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»Er schuf das New York, das er finden wollte.«
Ein Interview mit Jonathan Lee

Mit Der große Fehler gelingt Jonathan Lee ein ganz besonderer Roman. Spazieren Sie mit dem Autor auf den Spuren seiner Romanfigur Andrew Haswell Green durch New York. (aspekte, ZDF, 18.03.2022, ab Min. 26:06)

Auch im Diogenes Interview erfahren wir mehr über den sogenannten ›Father of Greater New York‹ und auch, welche Rolle das Lesen und die Literatur in diesem Roman spielt. Außerdem verrät uns der Autor seinen liebsten New-York-Roman.

Foto: © Beowulf Sheehan

Worum geht es in Ihrem Roman?

Jonathan Lee: Der große Fehler ist mein Roman über einen realen bürgerlichen Stadtplaner des 19. Jahrhunderts, der im Alter von 83 Jahren auf der Park Avenue ermordet wurde, nachdem er das moderne New York erschaffen hatte. Andrew Haswell Green war eine Persönlichkeit, ohne die es keinen Central Park, kein Metropolitan Museum of Art, keine New York Public Library und keinen Zusammenschluss von Manhattan und Brooklyn zu einer einzigen Stadt geben würde. Und doch ist er völlig in Vergessenheit geraten, was ERSTAUNLICH ist! Sein einziges wirkliches Denkmal ist eine Steinbank im Central Park, die mit Taubenkot bedeckt ist. Ich bin vor zehn Jahren zufällig auf diese Bank gestoßen. Ich las die Inschrift, die ihn als den »Vater des Greater New York« bezeichnet. Und ich wurde neugierig. Wer war diese Person? Warum hatte ich noch nie von ihm gehört? Und wie kam es dazu, dass dieser Verfechter des öffentlichen Raums 1903 am helllichten Tag in der Park Avenue erschossen wurde, was etwas voreilig als »Mord des Jahrhunderts« bezeichnet wurde?
 

Wie kam Ihnen die Idee für den Roman?

Jonathan Lee: Eines Tages im Jahr 2012 ging ich im Central Park spazieren, als ich in einem ruhigen Teil des Parks diese alte Steinbank entdeckte, die Green gewidmet ist. Hätte ich mein ganzes Leben lang in New York gelebt, wäre ich vielleicht schulterzuckend weitergegangen. Ich bin in den Außenbezirken Londons aufgewachsen und war für viele Gebäude und Merkmale dieser Stadt blind, weil ich sie jeden Tag sah. Aber weil ich in New York ein Außenstehender war, ein Zugezogener, blieb ich stehen und studierte die Bank und wurde neugierig, wer Green war – und acht Jahre später hatte ich ein Buch.

Photo by Jermaine Ee on Unsplash

Die Geschichte basiert auf einer wahren historischen Begebenheit und dem Leben bzw. Sterben von Andrew H. Green. Wie haben Sie für den Roman recherchiert? War es schwierig, Material zu finden?

Jonathan Lee: Ich hatte das große Glück, in der New York Public Library und in der New York Historical Society Library eine wahre Fundgrube an Material zu entdecken. In der Historical Society Library konnte ich die unveröffentlichten Tagebücher und Briefe von Andrew H. Green lesen. Es gab Dokumente, von denen einige fast zwei Jahrhunderte alt waren und die seit vielen Jahren von niemandem mehr eingesehen worden waren. Sie verhalfen mir zu vielen Durchbrüchen, wenn es darum ging, die Muster seiner Gedanken und Gefühle in bestimmten Jahren seines Lebens zu entschlüsseln. Aber für andere Jahre gab es überhaupt kein Material, und die Abwesenheit in den historischen Berichten wurde ebenso faszinierend für mich wie die Anwesenheit. Ich musste mir vorstellen, wohin ihn das Leben in diesen Intervallen führte, und auch die Lücken zum Teil der Erzählung machen. Dies ist ein Roman, der versucht, wo immer möglich, die Stellen hervorzuheben, an denen die historischen Aufzeichnungen versiegen oder keinen Konsens finden. 
 

Basieren alle Charaktere im Buch auf historischen Personen?

Jonathan Lee: Sie alle basieren in gewisser Weise auf historischen Personen. Am bekanntesten sind Andrew H. Green und Samuel Tilden sowie Bessie Davis (auch bekannt als Hannah Elias) und Cornelius Williams. Aber auch die Nebenfiguren wurden durch kleine Fetzen von »echtem« historischem Material, das ich gefunden habe, ins Leben gerufen – über Inspektor McClusky konnte ich nicht viel herausfinden (außer den Ergebnissen seiner Arbeit), auch nicht über Greens Haushälterin Mrs. Bray oder den Anwalt, der schließlich versuchte, Williams zu helfen, und dem ein eigenes Kapitel gewidmet wurde, aber ihre Namen tauchten in Artikeln und Gerichtsakten oder in Fußnoten zu wissenschaftlichem Material auf und machten mich neugierig. Von Entwurf zu Entwurf nahmen sie ein Eigenleben an.

