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Hugo Loetscher – 10. Todestag am 18.8.2019. Das Ende seines letzten Buchs

»Aus einer ungefragten Welt eine gefragte machen.«

Heute vor zehn Jahren starb Hugo Loetscher, wenige Tage nachdem sein autobiographisches Buch War meine Zeit meine Zeit erschienen war. Er hatte ein druckfrisches Exemplar noch in Händen halten können. Lesen Sie den bewegenden, prophetischen Schluss von Hugo Loetschers letztem Buch.

Foto via pixabay.com

»Für mich jedenfalls gibt es den Himmel nicht mehr, in den einst meine Großmutter in einem Sarg aufgebrochen ist. Dorthin hat sich auch meine kleine Schwester begeben, die starb, bevor sie schulpflichtig war, und von der wir annahmen, dass sie die Sprache der Katzen beherrschte. Meine Mutter zeigte nach oben: Dort warten die beiden, dorthin werden auch wir gehen. Ob dort auch der Vater warten würde, blieb offen; er meinte, er würde lieber statt nach oben tief ins Glas schauen.

Wenn schon, lebten Großmutter, Schwester und Mutter in meinem Kopf oder in meinem Herzen; sie würden mit meinem Tod ein zweites Mal sterben. Man stirbt zwar einsam, aber nicht allein.

Wer und was nicht alles mitstirbt, wenn die tausenddreihundert Gramm Eiweiß meines Gehirns nicht weiterfunktionieren, wenn keine Windung mehr genutzt und kein Signal mehr durchgegeben wird, wenn es zwischen Nervenzellen zu keiner Verständigung mehr kommt, wenn die Schaltstellen ausgeschaltet sind und jede Rückkopplung überflüssig.

Ich habe mich manchmal gefragt, wo und bei wem und wann ich schon mitgestorben bin, welche Urnen und Gräber ich teile.

Und doch: Wenn es zutrifft, dass wir unser Fleisch und Blut dem Sternenstaub verdanken, warum nicht als Staub zu den Sternen zurückkehren – was sind für einen Toten schon ein paar Milliarden Jahre.

Mein Himmel beginnt bei einer Grenzhöhe von etwelchen hundert Kilometern, dort, wo die Erdenschwere ihr Gewicht verliert und der Mensch zu schweben anfängt, und wo ein Planet mehr als nur einen Mond hat. Wo sich ein Weltraum auftut, in dem sich auch Fixsterne bewegen. Eine feste Adresse hingegen haben Raumstationen mit Wohnmodulen, Laboren und Luftschleusen, so dass Frachter andocken und Personal ausgetauscht werden kann. Ein Universum mit Sonnensegeln und Radiowellen, die Wolkendecken durchdringen. Raketen, die Planeten umrunden, die neue Magnetfelder entdecken, und andere, die Weltraumschrott transportieren. Sonden, die der Erde Bilder über die Erde funken. Ein All, in dem Sterne explodieren und Galaxien kollidieren. Wo einst Engel ihre Botschaften austrugen, sind Satelliten unterwegs, als Antriebskraft nicht Flügel, sondern Trägerraketen und das Rückstoßprinzip. Ein Himmel auch, der nicht Sintfluten und Feuerregen schickt, sondern diese mit Hilfe eines Frühwarnsystems anzeigt, so rechtzeitig, dass Rettung möglich ist – statt Offenbarung Nachrichten.

Statt des Himmels und seiner Paradiese tut sich mir das Reich der Credo-losen Poesie auf. Hier werden die Credos nicht gepredigt, sondern erzählt; denen, die dennoch predigen, fault der Zeigefinger ab.

Hier stützen noch immer Berge als Säulen das Firmament. Die tausendfachen Sterne sind Augen von Göttern. Hier kann man auf Wolken reiten. Ein Juwelier verkauft an der Milchstraße Perlen, aus echten Tränen gewonnen, aber er bietet auch Kunst- und Zuchttränen feil. Hier ist die Muschel zu sehen, aus der einst die Göttin der Liebe an Land stieg, auch der Schwingbesen, mit dem die Milch im Urmeer aufgewühlt wurde, und die Leier, bei deren Klang die Steine sich von allein zu einer Mauer fügen. Nicht nur Engel dürfen hier auf Jakobs Himmelsleiter hoch- und niedersteigen. In einem Windkanal fliegende Teppiche. Die Zeit geben Uhren an, denen nicht das Rädchen der Unruh zur Präzision verhilft; das Pochen von Herzen bringt die Zeiger in Umlauf. Zudem Sonnenuhren, die keinen Schatten kennen. Das ganze Jahr hindurch blühen Windrosen. Hierher kehren nach ihrer Wanderschaft durch gelehrte Köpfe Mythen zurück, viele abgezehrt und ausgenommen. Die meisten Pferde sind geflügelt, sie grasen an dem Fluss, der als einziger ein drittes Ufer hat. Hier führen die Schaukelpferde Rennen durch, und die Computer-Mäuse kriegen Junge, von denen einige als Schwänzchen einen Cursor haben. Am Baum der Erkenntnis wachsen birnengroße Phantasien.

Es bleibt die ungefragte Welt. Eine andere habe ich nicht. Würde ich sie aufgeben, ich hätte nichts unter meinen Füßen. Ich stünde im Bodenlosen, ich hätte nichts im Herzen und nichts im Kopf – alle sterblichen Momente von Glück und Verzweiflung würden selbst um ihre Vergänglichkeit gebracht.

Also will ich, dass es diese Welt gibt. Nicht zuletzt, weil ich will, dass es die gibt, die ich liebe. Auch wenn mir die Argumente zugunsten dieser Welt schwerfallen. Eines bleibt, sie zu lieben, da ich für die Liebe keiner Begründung bedarf – alle Ungeheuerlichkeiten und jeden Wahnsinn vor Augen, ertragbar dank einer Zuneigung, die unbelehrbar ist.

Es sind die Füße, die den Boden erfinden.

Aus einer ungefragten Welt eine gefragte machen.«

 

Aus: War meine Zeit meine Zeit

 

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Hugo Loetscher, geboren 1929 in Zürich, gestorben 2009 ebendort. Seit 1965 bereiste er regelmäßig Lateinamerika, Südostasien und die USA, seit 1969 war er als freier Schriftsteller und Publizist tätig. Hugo Loetscher war Gastdozent an Universitäten in der Schweiz, den USA, Deutschland und Portugal sowie Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung. 1992 wurde er mit dem Großen Schiller-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.

War meine Zeit meine Zeit erschien erstmals im September 2009. Es ist auch als eBook erhältlich.

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