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›Moonlight Mile‹ von Dennis Lehane – eine exklusive Leseprobe

Moonlight Mile – ein überraschender und atemloser Thriller. Dennis Lehane lädt uns ein letztes Mal auf Spurensuche mit Patrick Kenzie und Angela Gennaro ein. Die Suche nach der verschwundenen Amanda McCready führt in Abgründe, die nicht einmal ein abgeklärter Ermittler wie Kenzie erahnen kann. Mit der exklusiven Leseprobe gibt es jetzt einen Einblick ins Finale der Serie um die Kult-Ermittler.

Foto: Gaby Gerster / © Diogenes Verlag

Moonlight Mile

S. 29-35

Am nächsten Morgen um drei klingelte das Telefon.
   »Erinnern Sie sich noch an mich?«, fragte eine Frauen­stimme.
   »Was?« Ich war noch im Halbschlaf. Ich sah aufs Display: eine Privatnummer.
    »Sie haben sie schon einmal gefunden. Finden Sie sie noch mal.«
   »Wer spricht denn da?«
   Ihre Wörter schlierten durch die Leitung. »Das sind Sie mir schuldig.«
   »Schlafen Sie Ihren Rausch aus«, sagte ich. »Ich lege jetzt auf.«
   »Das sind Sie mir schuldig.« Sie legte auf.

