»An den Romanen Andrea De Carlos fasziniert immer wieder seine Beobachtungsgabe, seine Geduld, genau hinzusehen, und seine klare Sprache.« Ditta Rudle / Buchkultur, Wien
Andrea De Carlo, der in Mailand und Ligurien lebt, war Fotograf, Maler und Rockmusiker, bevor ihm 1981 mit seinem ersten Roman, Creamtrain, der Durchbruch gelang. Acht Jahre später legte er den Roman Zwei von zwei vor, der zum Kultbuch einer ganzen Generation wurde. Sein neuer Roman Das Traumtheater ist eine Satire auf die Medien und Selfie-Gesellschaft, so unterhaltsam wie entlarvend.

Foto: © Angela Scipioni
(Auszug Seite 5 bis 6)
Würde man Veronica Del Muciaro nach ihrer größten Angst fragen, würde sie garantiert sagen, am meisten fürchte sie sich davor, den richtigen Augenblick zu verpassen. Bis Mitte zwanzig hatte sie davon nämlich schon eine Unmenge verpasst: Millionen Momente, die ohne jede Vorwarnung plötzlich wie aus dem Nichts auftauchten und dann so blitzschnell vorbeirauschten, dass sie gar nichts davon mitbekam, geschweige denn sie zu nutzen vermochte.
Aber mit fünfundzwanzig kam dann endlich der Durchbruch. Wann genau, weiß sie gar nicht mehr, sie kann sich an kein spezielles Ereignis mehr erinnern: Irgendwann hatte sie es einfach satt, dauernd fassungslos dazustehen und sich zu grämen, weil sie auf eine Bemerkung, einen Blick, eine sich bietende Gelegenheit wieder einmal nicht schnell genug reagiert hatte. Bis dahin war sie durch tausend Unsicherheiten gehemmt, durch die Erwartungen der Eltern, die Angst, verurteilt zu werden; in der Schule, um nur ein Beispiel zu nennen, stotterte sie. Heute, wo sie in ihren Livereportagen für Tutto qui! losrattert wie ein Maschinengewehr und perfekt artikuliert, kann sich das gar keiner mehr vorstellen. Dennoch war dieses Stottern für sie lange Zeit eine Quelle unsäglicher Erniedrigung. Es reichten wenige Zuhörer, drei oder vier Mitschüler, gar nicht mal die ganze 6. Klasse, und schon verhedderte sie sich, die Worte stockten und kamen nur ruckartig heraus.
Deshalb wurde sie nicht nur von ihren Mitschülern aufgezogen, sondern auch von den Lehrerinnen, später auch von den Profs. »Dddel Mumumuciaro«, sagten sie. »Mumumu!« Superwitzig, schallendes Gelächter. Wenn so etwas heute passierte, würden die Eltern gleich zum Anwalt laufen und die Presse einschalten, der Vorfall käme in die Zeitung und ins Fernsehen. Roberta Riscatto beispielsweise würde so einen Fall sofort aufgreifen, sie zu einer Livereportage losschicken und Psychologen, Soziologen und Logopäden ins Studio einladen. Die Schulleitung müsste die Mitschüler rügen, sich von den Lehrern distanzieren und sich öffentlich entschuldigen. Aber damals kein Gedanke; natürlich war sie auch nicht nach Hause gelaufen, um gleich alles zu erzählen, denn sie schämte sich, als wäre es ihre Schuld. Zum Glück fand sie selbst die Lösung, ohne fremde Hilfe: einfach loslegen, statt wie gelähmt zuzusehen. Die Methode war simpel: Sag einfach, was dir gerade einfällt, nicht lange überlegen, nicht erstnachden richtigen Worten suchen. Die kommen dann von ganz allein. Bloß keine Hemmungen, vergiss, was andere wohl davon halten, pfeif auf die Folgen. Stell einfach eine unbequeme Frage, ein bisschen heikel vielleicht, hau irgendeinen frechen Spruch raus, schneid eine Grimasse, äff jemanden nach, wirf die Haare zurück, ganz egal, Hauptsache Action. Und keine Einstellung länger als ein paar Sekunden: dauernd wechseln, ungeduldig sein, aufdringlich. Lauf herum, beweg dich. Und es funktionierte, wenn auch vielleicht nicht in allen Lebensbereichen; jedenfalls verpasste sie nun keinen Augenblick mehr, so viel war sicher.
