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"Die Kunst, Champagner zu trinken"

Amélie Nothomb über »Die Kunst, Champagner zu trinken«

Vielerorts ist Champagner zum Jahreswechsel nicht wegzudenken. In Die Kunst, Champagner zu trinken, schreibt Amélie Nothomb über eben diesen festlichen Klassiker der Schaumweine und noch viel mehr. Lesen Sie anlässlich zu Silvester einen Auszug des Romans und verfallen Sie dem (Lese-)Genuss.

»Eine witzige Lektüre mit ernsterer Bedeutung, genussvoll zu lesen, eben champagnermäßig.«
Ellen Pomikalko / BuchMarkt

Auszug 1. Kapitel

»Einen Rausch sollte man nicht improvisieren. Sich zu betrinken ist eine Kunst, die Talent und Sorgfalt erfordert. Die Sache dem Zufall zu überlassen führt zu nichts.
   Dass das erste Besäufnis oft so wunderbar ist, liegt am vielberufenen Anfängerglück – das sich per definitionem nie wiederholt.
   Jahrelang habe ich getrunken wie alle anderen auch, mehr oder weniger  harte Sachen, was halt der Abend so hergab, stets in der Hoffnung auf einen Schwips, der das Leben erträglicher machte. Das Einzige, was ich davon hatte, war ein Kater. Dennoch hegte ich schon immer die Vermutung, dass dabei etwas Besseres herauskommen könnte.
   Mein experimentelles Temperament gewann schließlich die Oberhand. Nach dem Vorbild von Schamanen aus dem Amazonasgebiet, die sich grausame Diäten auferlegen, bevor sie eine unbekannte Pflanze kauen, um deren Wirkung zu erkunden, griff ich zur ältesten Forschungsmethode der Welt: dem Fasten. Um in sich jene Leere zu schaffen, die für eine wissenschaftliche Erkenntnis unabdingbar ist, greift man instinktiv zum Mittel der Askese. 
   Nichts macht mich trauriger als Menschen, die vor der Verkostung eines großen Weins »einen Happen essen« wollen: Das ist eine Beleidigung des
Essens und noch viel mehr des Getränks. »Sonst steigt er einem ja gleich zu Kopf«, faseln sie und machen es damit nur noch schlimmer. Dann sollten
sie besser auch keine schöne Frau mehr ansehen, weil sie ihnen den Kopf verdrehen könnte.
   Beim Trinken den Rausch vermeiden zu wollen ist ebenso kläglich, wie sich beim Hören sakraler Musik gegen das Gefühl des Erhabenen zu sperren.
   Also habe ich gefastet. Und das Fasten mit einem Veuve-Clicquot gebrochen. Meine Idee war, mit einem guten Champagner zu beginnen, und dafür hatte ich nicht die schlechteste Wahl getroffen.
   Warum Champagner? Weil dieser Rausch keinem anderen gleicht. Jedes alkoholische Getränk hat seine besondere Schlagkraft; Champagner ist das einzige, das keine ordinären Metaphern hervorruft. Er erhebt die Seele in einen Zustand, der einst, als dieses schöne Wort noch Geltung besaß, dem Edelmann eigen gewesen sein muss. Champagner macht liebenswürdig und selbstlos, verleiht Leichtigkeit und Tiefe, steigert die Liebe und verleiht deren Verlust Eleganz. Das alles erlaubte den Schluss, dass aus diesem Elixier noch mehr herauszuholen wäre.
   Beim ersten Schluck wusste ich, dass ich recht gehabt hatte: Noch nie hatte mir Champagner so köstlich geschmeckt. Sechsunddreißig Stunden Fasten hatten meine Papillen so sensibilisiert, dass sie die feinsten Nuancen herausschmecken konnten und von einer neuen, zunächst fabelhaften, dann strahlenden und schließlich überwältigenden Wollust bebten.
   Tapfer trank ich weiter, und je leerer die Flasche wurde, desto stärker veränderte sich das Wesen meiner Erfahrung. Sie verdiente immer weniger die Bezeichnung Rausch und wurde zu etwas, was man mit dem wissenschaftlichen Pomp unserer Tage »einen höheren Bewusstseinszustand« nennt. Ein Schamane hätte Trance dazu gesagt, ein Süchtiger Trip. Visionen stellten sich ein.
   Es war 18 Uhr 30, um mich wurde es dunkel. Im schwärzesten Winkel sah und hörte ich Schmuckstücke: Gold, Silber und Edelsteine glitzerten und klirrten, ein schlängelndes Geschmeide, das auf mich zukroch. Es verlangte nicht nach Hälsen, Handgelenken oder Fingern, um sie zu schmücken, sondern genügte sich selbst und kündete von seinem absoluten Luxus. Je näher es kam, desto stärker spürte ich seine metallische Kühle. Es fühlte sich köstlich an, wie Schnee, gern hätte ich mein Gesicht in diesen eisigen Schatz getaucht. Der faszinierendste Moment aber war, als ich tatsächlich das Gewicht eines Juwels in meiner Handfläche spürte.
   Ich stieß einen Schrei aus, der die Halluzination vertrieb. Beim nächsten Glas begriff ich, dass das Getränk ihm wesensverwandte Visionen hervorrief: das Gold seines Kleids war in die Armreife gegossen, die Bläschen in die Diamanten. Und der Kühle des Silbers entsprach die Kälte des Schlucks. 
   Darauf folgte eine Phase des Denkens, sofern man das Fließende, das sich meines Geistes bemächtigt hatte, so bezeichnen kann. Im Gegensatz zum Grübeln, das ihn manchmal verkleistert, begann er zu wirbeln, zu sprudeln, von leichten Dingen überzuschäumen – als wollte er mich bezaubern. Das war so untypisch für ihn, dass ich lachen musste. Für gewöhnlich überhäuft er mich mit Vorwürfen wie ein von der Dürftigkeit der Unterkunft empörter Mieter.
   Dass ich mich unerwarteterweise so wohl in meiner Gesellschaft fühlte, eröffnete ganz neue Horizonte. Nun wäre ich gern auch für jemand anderen eine so angenehme Gesellschaft gewesen wie für mich. Nur für wen?« 

Die Kunst, Champagner zu trinken
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Die Kunst, Champagner zu trinken

Seiten 5 bis 8 aus: Die Kunst, Champagner zu trinken von Amélie Nothomb. Aus dem Französischen von Brigitte Große. © 2016, Diogenes Verlag AG Zürich. 

Der neue Roman Ambivalenz der Autorin erscheint am 22.6.2022.