In Frankreich stürmt sie mit jedem neuen Buch die Bestsellerlisten, und ihre Romane erscheinen in 40 Sprachen. Für Mit Staunen und Zittern erhielt sie den Grand Prix de l'Académie française, für Der belgische Konsul den Prix Renaudot 2021 und den Premio Strega Europeo.
In ihrem aktuellsten Werk Der belgische Konsul widmet sich die Autorin der Geschichte ihres Vaters, des belgischen Diplomaten Patrick Nothomb. Sie zeichnet das Bild seiner Kindheit zwischen belgischer Hautevolee und wilden Ardennen. Erste Einblicke in das persönliche Werk der französischen Starautorin erhalten Sie hier:

Foto: © Catherine Cabrol
(Auszug Seite 7 bis 8)
Ich werde vor das Erschießungskommando geführt. Die Zeit dehnt sich, jede Sekunde dauert hundert Jahre länger als die davor. Ich bin achtundzwanzig Jahre alt. Der Tod vor meinen Augen hat das Gesicht der zwölf Vollstrecker. Üblicherweise ist unter den ausgeteilten Waffen eine blind geladen. So kann jeder sich für unschuldig an dem zu verübenden Mord halten. Ich bezweifle, dass dieser Tradition heute Respekt gezollt wird. Keiner dieser Männer scheint den Wunsch nach möglicher Unschuld zu verspüren. Als ich vor rund zwanzig Minuten hörte, wie jemand meinen Namen schrie, war mir sofort klar, was das bedeutete. Und ich schwöre, ich habe vor Erleichterung geseufzt. Wenn ich getötet werde, muss ich nicht mehr reden. Seit vier Monaten verhandle ich um unser Überleben, vier Monate endloser palabres, um unsere Ermordung hinauszuschieben. Wer wird jetzt für die Geiseln eintreten? Ich weiß es nicht, und das macht mir Angst, aber ein Teil von mir ist erleichtert: Endlich werde ich schweigen können. Aus dem Fahrzeug, das mich zum Denkmal brachte, sah ich die Welt und wurde ihrer Schönheit gewahr. Schade, dass ich diese Herrlichkeit verlassen soll! Schade vor allem, dass ich achtundzwanzig Jahre brauchte, um dafür empfänglich zu sein.
Ich wurde aus dem Lastwagen geworfen, und die Berührung der Erde begeisterte mich: Wie ich diesen freundlichen, zärtlichen Boden liebe! Welch bezaubernder Planet! Ich könnte ihn, scheint mir, jetzt um so viel mehr schätzen. Aber das kommt ein bisschen spät. Beinahe hätte ich an der Vorstellung Gefallen gefunden, dass meine Leiche in ein paar Minuten darin verscharrt werden würde.
Es ist Mittag, die Sonne wirft ein unerbittliches Licht, die Luft ist schwer von berückenden Pflanzendüften, ich bin jung und gesund, wie dumm, ausgerechnet jetzt sterben zu müssen! Bloß keine historischen Reden, ich träume von Stille. Das Knallen der tödlichen Schüsse wird mir in den Ohren wehtun.Dabei habe ich Dostojewski um seine Erfahrung mit dem Exekutionskommando beneidet! Jetzt ist es an mir, diesen inneren Aufruhr zu erleben. Nein, ich will nicht zu Unrecht sterben, ich fordere noch einen Augenblick, jeder Moment ist so intensiv, allein das Verrinnen der Sekunden versetzt mich in Trance.
Die zwölf Männer legen auf mich an. Sehe ich jetzt mein Leben an mir vorüberziehen? Das Einzige, was ich empfinde, ist eine ungeheure Erregung: Ich bin lebendig. Jeder Moment ist bis ins Unendliche teilbar, der Tod kann mich nicht einholen, ich versinke im harten Kern der Gegenwart.