(Auszug Seite 9 bis 10)
Veronica lässt Brioche und Handy fallen, reißt sich den Pashmina-Schal vom Hals, torkelt mit den Händen am Hals herum, und noch immer denkt niemand daran, etwas zu unternehmen. Beispielsweise die ältere Dame mit Nerzmantel und bläulich schimmernden Haaren oder die Fünfzigjährige im Collegelook mit Strassreif im Haar oder der große dünne Typ mit Brille, der aussieht wie ein Spion aus den Sechzigerjahren, oder der Fettwanst, der seinen Kamelhaarmantel fast zum Platzen bringt, oder die beiden aufgetakelten Freundinnen mit identischen Kaninchenaugen oder der junge Mann mit Stachelfrisur neben der Mutter in schwarzer Designer-Lederjacke mit Nieten. Mit ihrem beschissenen Anstandsgetue, bigott und voller Argwohn, typisch für das gutbürgerliche Suverso, sitzen alle nur da und glotzen, als würde hier ein Theaterstück aufgeführt, nur für sie. Auch der Barista und die Frau hinter der Theke scheinen eher neugierig als besorgt, während sie verzweifelt nach Luft schnappt, ihr Herz rast und das Blut gefriert, ihr die Tränen in die Augen steigen angesichts dieses bevorstehenden, unglaublich dämlichen und erniedrigenden Endes vor einem Dutzend Unbekannter, die glauben, sie zu kennen, weil sie ihre Berichte auf Tutto qui! gesehen haben.
Plötzlich spürt sie einen heftigen Stoß im Rücken, einen Griff um die Taille und einen Druck auf das untere Ende des Brustbeins, dabei wird sie so heftig geschüttelt, dass die Füße vom Boden abheben. Am liebsten würde sie laut protestieren, um das demütigende Schauspiel nicht noch schlimmer zu machen, aber es geht nicht, und wer immer es ist, der sie packt, schüttelt und hochhebt, macht energisch weiter, bis sie spürt, wie das festsitzende Stück Brioche wundersamerweise freikommt, durch die Kehle nach oben rutscht und aus dem Mund herausschießt. Unglaublich, aber plötzlich kann sie wieder atmen, die Lunge mit Luft füllen! Sie hustet, schluckt, bewegt sich mit einem berauschenden Gefühl der Erleichterung, das durch den ganzen Körper fließt und in den Kopf steigt wie Alkohol. Sie dreht sich um, kann endlich ihrem Retter ins Gesicht sehen. Der Mann hat einen eindringlichen Blick, graugesprenkelte unordentliche Locken, trägt einen herrlich weich fließenden schwarzen Mantel, einen Seidenschal in Violett und Orange, verschmutzte Reitstiefel. Eine eigentümliche Mischung aus Eleganz und Härte, Ruhe und Spannung: ziemlich verwirrend, in diesem ohnehin schon reichlich unsicheren Moment.
(Auszug Seite 15 bis 17)
»Aber Sie müssen es mir sagen! Bitte, Signor Guiscardo!« Sie bedrängt ihn, inzwischen ist es eine Frage des Prinzips.
»Nein.« Mit wachsender Ungeduld dreht er sich zu den anderen Gästen um, die sie anstarren.