 

Welche Rolle spielen das Lesen und die Literatur in Ihrem Roman?

Jonathan Lee: Für Andrew H. Green waren die von ihm geschaffenen öffentlichen Räume wie der Central Park eine Möglichkeit, allein zu sein, ohne sich allein zu fühlen – in der Einsamkeit zu sein und gleichzeitig den Trost anderer vorbeiziehender Leben zu erfahren. Ich glaube, das ist es, was das Schreiben für mich tut und was auch das Lesen für mich tut. Bücher bieten im besten Fall das Gefühl, in den einsamsten Momenten des Lebens unsichtbar begleitet zu werden. Das ist eine schöne Sache.

Und für Green war das Lesen der wichtigste Weg, sich zu bilden und sich selbst zu erhöhen; sein Weg, ein Mensch zu werden, der seinen Lebensunterhalt verdienen und mehr von den Dingen tun konnte, die ihn interessierten. Doch als er als jugendlicher Lehrling ohne Geld in der Tasche in New York ankam, konnte er sich keine seiner beiden Leidenschaften leisten: Laufen und Lesen. Lesen kostete zu viel Geld – die Bibliotheken in der Stadt waren zu dieser Zeit privat –, und die sicheren Orte zum Spazierengehen waren gebührenpflichtige Vergnügungsparks, die er sich ebenfalls nicht leisten konnte. Es ist interessant, darüber nachzudenken, ob er am Ende den Central Park und die New York Public Library mitgestaltet hätte, wenn ihm als junger Mann das Spazierengehen und Lesen nicht verschlossen geblieben wäre. In gewisser Weise schuf er das New York, das er finden wollte, anstelle des New Yorks, das er fand. Auf die gleiche Weise habe ich versucht, die historischen Romane zu schreiben, die ich lesen wollte, und nicht das, was ich in den Buchläden fand. Ich wollte einen historischen Roman schreiben, der anarchisch, chaotisch, witzig, erschütternd und berührend ist und sich seiner eigenen Verstöße bewusst ist

Der Titel des Romans spielt, ohne hier zu viel verraten zu wollen, auf den Mord an Andrew H. Green an. Es geht aber auch um die Liebe bzw. nicht gelebte Liebe. Würden Sie sagen, dass diese Thematik auch heute noch aktuell ist?

Jonathan Lee: Ja. Der Protagonist von Der große Fehler war der Meinung, dass wir in einer Welt leben, die manchmal zu unserem Nachteil vom Individuum gegenüber dem Kollektiv, vom privaten gegenüber dem öffentlichen Interesse, vom Egoisten gegenüber dem Selbstlosen, vom Kurzfristigen gegenüber dem Langfristigen besessen ist. Und Andrew H. war ein Mensch, der gegen diese Philosophie arbeitete, von der Sie vielleicht oder vielleicht auch nicht denken, dass sie heute noch bei Trump und Johnson und Putin und anderen vorherrscht. Er war nicht perfekt, aber im New York des 19. Jahrhunderts glaubte Green an den öffentlichen Raum, die öffentliche Gesundheit, die öffentliche Bildung, die Förderung der Künste, und er sah auch voraus, dass die Verschmutzung der Umwelt oft die Ärmsten am härtesten trifft. Er sah, dass die beste erste Chance auf eine etwas gerechtere Gesellschaft darin bestehen könnte, saubere Luft zu schaffen, die alle atmen können, nicht nur die Reichen.

Mehr als alles andere hoffe ich, dass es in diesem Roman darum geht, dass Verbindungen und Nähe – das Bauen von Brücken, anstatt sie abzubrechen – eine bessere Art zu leben sind als das Verfolgen des Mythos von Individualismus und Selbstständigkeit. Und ich glaube, dass Green trotz seiner Einsamkeit am Ende hervorragend darin war, diese Verbindungen in der Öffentlichkeit und bis zu einem gewissen Grad auch im Privaten aufzubauen. Seine Beziehung zu Samuel Tilden war komplex und bedeutsam.
 

Sie leben in New York, wo ein Großteil des Romans spielt. Haben Sie die Schauplätze in der Stadt alle besucht oder vielleicht sogar dort geschrieben z.B. in der New York Public Library?

Jonathan Lee: Ich schreibe meistens zu Hause, aber für die Recherche und zur Inspiration war es hilfreich, die Orte zu besuchen, die in dem Buch vorkommen. Der Central Park ist einer meiner Lieblingsorte, an dem ich ohnehin viel Zeit verbringe. Das gilt auch für die New York Public Library. Interessant ist allerdings, dass man beim Schreiben eines historischen Romans in gewisser Weise immer auf der Jagd nach Geistern ist. Die Bibliothek sieht heute nicht mehr so aus wie damals, als sie gebaut wurde. Die Ziegel sind verwittert. Das Licht hat sich verändert. Die Bäume um sie herum sind gewachsen. Die Beschaffenheit der Straßen ist anders.