Am Morgen fragte ich mich, ob ich den Anruf nur geträumt hatte. Wenn nicht, wusste ich schon nicht mehr genau, ob es letzte Nacht gewesen war oder in der Nacht davor. Bis morgen, nahm ich an, würde ich die ganze Angelegenheit wieder vergessen haben. Auf dem Weg zur U-Bahn trank ich unter einem tief hängenden lehmfarbenen Himmel und zerlumpten Wolken meinen Kaffee von Dunkin’ Donuts. Trockenes graues Laub wehte durch den Rinnstein und wartete darauf, im ersten Schnee zu versteinern. Die Bäume entlang der Crescent Avenue waren kahl, der kalte Wind vom Meer suchte nach den Öffnungen in meiner Kleidung. Zwischen dem Ende der Crescent Avenue und dem Hafen befand sich die U-Bahn-Station JFK/UMASS, dahinter der Parkplatz. Die Treppe, die zur Bahnstation hinauf‌führte, war bereits voller Pendler.
   Ich konnte den Blick nicht abwenden von dem Gesicht, das jetzt oben an der Treppe auf‌tauchte. Ein Gesicht, von dem ich gehofft hatte, es niemals wiederzusehen. Das müde, abgekämpf‌te Antlitz einer Frau, die man übergangen hatte, als im Leben das Glück ausgeteilt worden war. Ich kam näher, sie bemühte sich zögernd um ein Lächeln und hob die Hand.
   Beatrice McCready.
   »Hi, Patrick.« Der Wind blies hier oben schärfer, und sie wehrte sich mit einer dünnen Jeansjacke dagegen, deren Kragen sie bis an die Ohrläppchen hochzog.
   »Hi, Beatrice.«
   »Tut mir leid wegen des Anrufs letzte Nacht. Ich …  « Sie zuckte hilf‌los mit den Schultern und schaute sich für einen Augenblick unter den Pendlern um.
   »Schon gut.«
   Die Menschen, die auf die Drehkreuze zu hasteten, rempelten uns an. Beatrice und ich traten beiseite und standen vor einer weißen Metallwand, auf die groß der U-Bahn-Plan gemalt worden war.
   »Sie sehen gut aus«, sagte sie.
   »Sie auch.«
   »Nett von Ihnen, dass Sie lügen«, meinte sie.
   »Hab ich nicht«, log ich.
   Ich überschlug die Zahlen schnell im Kopf und schätzte sie auf etwa fünfzig. Heutzutage mochten fünfzig die neuen vierzig sein, in ihrem Falle waren es allerdings die neuen sechzig. Ihr ehemals erdbeerrotes Haar war weiß. Die Falten in ihrem Gesicht waren tief genug, um Schotter darin verschwinden zu lassen. Sie wirkte wie jemand, der sich an eine Wand aus Seife klammerte.
   Vor langer Zeit – vor einem ganzen Leben – war ihre Nichte entführt worden. Ich hatte sie gefunden und in ein Zuhause zurückgebracht, das sie sich mit ihrer Mutter, Beas Schwägerin Helene, teilte, wenn Helene auch als Mutter nicht gerade ein Naturtalent war.
   »Wie geht’s den Kindern?«
   »Kinder?«, entgegnete sie. »Ich habe nur eins.«
   Himmel. Ich kramte in meinem Gedächtnis. Ein Junge. Das wusste ich. Fünf oder sechs, ach Mist, vielleicht sieben damals. Mark. Nein, Matt. Nein, Martin. Ganz sicher Martin.
   Ich dachte schon daran, mit dem Namen noch mal mein Glück zu versuchen, aber ich hatte die Pause schon zu lang werden lassen.
   »Matt«, sagte sie und musterte mich aufmerksam, »ist jetzt achtzehn. Er ist im Abschlussjahr an der Monument High School.«
   Monument High war die Art von Schule, in der die Kinder beim Rechnen ihre Patronenhülsen zählten.
   »Ach«, machte ich. »Gefällt’s ihm da?«
   »Er ist … nun, unter den Umständen ist er, ähm, Sie wissen schon, er braucht manchmal ein wenig Führung, aber er hat sich besser entwickelt, als so manch anderes Kind es getan hätte.«
   »Das ist toll.« Ich bedauerte die Worte, kaum dass sie meinen Mund verlassen hatten. Etwas Bescheuerteres, Dämlicheres hätte mir nicht einfallen können.
   Ihre grünen Augen blitzten ganz kurz auf, so als wolle sie in aller Ausführlichkeit erklären, wie unfassbar toll ihr ­Leben gewesen sei, seit ich meine Hand dabei im Spiel gehabt hatte, ihren Mann ins Gefängnis zu bringen. Er hieß Lionel und war ein anständiger Kerl, der aus guten Gründen eine böse Sache gemacht und hilf‌los um sich geschlagen hatte, während um ihn herum ein Blutbad stattfand. Ich hatte ihn sehr gemocht. Beißende Ironie im Fall Amanda McCready war es gewesen, dass ich die Bösen ­erheblich mehr gemocht hatte als die Guten. Beatrice hatte da eine Ausnahme gebildet. Amanda und sie waren die beiden einzigen Unschuldigen in diesem ganzen Riesenschlamassel gewesen.
   Sie starrte mich an, als würde sie hinter dem Ich, das ich vorgab zu sein, nach einem anderen Ich suchen. Einem würdigeren, authentischeren Ich.
   Eine Gruppe von Teenagern in Jacken mit großen aufgenähten Buchstaben kam durch die Drehkreuze – Schulsportler auf dem Weg zur Boston College High School, zehn Minuten zu Fuß den Morrissey Boulevard entlang.
   »Amanda war damals vier, als Sie sie gefunden haben«, sagte Bea.
   »Ja.«
   »Jetzt ist sie sechzehn. Fast siebzehn.« Sie reckte das Kinn in Richtung der Sportler, die die Treppe hinunter zum Morrissey Boulevard gingen. »In deren Alter.«
   Das versetzte mir einen Stich. Irgendwie hatte ich vor der Tatsache die Augen verschlossen, dass Amanda McCready älter geworden war. Dass sie nicht mehr die Vierjährige war, die ich das letzte Mal in der Wohnung ihrer Mutter gesehen hatte, wie sie eine Hundefutterwerbung im Fernsehen glotzte.
   »Sechzehn«, sagte ich.
   »Ist es zu fassen?« Beatrice lächelte. »Wo ist sie nur hin, die Zeit?«
   »Im Benzintank von jemand anderem verschwunden.«
   »Wie wahr.«
   Eine weitere Gruppe von Sportlern und ein paar lernbegierig wirkende Kinder kamen auf uns zu.
   »Sie sagten am Telefon, sie sei wieder verschwunden.«
   »Ja.«
   »Weggelaufen?«
   »Bei Helene als Mutter würde ich das nicht ausschließen.«
   »Gibt es irgendeinen Grund zu der Annahme, dass es, nun ja, etwas Schlimmeres sein könnte?«
   »Zum Beispiel, dass Helene nicht zugeben will, dass Amanda verschwunden ist.«
   »Haben Sie die Polizei gerufen?«
   Sie nickte. »Natürlich. Sie fragten Helene nach ihr. Helene meinte, Amanda gehe es bestens. Die Polizei beließ es dabei.«
   »Und warum würde sie es dabei belassen?«
   »Warum? Nun, es waren Angestellte der Stadt gewesen, die Amanda 1998 entführt haben. Helenes Anwalt verklagte die Polizei, ihre Gewerkschaft und die Stadt. Er hat drei Millionen herausgeschlagen. Eine Million hat er sich eingesteckt, und zwei Millionen sind in einen Fonds für Amanda geflossen. Die Polizei hat Angst vor Helene, Amanda, der ganzen Sache. Wenn Helene ihnen in die Augen schaut und sagt: ›Meinem Kind geht’s gut, Sie können verschwinden‹, dann raten Sie mal, was die tun.«
   »Haben Sie mit den Medien gesprochen?«
   »Sicher«, sagte sie. »Die wollen auch nicht daran ­rühren.«
   »Warum denn nicht?«
   Sie zuckte mit den Schultern. »Gibt wohl Wichtigeres, nehme ich an.«
   Das ergab keinen Sinn. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, worum es ging, aber irgendetwas verriet sie mir nicht.
   »Und was glauben Sie, kann ich da tun, Beatrice?«
   »Keine Ahnung«, antwortete sie. »Was können Sie denn tun?«
   Die sanfter werdende Brise bewegte ihr weißes Haar. Es gab nicht den geringsten Zweifel: Sie gab mir die Schuld dafür, dass ihr Mann angeschossen worden war und noch im Krankenhausbett wegen einer ganzen Latte an Verbrechen unter Anklage gestellt worden war. Er hatte das Haus verlassen, um mich in einer Bar in South Boston zu treffen. Von dort war er ins Krankenhaus gekommen. Von dort ins Gefängnis. Er hatte eines Donnerstag nachmittags das Haus verlassen und war nie zurückgekehrt.
   Beatrice sah mich weiter so an, wie mich die Nonnen in der Mittelschule angeschaut hatten. Ich hatte das damals nicht gemocht, ich mochte es jetzt auch nicht.
   »Beatrice«, sagte ich. »Es tut mir wirklich leid, dass Ihr Mann seine Nichte entführt hat, weil er seine Schwester für eine schlechte Mutter gehalten hat.«
   »Gehalten?«
   »Aber er hat sie nun mal tatsächlich entführt.«
   »Zu ihrem Besten.«
   »Okay. Wir sollen es also zulassen, dass jeder darüber entscheiden darf, was gut für ein Kind ist, das nicht das eigene ist. Warum auch nicht? Jedes Kind mit einem beschissenen Elternteil, bitte an der nächsten U-Bahn-Station anstellen. Wir bringen euch alle nach Wonkaville, dort lebt ihr glücklich und zufrieden bis an euer Lebensende.«
   »Sind Sie fertig?«
   »Noch lange nicht.« Ich spürte, wie die Wut in mir hochkam, die mit jedem Jahr näher an die Oberfläche drang. »Ich habe mir im Laufe der Jahre eine Menge Mist anhören müssen, nur weil ich bei Amanda meinen Job gemacht habe. Dafür bin ich angeheuert worden, Beatrice, also habe ich es getan.«
   »Armer Kerl«, sagte sie. »So missverstanden.«
   »Sie haben mich dafür angeheuert. Sie sagten: ›Finden Sie meine Nichte.‹ Und ich habe sie gefunden. Wenn Sie also die nächsten zehn Jahre die Stirn runzeln und mir die Schuld geben wollen, nur zu. Ich habe meinen Job erledigt.«
   »Wobei eine ganze Reihe Menschen verletzt wurden.«
   »Ich habe sie nicht verletzt. Ich habe nur Amanda gefunden und zurückgebracht.«
   »So leben Sie also damit?«
   Ich lehnte mich an die Wand und stieß Luft und Enttäuschung aus. Ich griff in die Manteltasche und zog meine Charlie Card hervor, um durchs Drehkreuz zu gehen. »Ich muss zur Arbeit, Bea. Hab mich gefreut, Sie zu sehen. Tut mir leid, dass ich nicht helfen kann.«


