Nachteule heißt der neuste Roman von Ingrid Noll, und der hat es in sich: Luisa, 15, wächst behütet in einem wohlhabenden Elternhaus auf und hat eine besondere Fähigkeit – sie kann im Dunkeln sehen. Im nahen Wald entdeckt sie einen jungen Obdachlosen und schließt ihn ins Herz. Denn: Was ist verführerischer für einen einsamen, wohlbehüteten Teenager mit blühender Fantasie als ein gestrandeter junger Mann, der sich vor der Welt verstecken muss?
Im Interview sprechen wir mit der ›Lady of Crime‹ unter anderem darüber, wie sie zum Stoff dieser Geschichte gekommen ist, wo ihr die kuriosesten Mordfälle einfallen und was sie gerne ihrem 15-jährigen Ich sagen würde.

Foto: © Monika Werneke
Im September werden Sie 90 Jahre alt – Ihre Protagonistinnen werden immer jünger. Luisa, die Hauptfigur in Ihrem neuen Roman Nachteule, ist 15 Jahre alt und die bisher jüngste. Ist das Zufall oder ganz bewusst?
Das war bestimmt kein Zufall, denn schon immer fand ich dieses Alter besonders spannend. Zwar haben sich die Zeiten und Umstände geändert, aber prinzipiell bleiben die Probleme konstant: In der Pubertät steckt man in einem Wechselbad der Gefühle, schwankt zwischen Versagensängsten, Minderwertigkeitskomplexen und Größenwahn, Liebesglück und -leid, Depression und Lebenslust. Die großen Fragen bleiben: Wer bin ich? Wie wirke ich auf meine Altersgenossen?
Luisa, als Baby aus Peru adoptiert, wächst behütet in einem wohlhabenden Elternhaus auf. Alles gerät ins Wanken, als sie sich zum ersten Mal verliebt – in einen notorischen Lügner und Kriminellen und ihn retten möchte, um jeden Preis. Wie sind Sie zu dem Stoff gekommen?
Auch intelligente und wissbegierige Mädchen sind gefährdet, denn in diesem Alter sind Menschenkenntnis und Erfahrung noch nicht ausreichend vorhanden, um nicht auf einen geheimnisvollen, interessanten Außenseiter hereinzufallen. Das Elternhaus ist heutzutage nicht mehr autoritär, man kann kaum dagegen rebellieren. Aber kleine Geheimnisse will man bewahren, in das Liebesleben sollen sich die Erziehungsberechtigten nicht einmischen.
Zum Glück bin ich in jungen Jahren nicht zum Opfer geworden, aber ich kannte einen Fall, der mir bis heute gut in Erinnerung geblieben ist.
Luisa hat eine blühende Fantasie und eine ungewöhnliche, fiktive Gabe: Sie kann im Dunkeln sehen. Sie haben ja eine ganz ähnliche Gabe – Sie sind eine begnadete Beobachterin, vermögen es, Menschen und ihre Geschichten zu sehen, in ihre dunklen Abgründe hinabzuschauen, hinter Fassaden zu blicken. Wie machen Sie das?
Leider bin ich mit zunehmendem Alter weitgehend nachtblind geworden, aber etwas habe ich mit Luisa immerhin gemeinsam: die Fantasie. Doch in zwei Punkten bin ich ihr bestimmt voraus, denn mein hohes Alter hat auch ein paar Vorteile: Lebenserfahrung und Menschenkenntnis. Ich habe immer gern fremde Leute in der Bahn in ein Gespräch verwickelt und mich gewundert, wie viele intime Probleme und sogar Abgründe ich zu hören bekam, nur weil ich aufmerksam und interessiert zugehört habe. Zwar würde ich derartige Beichten niemals in einem Roman verwenden, aber sie haben meinen Fundus bereichert.
In diesem Jahr wurden Sie mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. In Ihrer Dankesrede sagten Sie scherzhaft, Sie haben dieses wohl nicht wie gewöhnlich für »Verdienste um das Gemeinwesen«, sondern für »Mord und Totschlag« erhalten. Wann fallen Ihnen all die kuriosen Todesfälle ein?
Skurrile Szenarien fallen mir nicht auf Knopfdruck ein, sondern nur, wenn ich völlig entspanne: im Traum, im Halbschlaf, in der Badewanne. Kreativität kann man nicht erzwingen.
Inwieweit sind persönliche Erfahrungen in Nachteule eingeflossen? Erinnern Sie sich vielleicht gerade jetzt gerne an Ihre Jugend, an das, was Sie damals umgetrieben hat?
Für jeden Menschen ist die Teenagerzeit von entscheidender Wichtigkeit, ich denke aber ohne Wehmut, eher mit nachdenklicher Verwunderung daran zurück. Natürlich wäre ich damals längst nicht so unsicher und stimmungslabil gewesen, wenn ich gewusst hätte, wer ich eigentlich bin.
Was würden Sie Ihrem 15-jährigen Ich gerne sagen? Was wünschen Sie sich?
Der 15-Jährigen würde ich sagen: »Reg dich nicht so auf!« Und zu meinem heutigen Ich: »Es ist alles gut so, du kannst irgendwann in Ruhe wieder abtreten.«
Nachteule
Luisa, 15, als Baby aus Peru adoptiert, wächst behütet in einem wohlhabenden Elternhaus auf. Sie hat eine besondere Fähigkeit: Luisa kann im Dunkeln sehen. Als sie im nahen Wald einen jungen Obdachlosen entdeckt, schließt sie ihn ins Herz. Tim lässt sich von ihr versorgen und sogar verstecken, denn er hat allen Grund, unsichtbar zu bleiben. Durch Luisas Gabe wird sie zur Komplizin und gerät in ein Netz aus Lügen und Verbrechen, das sich immer enger zuzieht.
Ingrid Noll, geboren 1935 in Shanghai, studierte in Bonn Germanistik und Kunstgeschichte. Sie ist Mutter dreier erwachsener Kinder und vierfache Großmutter. Nachdem die Kinder das Haus verlassen hatten, begann sie Kriminalgeschichten zu schreiben, die allesamt zu Bestsellern wurden. 2005 erhielt sie den Friedrich-Glauser-Ehrenpreis für ihr Gesamtwerk. Im Februar 2025 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.