(Auszug Seite 10 bis 11)
Die Gegenwart begann vor achtundzwanzig Jahren. In den allerersten Anfängen meines Bewusstseins sehe ich schon meine unbändige Freude zu leben. Unbändig, weil unanständig – um mich herum herrschte Trauer. Ich war acht Monate alt, als mein Vater bei einem Unfall ums Leben kam. Was zeigt, dass Sterben bei uns eine Familientradition ist. Mein Vater war Soldat. An diesem Tag sollte er Minenräumen lernen. Doch die Übung war schnell vorbei – irrtümlich lag da eine echte Mine statt einer Attrappe. Mein Vater starb Anfang 1937, mit fünfundzwanzig Jahren. Zwei Jahre davor hatte er meine Mutter Claude geheiratet. Es war die große Liebe, die man damals in den gehobenen Kreisen Belgiens lebte wie im neunzehnten Jahrhundert: mit Zurückhaltung und Würde. Fotos zeigen ein junges Paar, das durch einen Wald reitet. Meine Eltern sind sehr elegant, schön, schlank und verliebt. Wie einem Buch von Barbey d’Aurevilly entsprungen. Mich wundert, wie glücklich meine Mutter darauf wirkt. So habe ich sie nie gesehen. Ihr Hochzeitsalbum endet mit Bildern von einer Beerdigung. Offensichtlich hatte meine Mutter anfangs vor, sie später zu beschriften, wenn sie Zeit dafür hätte. Aber ihr war die Lust vergangen: Ihr Leben als glücklich verheiratete Frau hatte nur zwei Jahre gewährt. Mit fünfundzwanzig legte sie sich eine Witwenmaske zu, die sie nie wieder ablegen sollte. Selbst ihr Lächeln war erstarrt. Härte überzog ihr Gesicht und beraubte es seiner Jugend. »Immerhin haben Sie ein Kind zum Trost«, hieß es in ihrer Umgebung. Wenn sie dann den Kopf zur Wiege hindrehte, sah sie ein hübsches, zufriedenes Baby, dessen Heiterkeit ihren Mut sinken ließ. Anfangs hatte sie mich geliebt. Ihr erstes Kind war ein Junge, alle hatten ihr gratuliert. Inzwischen wusste sie, dass ich nicht ihr erstes, sondern ihr einziges Kind sein würde. Die Vorstellung, dass sie die Liebe zu ihrem Mann durch die Liebe zu einem Kind ersetzen sollte, empörte sie. Natürlich hatte ihr das keiner so gesagt. Aber sie hatte es so verstanden.
(Auszug Seite 15 bis 17)
Bei Tisch aß meine Mutter stets wenig und sehr schnell. Sie musste nur der Pflicht genügen, Nahrung in den Mund zu schieben. Dann zog sie ein entzückendes Etui aus ihrem Täschchen und zündete sich eine Zigarette an. Ihr Vater warf ihr vernichtende Blicke zu: Eine Frau rauchte nicht, Punktum. Sie wandte mit einer verächtlichen Bewegung, die sie für diskret hielt, die Augen ab. Hätte sie sprechen können, hätte sie gesagt: »Ich bin eine unglückliche Frau. Da darf ich doch wenigstens rauchen!«
»Nun, meine liebe Claude, erzähle!«, bat Großmama. Mama berichtete von einem Cocktail bei Soundso, einem höchst interessanten Gespräch mit Mary, der wahrscheinlich bevorstehenden Scheidung von Teddy und Anny, dem etwas lächerlichen Kostüm von Katherine – wobei sie sämtliche Vornamen englisch aussprach und ihre Eltern Mommy und Daddy nannte. Sie fand es nur bedauerlich, dass für ihren eigenen Namen kein »charmanter anglisierender Diminutiv« existierte. Sie redete schnell, leicht vernuschelt und mit flatternden Ts, weil sie überzeugt war, dass Engländer sich so anhörten.
»Ich bin gleich bei Tatiana zum Tee eingeladen. Da siehst du, dass sie gar nicht so depressiv ist, wie sie immer tut.«
»Du könntest doch Patrick mitnehmen!«
»Ausgeschlossen, Mommy, er würde sich zu Tode langweilen.«
»Nein, Mama«, mischte ich mich ein, »ich würde dich sehr gern begleiten.«
»Ach, mein Schatz, lass es, dort sind sonst keine Kinder.«
»Das bin ich gewohnt.«
Seufzend hob sie ein wenig das Kinn. Diese Geste war mein Tod: Mir wurde klar, dass ich in den Augen dieser unerreichbaren, erhabenen Frau einen Fehler begangen hatte. Großmama erriet, dass ich litt. »Dann geht doch in den Park spazieren, der Kleine muss mal an die frische Luft.«
»Ich höre immer nur Luft, Luft, Luft!« Wie oft hatte meine Mutter sich schon darüber ereifert! Aus hygienischen Erwägungen an die frische Luft zu gehen erschien ihr absurd. Und Atmen hielt sie ohnehin für überschätzt. Wenn sie ging, war ich ebenso traurig wie er leichtert. Am meisten betrübte mich die Erkenntnis, dass Claudes Gefühle mir gegenüber genauso zwiespältig waren. Sie küsste mich, warf mir einen gebrochenen Blick zu und eilte davon. Dabei klackerten ihre Absätze so hinreißend, dass ich ganz krank vor Liebe wurde.
Spannende Interviews zum Nachhören finden Sie hier:
WDR 5 Scala - Hintergrund Kultur: ›Der belgische Konsul‹ und die zauberhafte Welt der Amélie Nothomb
SRF 2 Kultur: Neues Buch von Amélie Nothomb- »Mein Vater war für mich eine mysteriöse Figur«
Der belgische Konsul
Amélie Nothomb, geboren 1967 in Kobe, Japan, hat ihre Kindheit und Jugend als Tochter eines belgischen Diplomaten hauptsächlich in Fernost verbracht. In Frankreich stürmt sie mit jedem neuen Buch die Bestsellerlisten und erreicht Millionenauflagen. Ihre Romane erscheinen in über 40 Sprachen. Für Mit Staunen und Zittern erhielt sie den Grand Prix de l'Académie française, für Der belgische Konsul den Prix Renaudot 2021 und den Premio Strega Europeo. Amélie Nothomb lebt in Paris und Brüssel.