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»Es geht darum, dass man sich entscheidet, wer man sein will, unabhängig von dem Ort, an dem man geboren wurde.«
Ein Interview mir Dror Mishani

Nach dem Spiegel-Bestseller Drei, erscheint nun mit Vertrauen endlich wieder ein Israel-Krimi von Dror Mishani. Im Diogenes Interview verrät uns der Autor, was der Auslöser für die Fortsetzung der Reihe um den Ermittler Avi Avraham war und welche Verbindungen zu seinem letzten Roman Drei darin zu finden sind. Außerdem erfahren wir, welche Rolle der Nahostkonflikt in Vertrauen spielt, und wie es war, diesen Roman in einer politisch herausfordernden Zeit zu veröffentlichen.

Foto: Lukas Lienhard / © Diogenes Verlag

Was war der Auslöser für das Schreiben des Romans Vertrauen?

Dror Mishani: Das war eine Geschichte, die ich in der Zeitung las, über ein kleines Mädchen, das vor einem Krankenhaus gefunden wurde, ohne jegliche Identifikationsmerkmale. Dieses Bild, ein neugeborenes Baby in einer schwarzen Tasche, sich selbst überlassen, faszinierte mich sofort. Wer könnten die Mutter und der Vater des Babys sein? Was trieb sie zu einer solch extremen Tat, einem Akt der Verzweiflung, aber vielleicht auch der Hoffnung. Die Hoffnung, ihr Baby würde von jemand anderem gefunden und so möglicherweise gerettet werden? Ich dachte über die mythische Resonanz dieser Tat nach – ist es nicht eine Tat, die durch die antike Literatur von Ödipus bis Moses geistert? Und mir wurde klar, dass die Schicksale dieser ausgesetzten kleinen Jungen immer eine viel größere Geschichte erzählen, die Tragödie ihrer Familien, den Untergang ihrer Nation. Also könnte dieses kleine Mädchen, das in einer Tasche in Cholon gefunden wurde, nicht auch eine größere Geschichte erzählen? Das beflügelte meine Fantasie. Und da war noch etwas: Ich wollte einen Kriminalroman schreiben, der mit einer Befreiung, einer Erlösung, einer Geburt und nicht mit dem Tod endet – und plötzlich dachte ich, dass ihre Geschichte das richtige sein könnte ...

Im Laufe des Romans stellt sich das Private als sehr politisch heraus, und Vertrauen ist nicht nur ein klassischer Krimi, sondern auch ein politischer Thriller. Sie machen darin zum ersten Mal den Nahostkonflikt in einem Ihrer Romane zum Thema. Wie kam es dazu?

Dror Mishani: Weil ich endlich einen Weg gefunden habe, darüber zu schreiben. Ich wollte nicht einfach noch einen Krimi mit einem »politischen Motiv« oder einem »politischen Hintergrund« schreiben. Ich suchte nach einer Möglichkeit, eine Geschichte darüber zu erzählen, wie das Leben in Israel – mit dem allgegenwärtigen arabisch-jüdischen Konflikt – einzigartige Verbrechen hervorbringt – und auch Situationen, die anderswo gar nicht als Verbrechen gelten würden.  

Aber ich muss sagen, dass der Konflikt für mich nicht das Hauptthema dieses Romans ist. Vertrauen ist ein Buch über Eltern und Kinder, es geht darum, die Heimat zu verlassen, um neu geboren zu werden und ein Kind zur Welt zu bringen, es geht darum, dass man sich entscheidet, wer man sein will, unabhängig von dem Ort, an dem man geboren wurde.

Photo by Robert Bye on Unsplash

Wie wurde das Buch mit diesem konfliktreichen Thema in Israel aufgenommen?

Dror Mishani: Vertrauen kam im April 2021 in Israel heraus. Im Mai befanden wir uns mitten im Krieg, Raketen explodierten im Gazastreifen und in Tel Aviv, und in den meisten unserer Städte kam es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Juden und Arabern.

