleitet haben und die meine Geschichte auch irgendwie ergänzen. Bei Nach Mattias bin ich sogar noch einen Schritt weiter gegangen und habe die Songs meiner Playlist in die Geschichten eingebaut, so dass diese tatsächlich eine Rolle spielen im Buch.

Wer sind Ihre literarischen Vorbilder?

Das letzte Buch, das ich so richtig geliebt habe, ist Max, Mischa und die Tet-Offensive von Johan Harstad. Ich habe es im Sommer 2017 gelesen, und obwohl es mehr als 1200 Seiten hat, also ganz schön dick ist, habe ich es einige Monate ununterbrochen mit mir herumgetragen. Man findet darin Sätze, die sich über mehrere Seiten erstrecken. Und trotzdem kommt es nicht übertrieben rüber, es ist nie »zu viel«. Harstads Stil ist komplett einzigartig und scheint gleichzeitig so mühelos.

Außerdem liebe ich Raymond Carver. Abgesehen von dem Song Black Feathers sind alle Songs, die die Rockband in Nach Mattias spielt, nach Kurzgeschichten von Carver benannt.

Was ist Ihr Lebensmotto?

Ich glaube nicht, dass ich jemand bin, der ein persönliches Lebensmotto hat, aber es gibt natürlich einen guten Grund dafür, dass ich als Motto für das Buch ein Zitat des irischen Musikers Glen Hansard ausgesucht habe:

»Letztlich läuft es in meinem Leben darauf hinaus, dass ich denken möchte, ich tue mehr Gutes als Schlechtes. Das soll im Grunde mein Vermächtnis an diese Welt sein. Ob ich nun am Ende von einem Laster überfahren werde oder bei einem Flugzeugabsturz ums Leben komme oder als steinalter Mann dahingehe, es soll in dem Wissen sein, dass ich ein kleines bisschen Positivität vermittelt habe. Denn es ist doch so, dass wir uns auf dieser Erde breitmachen und sie aufbrauchen. Dass wir uns allein schon durch unser Dasein an dieser Erde vergehen.«
 




Das Interview mit Peter Zantingh führte Stephanie Uhlig, September 2019 © Diogenes Verlag AG Zürich

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Peter Zantingh, geboren 1983 in Heerhugowaard in der niederländischen Provinz Nordholland, studierte Wirtschaft und Digitale Kommunikation und arbeitet heute als stellvertretender Chefredakteur bei der Wochenendausgabe des NRC Handelsblad. Sein Romanerstling Een uur en achttien minuten war für diverse Literaturpreise nominiert. Peter Zantingh lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Utrecht.