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Zwischen queerer Liebe und kongolesischer Diaspora – Ein Gespräch mit Christina Fonthes

In ihrem Debütroman Wohin du auch gehst lässt Christina Fonthes Gegensätze aufeinanderprallen. Sie erzählt vom Aufwachsen in Kinshasa, vom Kontrast zum späteren Leben in London. Von heimlicher Liebe, die sich zwischen strengen religiösen Vorstellungen und familiären Erwartungen erst ihre Freiheit erkämpfen muss. Und von Müttern und Töchtern, die nach jahrelangem Schweigen das Miteinandersprechen wieder erlernen müssen.

Ob sie beim Schreiben auch auf ihre eigenen Erfahrungen zurückgreifen konnte, erzählt Christina Fonthes hier im Interview.

»Heimat ist, wo immer ich bin und wo immer ich sein möchte.«

Christina Fonthes im Interview

Von Liebesbeziehungen über Verwandtschaft bis hin zu Freundschaften – in Wohin du auch gehst stehen vielfältige Beziehungen zwischen Frauen im Mittelpunkt. Was hat Sie dazu inspiriert, sich auf weibliche Perspektiven und Gemeinschaften zu konzentrieren?

Meine frühesten Erinnerungen sind aus Kinshasa, wo ich auf dem Grundstück meiner Großmutter spielte, umgeben von ihr, meiner Urgroßmutter und meinen Tanten. Von klein auf waren Frauen immer in meinem Leben präsent. Auch später, als ich in London aufwuchs und meine verschiedenen Identitäten – queer, schwarz, afrikanisch, kongolesisch – entdeckte und wiederentdeckte, war ich von liebevollen und fürsorglichen Frauen umgeben. Für mich war es immer selbstverständlich, über Freundschaften zwischen Frauen zu schreiben, die so oft vergessen, übersehen oder unterbewertet werden, sowohl in der Literatur als auch in der Gesellschaft.

Das Buch spielt in Kinshasa, London und Paris. Haben Sie selbst in diesen Städten gelebt? Wie haben Ihre persönlichen Erfahrungen mit Heimat und Migration dieses Buch beeinflusst?

In Kinshasa bin ich geboren, und obwohl ich sehr jung von dort weggegangen bin (mit etwa vier Jahren), blieb Kinshasas Puls für mich immer spürbar – beim Essen beispielsweise von Maboké, beim Schauen von kongolesischen Fernsehsendungen, beim Musikhören, in der Kleidung, in der Kirche und in den zahlreichen kongolesischen Gemeinschaften in der Diaspora. In Paris verbrachte ich oft die Sommerferien bei meiner Tante und meinen Cousins im berüchtigten Saint-Denis. Auch wenn mein französischer Akzent inzwischen stark englisch gefärbt ist und ich mich in der Metro kaum noch auskenne – Paris ist eine Art Mini-Afrika, Mini-Kongo, ein Ort, der sich wie zu Hause anfühlt. Als Frau, die viele Städte gesehen hat und auch begeistert gereist ist, ist das Konzept von Heimat und Migration sehr fließend. Wann bin ich Auswanderin, wann Einwanderin? In Anlehnung an Alice Walker, die sagte: »Afrika gehört zu mir«, denke ich, dass die Welt zu mir gehört. Heimat ist, wo immer ich bin und wo immer ich sein möchte.

Die Handlung in Wohin du auch gehst findet abwechselnd auf zwei Zeitebenen statt: in den 1980er-Jahren in Kinshasa und in den Jahren 2004–2007 in London. Und es gibt zwei Hauptfiguren: Mira in Kinshasa und Bijoux in London. Warum haben Sie diese Form gewählt?

Ich liebe Geschichten mit mehreren Perspektiven. Erst verliebt man sich in eine Figur, fühlt mit ihr mit, nur um dann herauszufinden, dass es auch andere Wahrheiten gibt. Das ist ein wunderbarer Trick, der mir da als Autorin zur Verfügung steht. Und was ist Literatur ohne Drama!