»Dann sagen Sie mir wenigstens, in welcher Provinz, Signor Guiscardo. Ich flehe Sie an!« Gleichzeitig versucht sie festzustellen, ob an der Geschichte mit der Entdeckung etwas dran ist, natürlich kann sie hier und jetzt nichts überprüfen, aber Gesicht und Stimme wirken authentisch. Vor allem die Weigerung, darüber zu reden. »Hier, in dieser Provinz.« Das klingt jetzt fast provokativ. »Wahnsinn! In der Provinz Suverso! Und darf man fragen aus welcher Epoche?« Mühelos schaltet Veronica Del Muciaro jetzt auf typisches Reportergefasel um, eine ungute Mischung aus »Sensationsgier, Schadenfreude und einer gehörigen Portion Unverfrorenheit«, die von Flavio Scuffi letzten Oktober in seiner TV-Rubrik Televedendo schonungslos kritisiert wurde. »Na ja, ein paar Jährchen hat sie schon auf dem Buckel.« Wieder schaut er zur Tür. »Stammt sie vielleicht aus römischer Zeit?« Sie versucht ihm klarzumachen, dass sie durchaus weiß, was einearchäologische Ausgrabung ist.
»Nein.« Er mauert, scheint erneut kurz davor aufzustehen.
»Älter, jünger? Wenigstens ungefähr, nur um einen Anhaltspunkt zu haben.« Jetzt zieht Veronica Del Muciaro das Register für die schwierigsten Fälle. Klar, immerhin hat der Herr hier ihr gerade das Leben gerettet, aber auch Rücksicht hat ihre Grenzen.
»Ein paar Jährchen, habe ich doch schon gesagt. Und jetzt machen Sie endlich das Ding aus!«
Je mehr sie insistiert, desto weniger rückt er mit der Sprache heraus: echt nervtötend, aber irgendwie auch ziemlich reizvoll. Sonst hat sie nämlich nur mit Leuten zu tun, die sofort die intimsten Dinge erzählen, sobald sie gefilmt werden. »Sie sind wirklich unmöglich, wissen Sie das?« Wenn das hier eine echte Liveschalte wäre, müsste sie jetzt noch eins drauflegen, um ihn zu nötigen, alles zu sagen.
»Und wie kommt es dann, dass niemand in der Provinz etwas davon weiß?« Er zuckt die Schultern und lächelt dann wieder. »Denken Sie an Angkor Wat in Kambodscha, oder an Palenque in Mexiko, die waren auch Jahrhunderte verschwunden und wurden dann wiederentdeckt. Und das waren ganze Städte.«
»Sicher, aber das war mitten im Dschungel, nicht wahr?« Ganz sicher ist sie zwar nicht, meint aber, sich vage zu erinnern.
»Hier gibt es dafür Unachtsamkeit, Ignoranz, Vernachlässigung.« Er schüttelt bedächtig den Kopf, schaut weg. »Generationen gleichgültiger, desinteressierter Familien, Generationen unredlicher, unfähiger Verwaltungen. Das ist entschieden schlimmer als der Dschungel.«
»Jetzt machen Sie mich aber richtig neugierig, Signor Guiscardo!« Sie versucht es noch mal: Nie klein beigeben, das war ein Grundzug ihres Wesens, mehr noch als ihrer Berufsauffassung. »Geben Sie mir wenigstens einen Tipp! Kalt oder warm! Bitte!« Er steht auf, reicht ihr die Hand.
»Tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich gehen.«
Das Traumtheater
Veronica droht in einem Café an einem Stück Brioche zu ersticken. Kaum ist sie wieder zu Atem gekommen, lässt ihr Retter durchblicken, dass er eine wichtige historische Stätte entdeckt hat, gleich hier in der italienischen Stadt Cosmarate – eine willkommene Story für die Fernsehfrau. Die Sensation des antiken Theaters zieht schnell weite Kreise, ruft Politik und Wissenschaft auf den Plan. Bis der Traum vom Theater platzt und alle ihr blaues Wunder erleben.
Andrea De Carlo, geboren 1952 in Mailand, lebte nach einem Literaturstudium längere Zeit in den USA und in Australien. Er war Fotograf, Maler und Rockmusiker, bevor ihm 1981 mit seinem ersten Roman, Creamtrain, der Durchbruch gelang. Acht Jahre später legte er den Roman Zwei von zwei vor, der zum Kultbuch einer ganzen Generation wurde. Andrea De Carlo lebt in Mailand und in Ligurien.
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