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»Natürlich war ich bei Protestmärschen in Minsk dabei.«
Ein Interview mit Sasha Filipenko

Sasha Filipenkos prophetisches Debüt Der ehemalige Sohn geht in Minsk von Hand zu Hand. Der Roman über Stillstand und Aufbruch unter dem Lukaschenko-Regime. Eine junge, literarische Stimme aus Belarus.

Foto: Lukas Lienhard / © Diogenes Verlag

Sasha Filipenko, Ihr Roman Der ehemalige Sohn hat das besondere Schicksal, dass er sieben Jahre nach seinem Erscheinen aktueller ist denn je. Wie ist das möglich?

Wahrscheinlich ist mir einfach ein gutes Buch gelungen. Nein, im Ernst: Dass mein Buch noch immer aktuell ist, freut mich als Autor sehr, als Staatsbürger von Belarus macht es mich jedoch traurig. Die Aktualität meines Romans zeugt leider davon, dass Veränderungen zum Besseren in unserem Land nur sehr, sehr langsam vor sich gehen.

Wie nah verfolgen Sie die Ereignisse in Belarus?  

Ich verfolge sie nicht nur, ich nehme aktiv daran teil. Ich habe 2010 mitdemonstriert (was mich zum Roman Der ehemalige Sohn inspiriert hat) und auch 2020. Ich habe für meinen Blog fotografiert, Solidaritätslesungen meines Romans organisiert, für Zeitungen in Frankreich, Schweden und Deutschland geschrieben und war natürlich auch bei Protestmärschen in Minsk dabei.   

Kann man Der ehemalige Sohn in Belarus kaufen?

Nicht immer. Manche Läden haben das Buch im Regal stehen, manche haben es zwar, aber nicht im Regal. Da müssen Sie im Laden erst danach fragen. Der belarussischen Nationalbibliothek wurde DRINGEND EMPFOHLEN, meinen Roman nicht in ihren Katalog aufzunehmen. In Minsk wird gerade ein Theaterstück nach meinem Roman geprobt. Das Ensemble hat schon von fünf Aufführungsstätten Absagen erhalten. Im Moment wissen sie noch immer nicht, ob sie das Stück werden aufführen können. Ich persönlich bin mir sicher, dass man sie nicht lassen wird. Am wahrscheinlichsten ist es leider, dass das Stück in Polen oder in der Ukraine aufgeführt wird und das belarussische Publikum es nur auf YouTube zu sehen bekommt.  

Es gibt eine Online-Solidaritätslesung von Der ehemalige Sohn mit berühmten russischen und belarussischen Künstlern, Schauspielern und Musikern, die man sich auf YouTube anschauen kann. Wie kam das zustande? 

Im Sommer 2020 dachte ich, es wäre großartig, wenn vor den Präsidentschaftswahlen in Belarus Prominente Ausschnitte aus meinem Roman lesen würden. Kaum hatte ich diese Idee in den sozialen Medien formuliert, vergaß ich sie auch schon wieder. Aber gleich am nächsten Tag bekam ich eine Flut von Rückmeldungen von berühmten Schauspielern, Musikerinnen, Journalistinnen und bildenden Künstlern. Innerhalb von zwei Tagen hatte ich eine so überwältigende Liste beisammen, dass es schlicht dumm gewesen wäre, das nicht zu machen. So entstand eine Fortsetzungslesung des gesamten Romans. Damit wollte ich ein Zeichen unserer Solidarität setzen, und natürlich war es eine große Ehre, dass so viele renommierte Persönlichkeiten bereit waren, Passagen aus dem Ehemaligen Sohn zu lesen.

Was bedeutet der Titel Der ehemalige Sohn?

Dieser Titel ist mir nach dem Protest von 2010 eingefallen. Man kann ja eigentlich kein »ehemaliger Sohn« sein. Man kann ein ehemaliger Fußballer sein, ein ehemaliger Ehemann, aber kein ehemaliger Sohn – und doch traf das genau, wie ich mich damals fühlte. Ich wollte ein Buch über Menschen schreiben, die sich wie ehemalige Söhne und Töchter ihres Landes fühlen, wie ehemalige Kinder ihrer Familien. Über Menschen, die gezwungen sind, ihr Zuhause zu verlassen.    

Franzisks Großmutter, die nie die Hoffnung aufgibt, dass ihr Enkel eines Tages aus dem Koma erwachen wird, ist eine wunderbare Figur. Gibt es für sie ein reales Vorbild?

Das ist meine Großmutter. Man kann sagen, dass dieses Buch eine Art Rekonstruktion meiner Großmutter ist, eine Studie, wenn man so will. Ich bin überzeugt: Wenn ich in Franzisks Lage geraten wäre, hätte meine Großmutter ganz genau so gehandelt wie die Großmutter im Roman.

(Die Fragen stellte Stephanie Uhlig)

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