Liebe und Verlust, Heimat und Fremde, queer sein in einer Umgebung, in der das nicht akzeptiert wird – in Wohin du auch gehst thematisieren Sie viele unterschiedliche und auch emotionale Themen. Wie ist es Ihnen gelungen, diese Aspekte zu vereinen?

Mir geht es darum, über universelle Erfahrungen zu schreiben. Was die Figuren durchmachen, hat viele Gründe: Klasse, Religion, Sexualität usw., aber im Kern erleben sie dieselben menschlichen Emotionen, die wir alle nur zu gut kennen. Wir alle haben geliebt, und wir alle haben verloren.

In Bijoux‘ und Miras Geschichte geht es auch um Familie – eine Gemeinschaft, die Geborgenheit geben, aber auch individuelle Freiheiten einschränken kann. War dieser Widerspruch beim Schreiben des Buches von besonderem Interesse für Sie?

Ja, afrikanisch zu leben – mit Blutsverwandten aufwachsen, mit Hierarchien und mit einem ausgeprägten Sinn für Respekt – kann Geborgenheit schaffen. Aber wenn etwas schiefgeht, können die Folgen verheerend sein. Das Queer-Sein hat mir den Wert der selbst gewählten Familie nahegebracht. Auch darin gibt es Momente von Freude, Einheit und Unterstützung – vor allem, da viele schwarze und afrikanische queere Menschen oft von ihren biologischen Familien ausgegrenzt werden. Aber auch selbst gewählte Familien haben eigene, unausgesprochene Regeln. Spannungen zwischen einzelnen Personen können sich in solch kleinen Gemeinschaften schnell auf alle auswirken und zu Isolation oder Entfremdung führen. Letzten Endes kann die Familie, ob blutsverwandt oder selbstgewählt, Segen und Fluch zugleich sein – es ist eine Lotterie.

Sie waren Bernardine Evaristos Mentee beim Sky Arts/ Royal Society of Literature Writers Award, einem Mentorenprogramm, das Bernardine Evaristo vor einigen Jahren initiierte. Was haben Sie davon mitgenommen, auch für Ihr eigenes kreatives Schreibprogramm?

Die wichtigste Lektion, die ich gelernt habe, war das Selbstvertrauen, mich Schriftstellerin zu nennen. Es hat lange gedauert, bis ich mich mit dieser Berufsbezeichnung anfreunden konnte, ohne dass ich sie mit irgendeinem Zusatz versehen musste. 2018 habe ich meine Organisation REWRITE gegründet – eine Gemeinschaft von PoC-Schriftstellerinnen, die alle gemeinsam auf dem Weg sind. Wie das berühmte afrikanische Sprichwort sagt: »Wenn du schnell gehen willst, geh allein. Wenn du weit gehen willst, geh gemeinsam.«

 

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Wohin du auch gehst

Aus dem Englischen von Michaela Grabinger

Bijoux wird nach Unruhen in Kinshasa als Teenager zu ihrer Tante Mira nach London geschickt. Hier verliebt sie sich zum ersten Mal – in eine Frau. Vor ihrer religiösen Tante muss sie das verbergen, doch sie ahnt nicht, dass auch diese ein Geheimnis vor ihr hat: den wahren Grund dafür, dass sie vor vielen Jahren von Afrika nach Europa kam, in ein Land, in dem sie sich immer noch nicht zu Hause fühlt. Bijoux weiß: So wie Tante Mira will sie nicht enden. Und trifft eine Entscheidung.


Hardcover Leinen
416 Seiten
erschienen am 23. Juli 2025

978-3-257-07355-3
€ (D) 25.00 / sFr 34.00* / € (A) 25.70
* unverb. Preisempfehlung
Auch erhältlich als

 

Christina Fonthes, geboren 1987 in Kinshasa, Kongo, lebt heute in London als Autorin und als Gründerin von Rewrite, einer Schreibakademie für PoC-Autorinnen. 2021 gewann sie den von Bernardine Evaristo ins Leben gerufenen Royal Society of Literature Sky Arts Writers Award. ›Wohin du auch gehst‹ ist Christina Fonthes’ erster Roman.