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Moonlight Mile

Ein Fall für Kenzie & Gennaro
Aus dem amerikanischen Englisch von Peter Torberg

Patrick Kenzie und Angela Gennaro sind verheiratet und Eltern einer vierjährigen Tochter. Vier Jahre alt war auch Amanda McCready, als sie entführt und schließlich von Angela und Patrick wiedergefunden wurde. Nun ist Amanda ein Teenager und erneut verschwunden. Ein weiteres Mal macht sich Patrick auf die Suche nach ihr. Doch in welche Abgründe ihn diese Suche führen wird, kann nicht einmal ein abgeklärter Ermittler wie Patrick Kenzie erahnen.


Paperback
384 Seiten
erschienen am 21. Mai 2025

978-3-257-30047-5
€ (D) 20.00 / sFr 27.00* / € (A) 20.60
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Auch erhältlich als

 

Dennis Lehane, irischer Abstammung, geboren 1965 in Dorchester, Massachusetts, schrieb für ›The Wire‹ und war Creative Consultant für ›Boardwalk Empire‹. Er unterrichtet Creative Writing u.a. in Harvard. Seine erfolgreich verfilmten Bücher ›Mystic River‹ und ›Shutter Island‹ sind Weltbestseller. Dennis Lehane lebt in Kalifornien und Boston.