Welcher Teil des Schreibprozesses hat Ihnen am besten gefallen?

Jonathan Lee: Ich denke, das meiste Schreiben – zumindest gutes Schreiben – ist Umschreiben. Jedenfalls liebe ich das Umschreiben. Die leere Seite ist auf ihre Weise einladend, aber es geht nichts über das Vergnügen, ein paar Stunden damit zu verbringen, kleine, langsame Verbesserungen an einer bestimmten Seite vorzunehmen. Das ist es, was ich wirklich liebe. Mit einem Satz zu spielen. Ihn zu brechen. Ihn neu aufbauen. Ihn auf Größe testen. Neu anfangen.  

Sie schreiben auch Drehbücher, hat das Ihr Roman-Schreiben beeinflusst?

Jonathan Lee: Das glaube ich nicht. Vielleicht im Gegenteil, meine Romane haben sich wahrscheinlich auf meine Drehbücher ausgewirkt. Wenn jemand einen Roman, den ich geschrieben habe, als »filmisch« bezeichnet, denke ich immer, das ist ein bisschen so, als würde man Stift und Papier als »computeristisch« bezeichnen. Das Kino hat viel mehr von guten Romanen gelernt, als gute Romane vom Kino gelernt haben.  

Sehen Sie New York nach dem Schreiben des Romans und der intensiven Recherche nun mit anderen Augen?

Jonathan Lee: Ja! Ich glaube, ich sehe New York immer mit anderen Augen. Jedes Mal, wenn ich die Stadt betrachte, überrascht mich etwas an ihr. Aber das ist jetzt besonders der Fall, nachdem ich mehrere Jahre damit verbracht habe, über ihr früheres Leben zu lesen – das New York der 1840er, 50er, 60er, 70er, 80er, 90er Jahre – und den Tag im November 1903, als Andrew H. Green in der Park Avenue erschossen wurde.

Welches ist Ihr liebster New-York-Roman?

Jonathan Lee: Toni Morrisons Jazz ist vielleicht mein Lieblingsroman über New York. Es ist ihr Porträt von Harlem in den 1920er Jahren, reicht aber auch in die tiefere Vergangenheit zurück, in den amerikanischen Süden Mitte des 19. Jahrhunderts. Ich mag ihre Wiederholungen, Umkehrungen, Verschiebungen in der Komposition, die Art und Weise, wie ihr Schreiben den Jazz des Buchtitels zum Ausdruck bringt, aber auch den Ruf und die Reaktion der Demokratie im öffentlichen Raum und all diese Dinge.

Und Ihr liebster Ort in New York?

Jonathan Lee: Ich liebe den Central Park. Aber hier ist mein Geständnis ... Ich glaube, ich liebe den Prospect Park in Brooklyn vielleicht noch mehr! Wie der Central Park wurde er von Frederick Law Olmsted und Calvert Vaux entworfen. Er ist ein wundervoller Ort, an dem sich viele Einheimische entspannen, und er wurde für mich und meine Familie während der Pandemie besonders wichtig.

Ihr Roman ist an vielen Stellen sehr humorvoll. würden Sie sagen, dass Sie einen großen amerikanischen Roman mit britischem Humor geschrieben haben?

Jonathan Lee: Haha. Ich denke, der New Yorker Humor durchdringt das Buch – der Humor der belebten Straßen, der zufälligen Begegnungen, der zerbrochenen Träume, der seltsamen Fremden, der Irrtümer, Fehltritte und Fehler. Es ist schwierig, den »amerikanischen« Humor zu verallgemeinern. New York ist ein eigenes Ökosystem, und vielleicht ist es dem britischen Humor etwas näher, als man denkt.

Werden Sie sich auch in Ihren zukünftigen Romanen wieder historischen Stoffen zuwenden?

Jonathan Lee: Vielleicht. Ich nehme an, dass jeder Roman in gewisser Weise ein historischer Roman ist. Wenn man über ein Gefühl, ein Ereignis oder eine Idee schreibt, ist es schon vorbei. Ich genieße es, Fiktion im Rahmen von Fakten zu schreiben. Im Laufe meiner Karriere habe ich immer weniger Lust, Dinge zu erfinden.

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Der große Fehler

Jonathan Lee, 1981 in Surrey, England, geboren, studierte Literatur, lebte eine Zeitlang in Südamerika und arbeitete in einer Anwaltskanzlei in London und Tokio. Inzwischen ist er in New York für einen renommierten Verlag tätig, verfasst Drehbücher und steht frühmorgens auf, um an seinen Romanen zu schreiben. Der ›Guardian‹ nennt Jonathan Lee »eine bedeutende neue Stimme der englischen Literatur«.

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Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.