Man hätte meinen können, dass dies eine schlechte Zeit für die Veröffentlichung eines Romans ist – aber ich dachte, dass es eine gute Zeit für Vertrauen ist, um gelesen zu werden, und ich war gerührt von Lesern, die mir schrieben, dass sie Trost und Hoffnung in dem Roman und vor allem in seinem Ende gefunden haben. Andere waren wütend – aber lässt sich das bei einem Roman vermeiden, dessen Motto das Gebot Gottes an Abraham ist: »Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus.«?

Vertrauen ist Teil der Serie um den beharrlichen Ermittler Avi Avraham. Inwiefern unterscheidet sich die Arbeit an so einer Serie von der an einem für sich allein stehenden Roman wie etwa Ihr Erfolgsroman Drei? Und soll auch Drei noch fortgesetzt werden?

Dror Mishani: Es stimmt, dass ich nach Drei zu meiner Serie und meinem Detektiv zurückgekehrt bin, aber Vertrauen ist nicht nur Avis Buch. Vertrauen gehört zu Liora, der Frau, die verdächtigt wird, das Baby ausgesetzt zu haben. Vertrauen gehört zu Rafael Chouchani, dem französischen Touristen, der wenige Stunden nach seiner Landung in Tel Aviv verschwindet, und zu seiner Tochter Annette, die die Hoffnung nicht aufgibt, ihn zu finden und die Wahrheit über sein Leben herauszufinden. Vertrauen gehört zu Marianka, Avis Frau, die ihn bei seinen Bemühungen unterstützt, die Wahrheit über den verschwundenen Touristen zu erfahren und die Eltern des Babys zu finden. Und es gehört zu einer weiteren wichtigen Figur, die erst am Ende des Romans auftaucht und die ich hier nicht vorstellen kann, aber ich kann sagen, dass es ohne seinen Auftritt auf den letzten Seiten des Buches keinen Roman gäbe.
Was Drei betrifft, so werden aufmerksame Leserinnen und Leser in Vertrauen einige seiner Figuren wiederfinden, ebenso wie Andeuteungen darauf, wie sich die Geschichte in Drei entwickelt – und vielleicht sogar Hinweise darauf, wie sie sich in zukünftigen Büchern weiter entfalten wird.

Es gibt bereits Verfilmungen der Bücher rund um Ermittler Avi Avraham, und ein neues internationales Projekt. Was können Sie uns darüber berichten?

Dror Mishani: Nach einem französischen Spielfilm (2018) und einer israelischen Fernsehserie (2019) wandert Avi nächstes Jahr nach Amerika aus und schließt sich dem NYPD an. Dies ist dem Drehbuchautor und Produzenten David E. Kelley (Nine Perfect Strangers, The Undoing) zu verdanken, der eine US-Fernsehserie vorbereitet, die von Keshet International und Universal Studios für Peacock produziert wird. Regie führt Barry Levinson (Good Morning, Vietnam, The RainMan, Bugsy), und Avi wird vom israelisch-deutschen Schauspieler Jeff Wilbusch gespielt.

Die Fragen stellte Stephanie Uhlig, Januar 2022. Aus dem Englischen von Stephanie Uhlig, © by Diogenes Verlag AG Zürich.

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Dror Mishani, geboren 1975 in Cholon bei Tel Aviv, ist ein israelischer Schriftsteller und daneben Literaturwissenschaftler mit dem Spezialgebiet Geschichte der Kriminalliteratur. Seine Romane sind in viele Sprachen übersetzt, Drei war in Deutschland monatelang auf der Bestsellerliste. Vertrauen ist der vierte Fall für Avi Avraham. Sowohl von der Krimi-Serie als auch von Drei sind internationale Verfilmungen in Vorbereitung. Dror Mishani lebt mit seiner Familie in Tel Aviv.

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Übersetzt von Markus Lemke, 2021 mit dem Deutsch-Hebräischen Übersetzerpreis ausgezeichnet.